
von Perry Anderson
Unter den heutigen US-amerikanischen Journalisten ist Christopher Caldwell, um einen russischen Ausdruck zu gebrauchen, eine weiße Krähe. Nicht nur seine kulturelle Reichweite ist wahrscheinlich ohne Gleichen – mehr als nur flüssig in den großen europäischen Sprachen ist er auch mit dem vertraut, was in ihnen geschrieben wird. Aber auch in Bezug auf seine Intelligenz unterscheidet er sich von den meisten Reportern und Kommentatoren. Auch wenn sein Hintergrund literarisch ist, ist es ein philosophischer Zug seines Geistes, der seine Arbeiten von denen seines Gleichen unterscheidet. Was sein Interesse normalerweise findet, sind Dilemmata – begriffliche, moralische, soziale –, die in Standarddiskursen dominierender oder marginaler Tagesfragen entweder verdunkelt oder übergangen werden. Seine diesbezüglichen Schlussfolgerungen sind fast immer, so oder so, beunruhigend und verstörend. Die Kolumnen dieses leitenden Redakteurs des Weekly Standard, dem Flaggschiff des US-amerikanischen Neokonservatismus, und seine Kolumnen in der Financial Times lassen einen Großteil der liberalen Meinungsmache als jenen eintönigen Einheitsbrei erkennen, der er auch zu häufig ist.
139 plus minus eins
von Christoph Jünke
Es gibt nur wenige Fragen, die die menschliche Vorstellungskraft in solche Höhen und Tiefen zu treiben vermögen wie die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und doch stellt sie sich als ewige, als zutiefst menschliche Frage realiter nicht jeden Tag. Im Alltagstrott nicht sehr beliebt, drängt sie sich in den Zeiten individueller wie kollektiver Krisen, in Zeiten des individuellen wie kollektiven Bruchs und Überganges geradezu auf. Ob individuell oder kollektiv, ob in der Pubertät, der Midlife-Krise, vor dem Lebensabschluss oder in Zeiten passiver wie aktiver revolutionärer Gesellschaftstransformationen: »Die große Sinnfrage taucht meist in Zeiten auf, in denen bislang als gesichert geltende Rollen, Überzeugungen und Konventionen in eine Krise geraten.«
von Herbert Ammon
I.
Die Kritik der Religion sei »für Deutschland im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«, erklärte Karl Marx anno 1844 in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Als Protagonisten materialistischer Aufklärung waren sich Linke, ob nun Marxisten oder nicht, in puncto Religionskritik, in der Reduktion von Religion auf Projektion, allgemein in der Kritik ideologisch überhöhter Seinsbedürfnisse, immer einig. Von derlei Kritik war die kommunistische Utopie lange ausgenommen. Insofern sie, außer bei wenigen unerschütterlichen Gläubigen, ihren Glanz verloren hat, operieren inzwischen selbst einige ›Linke‹ mit dem Begriff der ›politischen Religionen‹ des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie sich mit dem zugrundeliegenden Gnosis-Begriff des konservativen Denkers Eric Voegelin nicht anfreunden mögen. Die Postmoderne macht alles möglich.
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