von Holger Czitrich-Stahl

Die Geschichte der ›Neuen Linken‹ beschäftigte die Macherinnen und Macher von Arbeit – Bewegung – Geschichte bereits mehrfach in den vergangenen Jahren. Auf die Hefte 2016/I und 2018/II verweisend, die sich im jeweiligen Schwerpunkt mit nicht-traditionalistisch praktizierten Arbeitskämpfen und dem theoretischen Potenzial der Neuen Linken befassten, drehen sich die Themenbeiträge aktuell um das Verhältnis von Alten und Neuen sozialen Bewegungen während der letzten Jahrzehnte.

Um dieses Unterfangen zu unterstützen, zog die Redaktion die Expertise von Ulf Teichmann (Bochum) und Christian Wicke (Utrecht) hinzu. Dem erstmals ausgewiesenen Wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift gehören mittlerweile auch einige Mitglieder an, die im Ausland tätig sind bzw. die internationale Geschichtswissenschaft repräsentieren wie etwa Marcel van der Linden (Amsterdam), Norman LaPorte (South Wales) oder die Präsidentin der Internationalen Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiter- und anderen sozialen Bewegungen (ITH-Konferenz in Linz), Susan Zimmermann (Wien/Budapest). Zunehmend werden im Besprechungsteil der Zeitschrift auch englischsprachige Publikationen vorgestellt, was den Globalisierungsprozess der Wissenstransfers widerspiegelt.

In ihrem Editorial skizzieren Fabian Bennewitz und Ralf Hoffrogge die Absicht, die in Politikwissenschaften und Historiographie tradierte Position von der »Dichotomie zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen infrage« zu stellen. Über mehrere Jahrzehnte, im Grunde seit den fünfziger Jahren und verstärkt durch ›1968‹, definierten sich die traditionellen Arbeiterbewegungen und die Friedens-, Frauen-, Umwelt- und stadtpolitischen Bewegungen etc. mehr oder minder voneinander abgrenzend. Durch die Betrachtung stärker verbindender Initiativen und Aktionsversuche sollen hier neue Untersuchungsperspektiven und Sachurteilsansätze eröffnet werden. Und so nehmen die beiden Gastredakteure Teichmann und Wicke in ihrem Einleitungsaufsatz eine dementsprechende Leser*Innenführung vor, wenn sie einfordern, dass die bisher weitgehend konsensuale Bestimmung der »Neuen sozialen Bewegungen« in Abgrenzung zur ›alten‹ Arbeiterbewegung auf den Prüfstand müsse. So galten die »NSB« überwiegend als vom Wertewandel geprägte, dezentrale, antihierarchisch-antietatistische und autonome Organisationsformen, die das Private politisiertenzivilem Ungehorsam verbanden sowie vornehmlich bildungsbürgerlich bzw. alternativ-mittelschichtig geprägt waren. (S. 11f) Diese Kategorisierung, so die Verfasser, erlaubte erst die Abgrenzung zur Arbeiterbewegung als wachstumsorientierter, männlich geprägter, formal hoch organisierter und von einem klassischen Politikverständnis geleiteter Kraft. (S. 13) Letztlich beruhe der benannte Dualismus vor allem auf einer methodischen Idealtypisierung, die aber empirisch zu untersuchen sei.

Da italienische Städte als herausragende Beispiele für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ sozialen Bewegungen eingeschätzt werden, betrachtet der erste Beitrag des Schwerpunktes von Marica Tolomelli (Bologna) die hier gemeinsam von radikalen Studierenden und Arbeiterbewegung geprägte Protestkultur, um den vergleichenden Blick auf Frankreich und Westdeutschland zu richten. Eine Gemeinsamkeit erkennt sie in dem deutlichen Bestreben, den »subjektiven Faktor« in der Wahrnehmung des Entfremdungs-Theorems zur Geltung zu bringen, also auf die Anerkennung und Durchsetzung von (gleichberechtigten) Subjekten als neuer Form des Protests gegen die zunehmende Entpersönlichung und Funktionalisierung der ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen und gegen die Naturzerstörung. Doch die Interaktion zwischen den jeweiligen Formen und Traditionen sozialer Bewegungen im Sinne einer »cross-movement-mobilization« entwickelte sich in der BRD weniger intensiv als in Italien und Frankreich. Tolomelli entfaltet diese Facetten anhand der politischen Entwicklungen an den Universitäten, in den Betrieben und angesichts der Frauenbewegungen. David Templin (Osnabrück) wiederum untersucht die Rolle der Arbeiterjugendbewegung in den sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre. Er hebt hervor, dass ›1968‹ nicht nur einen Startschuss für die kritische Intelligenz abfeuerte, sondern auch für die neue Arbeiterjugend, die für bessere Ausbildungsbedingungen, Jugendzentren etc. kämpfte und sich teils in der DGB-Jugend, den Jusos oder der SDAJ, aber zunehmend auch in freien bzw. alternativen Jugendgruppen zusammenfand, die einen Wandel der klassischen Milieus dokumentierten. Christian Wickes Fokus ist auch den Vergleich des Handelns der Arbeiterbewegung und der urbanen Bewegung zwischen dem Ruhrgebiet und Sydney in den 1970er Jahren gerichtet. Der Erhalt von Zechensiedlungen bzw. einer entsprechenden Milieukultur prägte die Auseinandersetzungen im ›Revier‹, wohingegen in Sydney für den Erhalt von nahegelegenen Grünflächen und Naherholungsbereichen, den »green bans«, gestritten wurde. Durch diesen Ansatz kam es in Sydney zu einer intensiveren »cross-movement-mobilization« als zwischen Rhein und Ruhr. Doch das Ineinanderwachsen soziokulturell unterschiedlich geprägter Bewegung bietet generell noch reichlich Raum für kulturwissenschaftliches Forschen.

Charel Roemer (Brüssel) geht der Frage nach, weshalb sich der Anti-Apartheid-Kampf in der BRD nie zu einem integralen Bestandteil der Gewerkschaftspolitik werden konnte. Zwar gab es vielfältige Versuche, auch unter Verweis auf die Rolle von Gewerkschaften in Südafrika an der Seite des ANC, mobilisierte der DGB im Jahrzehnt vor dem Ende der Apartheid für Sanktionen gegen das Apartheidregime, insgesamt aber blieben sich AAB und DGB schon von ihren Ansätzen her noch fremd.

Den Schlussbeitrag verfasst Ulf Teichmann über »Neue soziale Bewegungen im Stahlwerk?« und schaut auch hier auf das Ruhrgebiet. Mit Hilfe des Framing-Ansatzes, also der Untersuchung von ›Deutungsrahmen‹ für Konflikte und soziale Bewegungen untersucht er die Interaktion von Friedensbewegung und Gewerkschaftsbewegung in den 80er Jahren im Kontext des Kampfes gegen den ›NATO-Doppelbeschluss‹. Lokale Aktivitäten wie die Ostermärsche ermöglichten eine Argumentation seitens der Friedensbewegung, die auch die betriebliche Situation vor Ort und die Belegschaften verstärkt einbezog, z.B. unter der Losung ›Arbeit statt Raketen‹ als Teil eines gemeinsamen Framings. So entstanden zahlreiche betriebliche Friedensinitiativen, die sich über die Ostermärsche oder die Großdemonstrationen bzw. die Deklarierung atomwaffenfreier Zonen mit der Friedensbewegung verbanden. Zahlreiche prominente Funktionäre des DGB und der ihm angehörigen Gewerkschaften engagierten sich in der Friedensbewegung. Doch gelang es im Endeffekt nicht, die Gewerkschaften insgesamt als Machtfaktor einzubeziehen. Der gemeinsam gefundene Deutungsrahmen erwies sich als nicht mobilisierungsfähig genug.

Auf die Beiträge im Rahmen des Heftschwerpunkts folgen zwei weitere Artikel. Fabian Bennewitz nimmt den Theoriefaden des Vorgängerheftes auf und analysiert die »Kommunikationsstrategie der RAF« und die Entfremdung von der linken Szene. Peter Giersich bringt uns den Vogtländer Sozialisten und späteren SAP-ler bzw. SED-Funktionär Max Schlosser näher, ein typisches Lebensbild für die Generation von Sozialisten nach 1900. Rainer Holze verfasste einen informativen Bericht über die vom Förderverein Archive und Bibliotheken der Geschichte der Arbeiterbewegung und dem Berlin-Brandenburgischen Bildungswerk durchgeführte Konferenz »Die Novemberrevolution und ihre Räte« vom Mai 2018. Erkenntnisse über das allgemeine und lokale Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, über die politischen Strömungen, über die noch unbekannten weiblichen Aktivistinnen konnten hier zusammengeführt werden.

Die immerhin sechsundzwanzig Buchbesprechungen im Schlussteil des Heftes erschließen eine erfreuliche Themenbreite, angefangen von der Berliner Migrationsgeschichte über die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, die jüngere Gewerkschaftsgeschichte, die internationale Sozialgeschichte der Arbeit, den Spanischen Bürgerkrieg bis hin zu Publikationen im Kontext des Marx-Jahres bzw. der Novemberrevolution und der Weimarer Republik bzw. der kulturellen Zerstörungswirkung des Faschismus. Auch die Biographien von Erich Honecker (Martin Sabrow) und Willy Huhn (Jochen Gester (Hg.) werden rezensiert.

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