von Herbert Ammon
Im Rahmen politischer Bildung der Bundesrepublik, maßgeblich vermittelt durch Nachfahren der Generation der ›Achtundsechziger‹, nimmt das Jahr 1968 in der Nachkriegsgeschichte geradezu mythischen Rang ein. Erst durch die Studentenrebellion sei das ›kollektive Beschweigen‹ (Hermann Lübbe) der NS-Verbrechen in der (west-)deutschen Nachkriegsgesellschaft durchbrochen, die autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft beseitigt und der Weg zu einer tiefgreifenden Demokratisierung des Landes freigeräumt worden. Dank ›1968‹ sei es zu einer ›Neugründung‹ oder ›Zweitgründung‹ der Demokratie in Deutschland gekommen.
Es handelt sich um die historische Selbstwahrnehmung der westdeutschen Bildungseliten. In deren Sicht der Dinge rückt das ›andere 1968‹, die als ›Prager Frühling‹ bekannte Reformbewegung in der Tschechoslowakei – mit Ausstrahlung auf den gesamten Ostblock, nicht zuletzt auf die DDR –, kaum in den Blick. Vielleicht erinnert man sich noch an Alexander Dubček, aber Namen wie Josef Smrkovský, Ždenek Mlynář, Jiří Hájek oder Ota Šik sind in heutigen Diskursen nahezu unbekannt.
von Felicitas Söhner
Nils Hansson, renommierter Medizinhistoriker mit Schwerpunkt im Bereich ›Anerkennung in den Wissenschaften‹, nimmt in seinem neuesten Werk Wie man keinen Nobelpreis gewinnt den Nobelpreis als Maßstab für Exzellenz und Elite in der Medizin unter die Lupe.
Bucha b. Jena (quartus-Verlag), Bd. 1 (1945-1949), 2014, 216 S.; Bd. 2 (1950-1953), 2016, 256 S.; Bd. 3 (1954-1957), 2017, 276 S.; Bd. 4 (1958-1961), 2019, 264 S.; Bd. 5 (1962-1967) 2023, 484 S.
von Steffen Dietzsch
Diese neue Chronik ist nicht nur eine archivalisch-empirisch aufwendige, sondern gerade auch hinsichtlich ihrer Textsorte eine philosophisch singuläre Leistung. Sie behandelt Ereignisse, Daten und Personen anders als in einschlägigen Stadt-Chroniken, wo sie als abgeschlossene, fixe, öffentliche Sachverhalte entlang der Zeitlinie präsentiert werden. Lehrke dagegen wählt und sortiert seine zeitgeschichtlichen Partikel gerade nicht historistisch, sondern synkritisch aus. Er orientiert sich mit einem geradezu stereoskopischen Blick (Ernst Jünger) in der Mannigfaltigkeit der urbanen historischen Artefakte. Das ermöglicht ihm eine außerordentliche Tiefenwahrnehmung und eine Empfindung für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Damit ist diese Chronik mehr als eine res gestae Vimariensis. Sie rekonstruiert nicht – protokollmäßig – eine vergangene herrschaftliche oder geistige Agenda, sondern ein Kunstgriff dieser Chronik ist es, das ›Dazwischen‹ der zusammen erfassten Elemente sichtbar zu machen. Das bedeutet aber, dass Lehrke in seiner bearbeiteten Zeitreihe (1945-1967) vieles als vom Geist seiner Epoche Geprägtes identifizieren kann. Er kann dann – und das ist ein methodischer Mehrwert seiner Chronik – jene (einzelnen) Erscheinungen als (allgemeine) Erfahrung ausbuchstabieren. Dabei kommt aber keine eindimensionale, finale historiographische Tendenz zum Ausdruck, etwa als ›Tragödie der Kultur‹ oder als ein ›Fortschreiten zum Besseren‹. Vielmehr erkennt man im Blick auf diese zwanzig Weimarer Nachkriegsjahre ein im Goetheschen Sinn natürliches Leben, nämlich »die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausathmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.« (Farbenlehre, Didaktischer Teil, Aph. 739; WA II,1,296)
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G