von Jobst Landgrebe

Die politische Geschichte ist die Geschichte des Kampfes unter Gleichen, merkte der Aphoristiker Gómez Dávila einst an, wörtlich schrieb er: »Die Klassenkämpfe sind Episoden. Das Gewebe der Geschichte bildet der Konflikt zwischen Gleichen.« Norbert Elias erkannte, dass die Kulturgeschichte die Geschichte der Kultur der Eliten ist. Wer sind die Eliten? Menschen, die dauerhaft mehr Macht haben als fast alle anderen Menschen einer Gesellschaft - in der Regel ein Promille der Bevölkerung. Dazu kommen ein paar Prozent Eliten im weiteren Sinnen, das sind die Menschen, die die Trägerschicht der Gesellschaft anführen und die Macht der Elite erhalten, verwalten sowie nach Außen und Innen vermehren.

Die Eliten sind die Gleichen, die gegeneinander mit den Mitteln des Gemeinwesens, das sie anführen, um die Macht kämpfen, und zwar permanent innerhalb einer Polis, aber ständig auch mit diplomatischen oder kriegerischen Mittel unter den Poleis. Das Muster wiederholt sich immer wieder und ist unabhängig von der Staatsform, die zur Herrschaft der Wenigen (der ὀλίγοι) über alle anderen verwendet wird. Die politische Metaphysik wandelt sich entsprechend, jedoch ist es ihr Kernthema, auf welche Weise durch die Eliten zum Wohle aller regiert werden kann, mit anderen Worten, wie Machtausübung und Gemeinwohl vereinbar sind. Davon soll hier aber nicht die Rede sein, sondern von der kulturellen Einstellung der Eliten: Ihre permanente Herrschaft ist lediglich der Hintergrund, den man kennen muss, um die Bedeutung der Hexis der Eliten zu verstehen. Wir werden sehen, wie der kulturelle Wandel der Elitenhexis zu einem vollständigen Verschwinden des Gemeinwohlmotivs aus dem Denken der Eliten geführt hat.

Elitenhexis seit dem Hochmittelalter

»Hexis stellt einen Dauerzustand des Seienden dar, aber doch im Sinne einer besonderen Seinsweise, nämlich des Habens bestimmter Momente gerade hier und jetzt.«, definiert Funke [6] den antiken Begriff, der uns hier interessiert. Friedrich Bassenge [1] hat den Begriff neu interpretiert, indem er ihn zum Husserlschen Begriff des Akts in Beziehung gesetzt und gezeigt hat, dass die Person des Menschen nicht nur eine Abfolge von Akten ist, wie das Scheler darstellt, sondern dass es eine dauerhaftere, aber veränderliche Haltung des Menschen gibt, aus der sich die Akte ergeben: Die Hexis, die mit den Akten im Wechselspiel gegenseitiger Veränderung steht. Wir wollen uns ansehen, wie diese Hexis des Bewusstsein der Eliten sich in den letzten tausend Jahren gewandelt hat.

Von welchen Eliten sprechen wir? Vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert dominierte der Adel unsere abendländischen Gesellschaften. Vier bis fünf Jahrhunderte nach dem Fall Westroms hatten sich bereits Geschlechter des Hochadels konsolidiert, die unter ständigem Wandel mit Aussterben und Hinzukommen von Familien bis 1648 West- und Mitteleuropa beherrschen sollten. Ab 1688 beherrschte etwa zwei Jahrhunderte lang der Adel zusammen mit dem relativ breit angelegten Großbürgertum die politische Willensbildung, wie es beispielsweise das französische Zensuswahlrecht ab 1815 verdeutlicht. Manin [16] beschreibt diese Form der elitären Politik für die USA, aus Sicht des 19. Jahrhunderts ein adelsfreien Sonderfall.

Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts fand der Übergang zu einer vom Adel weitgehend befreiten oligarchischen Machtstruktur statt, bei der eine immer kleinere Anzahl äußerst wohlhabender Familien mit dominierendem Kapitaleigentum die politische Willensbildung bestimmte [20]. Dabei spielt die Staatsform keine wesentliche Rolle, obwohl es im 20. Jahrhundert Phasen einer breiteren Partizipation bei der politischen Willensbildung gab, insbesondere durch die Arbeiterbewegung und den massiven Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit den 1970er Jahren geht diese Partizipation jedoch zurück, heute ist sie auf ihrem bisherigen Tiefpunkt seit der Entstehung moderner repräsentativer Demokratien ab 1776 angelangt.

Was war die Hexis der historischen Eliten? Etablierte gesellschaftliche Eliten haben immer ein Bewusstsein ihrer Überlegenheit. Es ergibt sich aus der Tatsache, dass sie angesichts begrenzter Ressourcen systematisch und über Generationen hinweg mehr Möglichkeiten haben, ihre Wünsche zu realisieren als andere. Doch ist dieses Überlegenheitsbewusstsein auch stets mit einem Empfinden anderer Werte gekoppelt, das sich aus der Entstehungsgeschichte der Machtstellung dieser Eliten ergibt.

Adel: Ehre und Verpflichtung

Die Aristokratie des Frühmittelalters entstand aus der Villikation, der zweigeteilten Grundherrschaft. Dabei war der abhängige Bauer dem Herrn hörig und ihm persönlich (nicht institutionell) verbunden, was Otto Brunner als Austauschverhältnis von ›Schutz und Schirm‹ (Grundherr) gegen ›Rat und Tat‹ (Höriger) charakterisiert hat [3]. Ab dem 12. Jahrhundert löste sich die Villikation auf, das reife Feudalverhältnis mit rentenbasiertem Grundherrschaftssystem entstand. Außerdem ergab sich die Vormachtstellung des Adels durch die Wehrfunktion: Der Adel verteidigte Gemeinschaften und Gesellschaften gegen Gegner und Eindringlinge, er setzte in Angriffskriegen eigene territoriale Interessen durch. Das Lehensverhältnis war auch im Hochmittelalter ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung, bei dem der Herr im Gegenzug für seine Privilegien und Rechte selbstverständlich Pflichten wie Verteidigung und Rechtsprechung übernahm.

Die Hexis des Adels war durch Ehre und Verpflichtung bestimmt. Ehre hat aus Sicht der philosophischen Reflexion zwei wesentliche Aspekte. Im moralischen (normativen) Sinne definiert Fichte Ehre als »daß wir bei unseren Handlungen überhaupt, und insbesondere bei unseren Wechselbeziehungen mit ihnen, nichts beabsichtigen, als das Rechte und [5, p. 132]. Im praktischen Sinne stellt jedoch Hobbes fest, dass Ehre den Wert beschreibt, den man sich gegenseitig beimisst, wobei gilt: »Nor does it alter the case of honour [. . . ] whether an action be just or unjust: For honour consisteth onely in the opinions of power.« [9, Vol. 3 (Leviathan), part 1, ch. 10]. Mandeville ergänzt zwei Generationen später in der Bienenfabel, dass das Ehrprinzip dazu verpflichte, keine Beleidigung zu dulden, sondern für eine solche Genugtuung zu heischen und sich dazu zum Zweikampf zu stellen. Mandeville sieht den Wert der Ehre als Charakteristikum des Adels und als»invention of moralists and politicians« und als »chimera without truth or being« [15, remarks »R«]. Während der moralische Ehrbegriff den Verpflichtungscharakter der Feudalherrschaft betont, beschreibt der praktische Begriff den degenerierten Zustand eines Pseudowerts, bei dem der Adelige die Ehre nur als Ausdruck seiner Stellung im Wettbewerb unter Gleichen empfindet. In der Tat tritt mit der Herausbildung des Hochfeudalismus und Absolutismus die Verpflichtung für die unteren Vasallen in den Hintergrund und die Stellung innerhalb der höfischen Gesellschaft in den Vordergrund. Der Hochadel entkoppelt sich vom Produzenten seines Wohlstands.

Großbürgertum: Würde, Gleichheit und Selbtverwirklichung

Im Laufe des 17. Jahrhunderts gewinnt das Ideal der Würde gegenüber dem der Ehre an Bedeutung, während der Prozess der Ablösung des Hochadels als Elite der Gesellschaft einsetzt. Mandevilles negative Sicht des adeligen Ehrbegriffs zeigt, wie die geistigen Eliten umdachten und sich vom Ehrbegriff abwandten. An seine Stelle treten Würde und Menschenwürde als Leitvorstellungen von Bürgertum und Kleinadel. Bei Pufendorf wird der Begriff der Würde von der moralischen Person des Menschen abgeleitet, die Menschenwürde ist ein Begriff seines Naturrechtssystems, aus dem er die Gleichheit aller Menschen ableitet. Die Menschenwürde folgt für ihn aus der Unsterblichkeit der Seele und der Vernunftbegabung des Menschen [17, II, 1, §5]. Auch für Kant ist die Grundlage der Menschenwürde die Autonomie und Vernunftbegabung des Menschen. Aus ihr ergibt sich letztlich die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs, wonach jede »Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« gebraucht werden soll [10, S. IV, 429]. Staatsmetaphysisch folgt für Kant die Gleichheit (im rechtlichen Miteinander und gegenüber den staatlichen Institutionen) aus der Freiheit des Menschen [11, p. 47].

Aus Sicht des Bürgertums sind Würde, Freiheit und Gleichheit zentrale Begriffe des Naturrechts, das in erster Linie als Abwehrrecht gegen adelige Willkür verstanden wird. Die Befreiung von der als degeneriert empfundenen Herrschaft des Hochadels wird als Emanzipationsbewegung für alle Bürger gesehen. Die Sozialisten des 19. Jahrhunderts wie Lassalle und Proudhon greifen den Begriff der Menschenwürde auf und versuchen daraus nicht Gleichheit vor dem Gesetz, sondern vom Staat herzustellende materielle Gerechtigkeit abzuleiten, ein Motiv, das sich bis hin zur heutigen Diversity-Equity-Inclusion-Ideologie [18, Kap. 13] gehalten hat. Mit der Ablösung der Vormachtstellung des Hochadels im Laufe des 19. Jahrhunderts tritt der Gedanke der Selbstverwirklichung in den Vordergrund bürgerlichen Denkens. Sie ist Ausdruck gesellschaftlicher Macht, die es ihren Trägern erlaubt, mehr Wünsche zu realisieren als die abhängigen und benachteiligten Schichten, Kleinbauern, Arbeiter, Bedienstete und kleine Angestellte. Interessanterweise gehen bei Luhmann am Ende dieses kulturellen Prozesses die Begriffe der Menschenwürde und Selbstverwirklichung ineinander über, indem er Menschenwürde als Bedingung des »Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit« beschreibt [14]. Menschenwürde und Individuation sind für ihn eins. Damit wird der naturrechtliche Charakter der Würde durch das im 20. Jahrhundert massentauglich gewordene Konzept der Selbstverwirklichung abgelöst.

Doch ist der Begriff der Menschenwürde im Kern ein Verpflichtungsbegriff, da der republikanische Staat, den das Großbürgertum als neue Elite im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr beherrscht, dem Naturrecht verfassungsgemäß unterworfen ist, auch wenn der Begriff an Bedeutung verlor und in der Praxis durch die Begriffe Grundrechte und Menschenrechte ersetzt wurde. Gleichzeitig mussten sich alle westlichen demokratisch konstituierten Staaten im 20. Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung und ihren sozialistischen Zielen auseinandersetzen. Das Ergebnis waren die Entstehung des Sozialstaats und die Durchdringung der Institutionen mit sozialdemokratischen Funktionären und Magistraten. Die Durchsetzung des Naturrechts erreichte im Westen nach dem Ende des Totalitarismus im Zeitalter der bürgerlichen Restauration und des Wirtschaftswunders (in Westdeutschland) ab 1945 einen historischen Höhepunkt. Die Würde des Menschen erschien innerhalb der westlichen Staaten – von einigen Ausnahmesituationen abgesehen – nahezu unantastbar, wenn auch nicht im Verhältnis zu Kolonien oder Neokolonien.

Heutige Eliten: Transhumanismus und Massenverachtung

Obwohl der Prozess der Konsolidierung der auf Kapitalbesitz beruhenden Macht schon Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte und die US-Finanzoligarchie 1913 sich mit der Federal Reserve Bank eine im Privatbesitz befindliche Institution schuf, die ihre Machtstellung zementierte und deren ständigen finanztechnischen Ausbau ermöglichte [7], dauerte es noch zwei Generationen, bis der Goldstandard 1971 aufgehoben und das Finanzsystem vollständig entfesselt werden konnte. Im Interesse einer kleinen Minderheit wurde die Staatsverschuldung ständig erhöht, Geld deutlich schneller als die Wirtschaftswachstumsrate gedruckt und vor allem der Westen durch Verlagerung der Produktion nach Asien deindustrialisiert. Inbesondere die Staatsverschuldung ist dabei interessant, da sie seit 1971 zu keinem Zeitpunkt ökonomisch sinnvoll oder notwendig war, vielmehr nur dazu dient, die Allgemeinheit zu zwingen, den Gläubigern des Staates ständig über Zinszahlungen einen hohen Anteil (USA: derzeit gut ein Drittel) des Steuereinkommens zu überlassen, so dass es zu einem ständigen Transfer von Allgemeingut in private Taschen kommt. All diese Maßnahmen und Entwicklungen führten zu einem exponentiellen Anstieg des Privatvermögens der Eliten.

Das Ergebnis für die Massen ist eine chronische Inflation, und früher oder später entstanden überall im Westen Stagnation und ein Absinken des Realeinkommes des Bevölkerungsanteil von gut 90 Prozent, der über kein relevantes Passiveinkommen verfügt. Immer größere Teil der Bevölkerung werden von der Partizipation am Wirtschaftswachstum ausgeschlossen, während eine kleine Minderheit von Familien, die das Bankensystem dominieren, märchenhaften Reichtum erwirtschaften und auch den Aufstieg einiger Tech-Milliardäre mitfinanziert haben, die nun den »Technofeudalismus« [19] betreiben, bei dem mit Hilfe von Onlinemonopolen unfassbare Gewinnmargen erzielt werden. Es dauerte mehr als eine Generation, bis die Folgen dieses neuen Systems der ökonomischen Knechtschaft unübersehbar wurden: Während überall im Westen in den vier ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg massiv in die Infrastruktur investiert wurde, sehen wir seit den 1970er Jahren einen relativen Rückgang von Investitionen in Bildung und Infrastruktur zugunsten staatlicher Konsumausgaben bei chronischer Deindustrialisierung. Die Massen werden real immer ärmer, weil sie gleichzeitig einer realen Einkommensreduktion und einem Abfall der Qualität der öffentlichen Infrastruktur und Leistungen (wie Krankenversorgung) unterworfen sind. Parallel dazu sinkt überall im Westen die öffentliche Sicherheit aufgrund der Armutsmigration aus Asien, Afrika und Lateinamerika (v.a. USA). Die Lebensqualität der Massen sinkt.

Vor diesem Hintergrund hat sich in den letzten fünfzig Jahren eine neue Elitenhexis herausgebildet. Die Eliten streben nun ausschließlich nach Selbstoptimierung, für die Massen haben sie nur Verachtung übrig. Anders als den Feudalherren des Mittelalters sind ihnen die Massen, denen sie ihren märchenhaften Reichtum verdanken, vollkommen gleichgültig. Die heutigen Oligarchen sehen ihre Mitmenschen nur als Renditequelle. Die in den republikanischen Verfassungen verbrieften Partizipationsansprüche der Massen werden institutionell abgeschaltet und medial als Populismus oder »Rechtsextremismus« verächtlich gemacht. Die aus der Gesellschaft zu extrahierende Rendite wird idealerweise leistungsfrei über das Finanzsystem und die öffentliche Verschuldung bezogen oder über öffentlich beschaffte Verbrauchsmaterialien wie Kriegsgerät oder Impfstoffe erwirtschaftet, so dass die Massen aus dem Beschaffungsprozess herausgehalten werden können. Typisch dafür sind etwa die illegalen Bestellung von COVID-Immunisierungsmitteln durch die EU-Führung bei Pfizer per SMS oder riesige Kriegsbudgets, die gegen das öffentliche Interesse (allerdings immerhin parlamentarisch) beschlossen werden. Dass Kriegsgerät bei seinem Einsatz stets und Pharmaka immer wieder Tote verursachen, ist den Oligarchen vollkommen gleichgültig. Die im 19. Jahrhundert übliche Vernichtung menschlichen Lebens in den Kolonien zur Renditeoptimierung im Zentrum wie etwa bei den britischen Opiumkriegen hat sich nach Hause verlagert: In den USA wurden Millionen von Patienten ohne medizinische Indikation mit zugelassenen Arzneimitteln opiatabhängig gemacht, die Hersteller verdienten Milliarden am dadurch ausgelösten unermesslichen Leid der Patienten [4]. In noch viel krasserem Maßstab gilt dies auch für die COVID-Episode [18, Kap. 5].

Wie sieht es mit der Selbstoptimierung aus? Die Leitideologie dafür ist der Transhumanismus, der bei allen Mitgliedern der Eliten sehr starken Anklang findet. Was ist Transhumanismus? An anderer Stelle habe ich es definiert:

Vertreter des Transhumanismus wie Bostrom [2], Harari [8] oder Land [12] (dem Vordenker Musks, Trumps und Thiels) vertreten die folgenden Ideen und glauben, dass wir den menschlichen Körper so optimieren können, dass die Erschaffung von Cyborgs möglich ist (damit meinen sie fiktive Organismen, in denen menschliche Organe und Technologie nahtlos miteinander verbunden sind):

  • dass Eigenschaften wie menschliche Intelligenz durch Genom-Manipulation der Keimbahn gesteigert werden können,

  • dass wir durch Einsatz von mRNA-Technologie bald in der Lage sind,

›Schaltkreise für Zellen zu schreiben und die Biologie vorhersehbar zu programmieren, so wie wir Software schreiben und Computer programmieren‹ (aus Joe Bidens Executive Order zu Biotechnologie vom 12.09.2022)

  • dass wir Krebserkrankungen bald durch Gentherapie oder sogar den Einsatz von Nanotechnologie heilen können,

  • dass Maschinen bald Gedanken mit Hilfe von Detektoren elektro-magnetischer Wellen lesen können,

  • dass es keinen freien Willen gibt, da der Geist bloß eine Ansammlung biochemischer Prozesse ist,

  • dass wir bald digitale Unsterblichkeit erreichen, indem wir ›unseren Geist in die Cloud hochladen‹ (›Mind Uploading‹),

  • dass ›Künstliche Intelligenz‹ (KI) Maschinen hervorbringen wird, die intelligenter als Menschen sind, und

  • dass KI die meisten Menschen gesellschaftlich überflüssig machen wird, da Maschinen deren Arbeit übernehmen werden, oder

  • dass die KI auch einen eigenen Willen entwickelt und die Menschheit beherrschen wird – Elon Musk spricht von ›AI overlords‹,

  • dass wir bereits heute in der Lage sind, das biologische Geschlecht erwachsener Menschen genetisch neu zu programmieren, und

  • dass der Mensch in der Lage ist, geophysikalische Eigenschaften der Erde vollständig zu modellieren, vorherzusagen und technisch zu manipulieren und sich so eine Erde nach seinen Vorstellungen zu schaffen.

Das sind nur die wichtigsten transhumanistischen Vorstellungen [13].

Die Eliten glauben wirklich daran, sich auf diese Weise selbst optimieren zu können. Diese von Geisteswissenschaftlern ohne naturwissenschaftliche Bildung vorgetragenen Ideen sind wissenschaftlich unhaltbar und sind nicht realisierbar [13]. Wo man sie zum Einsatz bringt, wie etwa bei der sogenannten Geschlechtsumwandlung Minderjähriger [18, Kap. 14] ohne ausreichende Diagnostik oder bei Immunisierungskampagnen mit modifizierten Ribonukleinsäuren, wird entsetzlicher Schaden angerichtet. Die Ideologie hat keine Zukunft und trägt klar die Züge von Hybris, wie sie das jüdische Altertum an zahlreichen Stellen des Alten Testaments beschreibt und wovon die griechische Mythologie strotzt. Da eine Realisierung des Transhumanismus wissenschaftlich und technisch unmöglich ist, ist diese Ideologie essentiell instabil und zum Scheitern verurteilt. Dass sie so beliebt ist, zeigt den Zustand der Wissenschaftsrezeption der westlichen Eliten an. Man ist – anders als in der Nachkriegszeit – in der Öffentlichkeit nicht mehr um ein adäquates Verständnis von Wissenschaft bemüht, um den Einsatz von Technologie rational und nutzbringend zu planen, sondern setzt eschatologische Erwartungen auf scheinbare Möglichkeiten der Wissenschaft, die in den Programmen Bostroms oder Lands in einen heidnischen Kult umgewandelt wird. Selbstverständlich sind transhumanistische technische Maßnahmen zur scheinbaren Verbesserung des Individuums äußerst kostspielig und den Eliten vorbehalten. Transhumanisten wie Harari sehen die Massen als überflüssig an. Vergleichen wir Vordenker des Transhumanismus wie Yuval Harari, Nick Land oder Nick Bostrom mit klassischen Autoren abendländischer Staatsmetaphysik wie Marsilius von Padua, Samuel von Pufendorf, Thomas Hobbes oder Immanuel Kant, sehen wir neben dem totalen moralischen Verfall eine erschreckende strukturelle und formale Niveaulosigkeit von Sprache und Denken. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass der scheinbare kulturelle Wandel in den USA, den wir derzeit beobachten, vom Transhumanismus keinen Iota abrückt, genauso wenig wie die Eliten Chinas und Russlands. Der intellektuelle, kulturelle und moralische Zustand von Eliten, die diese Leitideologie verinnerlichen und gleichzeitig die Massen als überflüssig ansehen, ist erschreckend. Wer solche Eliten hat, muss sich auf weitere Unbill gefasst machen.

Literatur

  1. Friedrich Bassenge, »Hexis und Akt. Eine Phänomenologische Skizze«. In: Philosophischer Anzeiger 4 (1930), S. 163–68.

  2. Nick Bostrom, »Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up«. In: The Transhumanist Reader. Hrsg. von Max More und Natasha Vita-More. Oxford: Wiley- Blackwell 2013, S. 28–53.

  3. Otto Brunner, »Feudalismus«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 329–350.

  4. Wilson M Compton und Christopher M Jones, »Epidemiology of the US opioid crisis: the importance of the vector«. In: Annals of the New York Academy of Sciences 1451.1 (2019), S. 130–143.

  5. Johann Gottlieb Fichte. Fichtes Werke: Das System der Sittenlehre. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. Bd. 4, Berlin: de Gruyter 1971.

  6. G. Funke, »Hexis«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 3. Basel, CH: Schwabe Verlag 1974, S. 1120–1123.

  7. Edward Griffin, The Creature from Jekyll Island, 2010.

  8. Yuval Noah Harari, Homo Deus: A Brief History of Tomorrow. Random House 2016.

  9. Thonas Hobbes, The English works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Aalen: Scientia Verlag 1966.

  10. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1795]. Göttingen, ab 1900.

  11. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg: Felix Meiner 1986 [1797].

  12. Nick Land, The Dark Enlightenment, Imperium Press Perth, 2023.

  13. Jobst Landgrebe, »Transhumanismus - die Leitideologie unserer Zeit«. In: Globkult (2024). eprint: https://www.globkult.de/gesellschaft/modelle/2414- transhumanismus-die-leitideologie-unserer-zeit.

  14. Niklas Luhmann, »Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen Soziologie«. In: (2019 [1965]).

  15. Bernard Mandeville, The fable of the bees and other writings. Hrsg. von E.J. Hundert. Hackett Publishing, 1997 [1714]].

  16. Bernard Manin, The Principles of Representative Government. Cambridge University Press, 1997.

  17. Samuel Freiherr von Pufendorf, De jure naturae et gentium. Ex Officina Knochiana, 1759.

  18. Arnold Schelsky, The Hype Cycle: Uppers and Downers in Our Bipolar Culture.

Chicago, IL: Open Universe, 2025.

  1. Yanis Varoufakis, Technofeudalism: What killed capitalism. Melville House, 2024.

  2. Thorstein Veblen, Absentee ownership: Business enterprise in recent times: The case of America. Routledge, 2017 (1924).

 

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