Ulrich Schödlbauer: Notizen für den schweigenden Leser

von Don Albino

Wer schreibt, hat Gegner. Das ist ganz normal. Weniger normal, doch gar nicht selten ist Feindschaft, vor allem dann, wenn sie ins zweite und dritte Jahrzehnt geht: Dann wird sie mehr als lästig, bei manchen sogar gesundheitsbedrohend, vor allem dann, wenn sie sich auf flächendeckende Ignoranz stützen kann. Beschimpft statt gelesen – das trifft häufiger die guten als die miserablen Schriftsteller, weil … nun ja, weil es deutlich einfacher und überdies schneller geht. Es benötigt auch weniger … sagen wir IQ, um das leidige Thema abschließend zu benennen. Ich habe immer gewusst, dass IQ Hass erregt, jedenfalls zu Erregungen führt, die eine Gesellschaft, die auf sich hält, tunlichst vermeiden sollte. Es gibt Parteien, in deren Reihen sollte man die Sache erst gar nicht erwähnen, andernfalls droht das Ausschlussverfahren. Ach, es ist nicht die Intelligenz allein… Es genügt auch eine gewisse Halsstarrigkeit, die aus Einsicht stammt, soweit sie nicht simpler Logik geschuldet ist. ›Geschuldet‹… Bei diesem Wort feixen die Büttel im Dunkeln und halten sich bereit.

1.

Sie waren zu zweit und suchten den Dritten, um ihn zu Klump zu hauen. Der mit den groben Knochen hieß Kurfutz, der mit den starken Muskeln hieß Atrox. Gemeinsam hielten sie sich für unschlagbar.

Sie fühlten ihr Land verraten und hassten die Eindringlinge. Einen stellten sie an der Autobahnzufahrt. Er hatte frisch getankt und spielte etwas angeberisch mit dem Gas.

»Wollt ihr einsteigen, Jungs?« fragte er. »Hinten wird’s eng, aber wem sage ich das.«

Kurfutz’ Faust krachte in die Scheibe und ließ sie splittern. Hurdibur – so hieß der Fahrer – trat das Pedal durch und der feuerrote Carrera schwänzelte fern am Horizont. Da erkannte das händelsuchende Paar, dass es leichter war, Verräter zu bestrafen, als Eroberer.

Verräter gab es wie Sand am Meer. Jeder Werktätige, der sich freier fühlte als unter dem vergangenen Regime, wurde ihr potentielles Opfer. Sie lauerten ihm an dunklen Stellen auf und brachten ihn zur Raison, wie sie das nannten, das heißt, sie kühlten ihr Mütchen an ihm, bis er keine Lust mehr darauf hatte, ihnen in Zukunft noch einmal über den Weg zu laufen. So räumten sie langsam und stetig die Straße frei und stolzierten wie die Gockel in beide Richtungen.

2.

»Kurfutz«, sagte Atrox, »die Vergangenheit ist vergangen. Lass die Toten die Toten begraben. Wir kümmern uns um die Lebenden.«

»Woran denkst du dabei?« fragte Kurfutz. Er war etwas langsamer im Kopf, aber sein Schlag glich das locker aus.

»Ich denke…« begann Atrox. Dann sah er etwas, wovon ihm die Spucke wegblieb. Es war nur ein einziges Wort auf einer digitalen Tafel hoch über ihren Köpfen. Sie standen im Supermarkt an der Kasse und auf der Tafel stand groß und schmucklos: Börsencrash. Atrox schielte zu Kurfutz hinüber, der ihn erwartungsvoll fixierte: »Na…?«

In Atrox arbeitete es. Es arbeitete so stark in ihm, dass er Kurfutz das Steuer überließ. Das kam selten vor und alarmierte Kurfutz, so dass er einen Pkw streifte, der etwas unglücklich aus der Parkbucht herausstand.

»Verfluchter Idiot!« entfuhr es ihm.

»Wenn du so weiter machst, werden wir bald nichts mehr zu beißen haben«, knurrte Atrox. »Aber mach dir nichts draus, ich habe die Lösung für unser Problem gefunden.«

»Dann heraus mit der Sprache!« rief Kurfutz und rutschte auf die Beifahrerseite.

An diesem Abend wurde es spät. Der Alkohol floss in Strömen und irgendwann verließ sie das Bewusstsein. Das klare Denken hatte sich schon früher verabschiedet.

3.

Mit einem gemieteten Lieferwagen fuhren sie vor das Hauptgebäude der Bank, deren Schließung den Crash ausgelöst hatte. Sie stellten sich auf die oberen Stufen und entrollten ein Transparent. Darauf stand:

DAS SYNDIKAT LEBT

Gesicht und Kleidung hatten sie mit Theaterschminke bemalt und zwangen sich, bewegungslos auszuharren. Ein Radler fuhr vorbei und winkte ihnen fröhlich zu. Fußgänger taten so, als bemerkten sie nichts, während sie in letzter Sekunde den Fontänen auszuweichen versuchten, die von den vorbeifahrenden Autos zu ihnen herübersprühten. Ein Hündchen hob das Bein, doch Atrox’ wilder Blick verjagte es auf der Stelle. Die graue Schminke lief an den beiden Statuen herunter und suchte, unbeirrt durch die Geräuschkulisse, den Weg zum nächsten Gully. Nach zwei Stunden brachen sie das Experiment ab, rollten ihr Transparent ein und verschwanden im Dickicht der Großstadt.

Am nächsten Morgen waren sie wieder zur Stelle. Diesmal hatten sie die Farbe Rot gewählt, um, wie sie wähnten, mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Doch man hielt sie für Feuerwehrleute, die ihren Lohnforderungen am falschen Platz Ausdruck verleihen wollten, und alle Welt ignorierte sie.

Am dritten Morgen erschienen sie in Grün, ›Dschungelgrün‹, wie sie ausdrücklich verlangt hatten, und die Sonne des Glücks lachte ihnen. Eine Polizeistreife hielt, im Nu von Fußgängern umschart, die ersten Smartphones erschienen über den Köpfen, um die Szene aufzunehmen und in alle Welt zu übermitteln. Ruck-zuck waren auch Journalisten zur Stelle und führten die ersten Straßeninterviews. Die Polizeibeamten forderten Verstärkung an und sicherten weiträumig das Gelände. Ein Behördenvertreter in Zivil erschien und flüchtete vor den gezückten Kameras. Aus der Menge der Zuschauer ragte urplötzlich ein Schild mit der Aufschrift: Easy!

Nach drei in Reglosigkeit verbrachten Stunden wurde das Kribbeln in den Beinen unerträglich. Kurfutz, der Intellektuelle, tat den ersten Schritt. Er erhob die Stimme und brüllte: »Das-Syn-di-kat-lebt!« Sechs Polizisten stürzten sich auf ihn, warfen ihn zu Boden und nahmen ihn fest, während ein siebter, die Hand am Gummiknüppel, sich freundlich Atrox näherte und ihn mitzukommen bat, ohne weiteres Aufsehen zu erregen.

Das Transparent wurde konfisziert.

Zwei Stunden später waren sie wieder auf freiem Fuß.

4.

Die beiden hatten es geschafft. Wie Lauffeuer hatten sich die Bilder verbreitet, in den Foren wurde der Polizeieinśatz als ›brachial‹ und ›unverhältnismäßig‹ gescholten, vor allem, nachdem ein Videoclip aufgetaucht war – wunderbare Phrase: vor allem, nachdem –, das den Vorgang in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ, wobei die Ansichten darüber, um welches Licht es sich dabei handelte, weit auseinandergingen. Wann immer, wo immer sie seither skandierten Das-Syn-di-kat-lebt!, konnten sie eines vieltausendfachen Publikums sicher sein. Rasch bemerkten sie – vor allem der etwas hellere Atrox –, dass sie Variationen erfinden mussten, wenn sie die frisch gewonnene Aufmerksamkeit der Massen dauerhaft fesseln wollten, und so heckten sie immer neue Sprüche aus, die niemanden überforderten, obwohl das Wort ›Syndikat‹ für die meisten ein Rätselwort blieb: Was war dieses geheimnisvolle Syndikat, woraus bestand es und was wollte es? Vor allem: Wer war es? Solche Fragen, bald gestellt, wurden von den beiden mit einer spöttischen Mundbewegung beantwortet, die bald ebenso ›ikonisch‹ werden sollte wie der Spruch selbst.

Es konnte nicht ausbleiben, dass sich das Syndikat – oder wer sich dafür hielt – für die beiden interessierte. Das erste Treffen stand am Rande eines Boxkampfes statt. Kurfutz und Atrox hatten sich extra lange Stoppeln wachsen lassen, um den Ausdruck von Kraft & Wildheit zu verstärken. Die Vorsicht erwies sich als überflüssig, da das Syndikat von einer jungen Lady vertreten wurde, die sie am Ende des Gesprächs bequem in der Handtasche hätte forttragen können, so zahm nahmen sie sich aus.

»Wir kaufen nicht euer Schweigen. Wir kaufen euern Einsatz.«

Kurfutz und Atrox fanden das großartig. Sie wussten nichts von diesem Syndikat, sie hatten keine Ahnung, wer und was sich hinter der jungen Frau verbarg, aber die regelmäßigen Überweisungen auf ihr Konto überzeugten sie. Das Syndikat, was immer es sein mochte, war groß und gefährlich, aber es lächelte, jedenfalls lächelte es ihnen zu und sie waren glücklich, ihm zu Diensten sein zu können, solange von Diensten nicht die Rede war und sie ihre stolze Unabhängigkeit zur Schau stellen konnten. Mittlerweile lief der erste Film über das Syndikat im Kino, zwar vor eingeschränktem Publikum, doch vor ihrem geistigen Auge paradierten die zwei bereits als Millionäre und überlegten sich, ob sie lieber in Gold oder in Bitcoin investieren sollten.

»Gold ist klassisch.«

»Bitcoin ist von heute

Atrox hatte es gern klassisch, Kurfutz war lieber heutig.

5.

Es war Zeit, in einen Comic zu investieren. Kurfutz und Atrox entschieden sich für den Titel Syndikatz und machten sich an die Arbeit. Bald schon begriffen sie, dass die Welt der herkömmlichen Comics im Versinken begriffen und mehr zu holen war, wenn sie sich aufs Denunzieren verlegten. Es war eine Zeit, in der sich alle Welt aufs Denunzieren verlegte. Sie mussten also clever sein und den anderen immer einen Schritt voraus. Diesmal kam der rettende Einfall von Kurfutz.

»Wir müssen an Leute ran, deren Ruf außer Zweifel steht.«

»Tolle Idee. Und wie willst du das machen?«

»Harmlosigkeit als Täterprofil.«

»Was du nicht sagst. Das soll uns jemand abnehmen?«

»Kein Problem. Wir unterstellen den Leuten Verbindungen zum Syndikat.«

»Cave! Das Syndikat kann ungemütlich werden.«

»Ach was. Und wenn schon. Wir sind stark und unabhängig.«

Da jene Zeit weitgehend aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden ist, seien ihr an dieser Stelle ein paar hoffentlich sachdienliche Hinweise gewidmet. Niemand – ich betone: niemand – kann mit Sicherheit sagen, ob Kurfutz und Atrox für die Allgegenwart des Syndikats in den damaligen Publikationen verantwortlich zeichneten oder ob sie nur, gleichsam als Abschaum, auf einer Woge ritten, die sich auch ohne ihr Zutun über alles ergoss, was sich mit gesundem Menschenverstand hätte rechtfertigen lassen. Das – neben der notorischen Geheimnishaftigkeit – herausragende Merkmal des Syndikats war seine Ambivalenz: Es wurde ebenso für die abscheulichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Anspruch genommen wie für den letzten Halt einer ins Nirwana entgleitenden Gesellschaft. Dementsprechend war es exakt so gefährlich, positiv mit ihm in Verbindung gebracht zu werden wie negativ. Kurfutz und Atrox, immer hundertprozentig bei der Sache und bar jeden Sachinteresses, glänzten in beiden Disziplinen. Sie wurden Meister im Ersinnen immer neuer Beschuldigungen ohne Sinn und erkannten bald: Das Geheimnis des Erfolgs lag in der allgemeinen Verunsicherung. Es kam nur darauf an, sie nach Kräften zu schüren.

»Das ist jetzt auch schon übel, ehrlich? Aber warum denn?«

Wer so fragte, war schon geliefert. Übrigens bestand das Geheimnis des Syndikats hauptsächlich darin, dass die eigentliche Gefahr, die von ihm ausging, in der Zukunft lag. Das Syndikat zerstört unsere Zukunft. Kurfutz und Atrox verstanden diese Tendenz zu schüren, ohne sich auf sie festzulegen. Es hätte die monatlichen Zahlungen in Gefahr bringen können. Auch in der Wahl der Opfer agierten sie nicht mehr ganz so frei wie zu Beginn. Sagen wir: Sie erhielten Tipps.

Rückblickend lässt sich bekennen: Es war eine schöne Zeit. Als freie Unternehmer genossen die beiden das Leben in vollen Zügen. Und das bezieht sich nicht auf die Bahn. Sie hatten den roten Carrera nicht aus den Augen verloren und jeder besaß jetzt selbst so ein Spielzeug: eins grün, eins rot.

6.

Man soll nicht denken, Kurfutz und Atrox hätten damals im Ruf von Opportunisten gestanden. Das Gegenteil war der Fall. Ihr Organ galt als die Spitze ideologischer Entschiedenheit, als Lackmustest dessen, was als Gesinnung im Lande allenfalls durchgehen konnte. Vor allem junge Menschen erlagen seinem Charisma reihenweise. Doch auch Graubärte, deren Vergangenheit Anspruch auf eine vollere Gegenwart erhob, griffen gern zu, sobald die neue Syndikatz auslag.

7.

Es kam der Krieg und sie stellten auf Zwiesprech um: WAHRHEIT IST LÜGE, KRIEG IST FRIEDEN, FREIHEIT IST TYRANNEI, LAUTERKEIT IST HEIMTÜCKE und der ganze Kram. Das Syndikat hatte ausgedient.

»Aber das wirft man den Systemmedien vor.«

»Überraschung! Wir sind jetzt Systemmedium. Wer ›System‹ sagt, lügt.«

»Heraklit hat recht«, seufzte Kurfutz, »der Krieg ist der Vater aller Dinge.«

»Quatsch«, ätzte Atrox, »der Krieg ist kein Vater. Er kehrt nur das Schäbigste nach oben.«

Beide versanken in dumpfes Brüten. Atrox war’s, der als erster zum Wort zurückfand.

»Ich will einen Menschen zusammenschlagen, wie ich noch nie einen zusammengeschlagen habe. Er soll mir nichts getan haben. Er soll niemandem etwas getan haben. Seine Gedanken sollen lauter, sein Herz soll rein sein. Ein bisschen Prominenz kann nicht schaden, aber das versteht sich praktisch von selbst. Ich will, dass er nicht mehr aufsteht.«

Kurfutz lachte. Doch Atrox war noch nicht fertig.

»Siehst du, ich kann jemanden zusammenschlagen, bloß indem ich ihn einen Amerikafeind nenne. Und dann gehen die Amerikaner hin und wählen einen Friedensfreund zum Präsidenten. Bin ich jetzt ein Amerikafeind? Ich kann die großen USA nicht zusammenschlagen, wen also soll ich zusammenschlagen? Nenne mir jemanden, den ich zusammenschlagen soll, und morgen ist nicht alles anders! Lange Zeit war ich ein Feind Amerikas und jetzt, da ich Russenfreunde zusammenschlage, fällt mir Amerika in den Arm. Ist das gerecht? Was geht in solchen Köpfen vor? Der Mensch ist doch kein Stück Seife. Warum verschwindet dann alles nach und nach? Werden wir alle weniger? Man tritt mein Recht auf den Feind mit Füßen! Das werde ich mir merken.«

»Hass & Hetze.«

»Hass den Hetzern.«

»Ich weiß gar nicht, was du willst«, sagte Kurfutz nach einigem Nachdenken. »Wir haben lange auf unsere heimlichen Machthaber gehört, jetzt hört die Macht auf uns. Also sind wir die Mächtigen (bis auf weiteres).«

»Halt die Klappe und mach dich ausgehfertig. Heute gibt’s Randale.«

*

Kennen Sie die zwei? Ich meine, sind sie Ihnen einmal über den Weg gelaufen? Mir sind sie, wie es scheint, über die Leber gelaufen, übrigens nicht zum ersten Mal. Die Leber ist, wie jeder weiß, ein empfindliches Organ, es gehört sich nicht, was die beiden da anstellen. Das ist es, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte.

 

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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