Eine Art Kompass im digitalen Zeitalter

von Herbert Ammon

Bereits um die Jahrtausendwende sprachen Soziologen wie Anthony Giddens und Ralf Dahrendorf (Auf der Suche nach einer neuen Ordnung.Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, 2003) von der ›runaway world‹. Die digitale Revolution war in vollem Gange, unter neoliberalen Vorzeichen forcierten die westlichen Industrieländer die Globalisierung, der rapide soziale Wandel ging einher mit dem ›Wertewandel‹ unter dem Oberbegriff ›Individualisierung‹.

Die seither in offenbar noch schnellerem Rhythmus ablaufende Beschleunigung des historischen Prozesses (im umfassenden Sinne von Technik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Machtverhältnissen und Politik), ist das Leitmotiv des anno 2013 erstmals erschienenen Buches des Mainzer Historikers Andreas Rödder. Für die vorliegende vierte Auflage – bezogen auf das Jahr 2017 – hat der Autor das Manuskript aktualisiert, ohne allerdings über die denkbaren Folgen des Brexit für EU-Europa und die immer deutlicheren Machtprojektionen Chinas unter dem seit 2013 regierenden Präsidenten Xi Jinping zu reflektieren. Die Corona-Pandemie und ihre Konsequenzen lagen noch außerhalb des zeitgeschichtlichen Horizonts.

Mit dem ›21.0‹ griffig gefassten Titel sowie mit kernigen Kapitelüberschriften verspricht das Buch den Zeitgenossen Orientierung. Was die im weitesten Sinne ›materiellen‹ Bedingungen unserer Existenz im ›alten Europa‹ betrifft – wem ist der vom damaligen amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf die anno 2003 kriegsunwilligen Staaten Deutschland und Frankreich gemünzte Begriff noch geläufig? –, so bietet das Werk Zugang zur jüngsten Zeitgeschichte und zu den großen Fragen der Gegenwart. Zur Veranschaulichung der von ›Beschleunigung‹ und unerwarteten Brüchen markierten Prozessen stellt der Autor dem jeweiligen Thema einen kurzen Rückblick voraus. In Kapitel I ›Welt 3.0‹ rekapituliert er die Geschichte der digitalen Revolution von den Signaltechniken der Antike über das Morsealphabet und die in den 1880er Jahren von Herman Hollerith, ursprünglich Angestellter beim US-Zensusbüro, konstruierte Lochkartenmaschine über den ersten elektronischen Universalrechner 1946 – mit einem Gewicht von 30 Tonnen – zum Mikrochip und zur ›schönen neuen Welt‹ des Internet. Ironisch erhellend wirkt das Urteil von IBM – ehedem 1924 als deutsches Unternehmen gegründet – bezüglich des Nutzens eines Personal Computers: »It isn´t a product for big companies that use ›real‹ computers.« (zit. 38)

Neoliberalismus und Globalisierung

Den Zugang zu den ökonomischen Determinanten der jüngeren Gegenwart – verknüpft mit den Begriffen ›Globalisierung‹, ›Neoliberalismus‹, ›Finanzkapitalismus‹, Hedgefonds und shareholder value, ›Bankenkrise‹ und ›Eurokrise‹ – vermitteln Kapitel II unter dem Titel Global Economy sowie Kapitel VI Vater Staat. Für Rödder ist der Ausgangspunkt aller uns heute okkupierenden Fragen das Jahr 1973. Im März 1973 brach das durch die inflationären Kosten des – im Text unerwähnten – Vietnam-Kriegs bereits beschädigte, auf feste Wechselkurse gegründete System von Bretton Woods (1944) durch den Austritt der Schweiz und Großbritanniens endgültig zusammen. Die westliche Welt ging zu freien Wechselkursen über. Kurz darauf trieb die von den arabischen Staaten im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges 1973 ausgelöste Ölkrise die Energiepreise in zuvor unvorstellbare Höhen. Die Öleinnahmen suchten nach Kapitalanlagen auf dem Weltmarkt, während die westlichen Industrieländer die erste große Wirtschaftskrise nach dem II. Weltkrieg erlebten.

Die durch Deregulierungen veränderte kapitalistische Wirtschaftspraxis (unter den Negativmarken Reaganomics und Thatcherismus) folgte der Wende in der Theorie: von keynesianischer Doktrin hin zur Neoklassik. Der neoliberale Kurs wurde in den USA gerade auch in der demokratischen Ära Clinton unvermindert fortgesetzt. Durch den Wegfall von Sicherheiten (›collaterals‹) bei Immobilienkäufen, gedacht als ›Sozialmaßnahme‹ für Einkommensschwache, durch Deregulierungen – maßgeblich 1999 die Aufhebung der 1933 während des New Deal beschlossenen Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken sowie Versicherungen – über den elektronischen Börsenhandel, durch das Vordringen Chinas auf den Weltmärkten, nicht zuletzt durch die Niedrigzinspolitik der Fed, entstand ein unübersehbares Geflecht von Unternehmen, vor allem aber eine wachsende Diskrepanz zwischen Finanzmärkten und Realwirtschaft.

Am 13. September 2008 löste der Zusammenbruch der Bank Lehman Bros den ›großen Knall‹ aus. Als Retter vor dem Absturz in eine verheerende Depression trat der Staat mit dem wenige Tage später beschlossenen ›Emergency Economic Stabilization Act‹ zum Ankauf von Papieren und zur Gewährung von Krediten an Banken auf den Plan (»staatliche Rettung statt schöpferischer Zerstörung«, 68-70). Nicht anders reagierte die EU im folgenden Jahr 2009 während der Finanzkrise mit der Schuldenaufnahme zur Bankenrettung sowie ein Jahr später zur Rettung der Schuldnerstaaten während der Eurokrise. Den staatsinterventionistischen Kurs EU-Europas fixierte unwiderruflich 2012 EZB-Chef Mario Draghi mit seinem Diktum ›whatever it takes‹.

Postmoderner Relativismus

Wer (namentlich in Kapitel IV Die Ordnung der Dinge) Aussagen zur »geistigen Situation der Zeit« (Karl Jaspers) erwartet, die über die ideelle Beliebigkeit der Postmoderne hinausweisen und Zukunftsorientierung eröffnen, sieht sich leider enttäuscht. Eine schärfere Definition der Moderne – als deren Merkmale erscheinen Fortschrittsoptimismus und Glaube an die Erkennbarkeit der Welt und Machbarkeit der Dinge (96) – wäre geeignet gewesen, um die seit den 1980er Jahren begrifflich – und unter dem Signum ›Weltoffenheit‹ politisch – vordringende Postmoderne genauer ins Visier zu nehmen.

Die Crux liegt in der von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-Francois Lyotard entwickelten ›French theory‹ und darin, »dass diese Formen des Denkens von den intellektuellen Höhenkämmen der philosophischen Seminare in die Breiten der westlichen Gesellschaft durchsickerten.« (101) Hinzu kam der Politikwissenschaftler Benedict Anderson, der mit seiner These von den ›imagined communities‹ das historisch-politische Selbstverständnis der europäischen Nationalstaaten ›dekonstruierte‹. Zur Dekonstruktion analytischer Klarheit trug vollends der Durchmarsch von Judith Butlers ›Gender‹-Ideologie an den westlichen Bildungsinstitutionen bei.

Zu Recht stellt der Autor die Frage, was statt dessen gilt, und verweist auf den im Dekonstruktivismus angelegten erkenntnistheoretischen Selbstwiderspruch, der im subjektiven Deutungs- und Wahrheitsanspruch gründet. Der theoretische Widerspruch steckt im Begriff ›Inklusion‹, die ohne ›Exklusion‹ nicht zu denken ist. Manifest wird der Widerspruch in der Verknüpfung von kultureller Relativität und – unter dem Vorzeichen der ›Dekolonialisierung‹ – antiwestlicher, vermeintlich universalistischer Gleichheitsmoral. Ähnliches gilt für ›Gender mainstreaming‹ und ›queer theory‹.

Rödder bringt den moralisch aufgeladenen Kampf um die ›richtige‹ Meinung, um Gendersprech und Lehrstühle, auf den Punkt: Wenn gemäß postmoderner Theorie Sprache die Wirklichkeit definieren soll, so handelt es sich auch dabei um eine Machtfrage. (109) Zudem: »Nach der Dekonstruktion ist vor der Konstruktion.« (Ibid.) Es fällt auf, dass nur in der Literaturliste, nicht aber im Text – weder in dem genannten Kapitel IV noch in den die Problemkreise Demokratie (Kap. VI Vater Staat), Europa (Kap. VII Neues vom alten EuropaWeltpolitik und Weltgesellschaft seit 1990) - der Name Jürgen Habermas auftaucht. Dem Historiker Rödder bereitet die »neue Unübersichtlichkeit« (J.H.) des 21. Jahrhunderts offenbar weniger Schwierigkeiten als dem in der Gender- und Islam-Debatte stumm gebliebenen Philosophen Habermas.

Fragen der säkularen Gesellschaft

Leichthändig abgehandelt wird im Kontext von Kapitel IV das Thema ›Gott und die Welt‹. In der Debatte um ›Wiederkehr der Religion‹ oder fortschreitende Säkularisierung – Webers Entzauberung der Welt – legt er sich nicht fest, wenn er unter Bezug auf die in der Welt ungebrochen existierenden und konfligierenden Religionen schreibt: »Religion ist nicht die Alternative zur Moderne, sondern eine Alternative in der Moderne.« (132) Das klingt im Hinblick auf die – ohne erkennbares Bedauern erwähnten – anhaltend hohen Kirchenaustritte etwas dünn.

Immerhin wird die künftige Rolle des Islam in der säkularen westlichen Gesellschaft problematisiert. Warum allerdings der Zentralrat der Muslime in Deutschland als ›links-liberal‹ gelten soll, weiß wohl nur der Autor. (134) In der Debatte um Pluralismus, Integration und Demokratie konstatiert er – als CDU-Mitglied wurde Rödder 2019 von der Bundesregierung in die ›Fachkommission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit‹ berufen – allerlei ›Paradoxien‹. Eine liegt darin, dass ›Progressive‹ sich für den Islam erwärmen, während »Konservative aus Angst vor dem Islam Forderungen der säkularen Gesellschaft vertreten, die eigentlich nicht die ihren sind...«(136).

Pointierter erscheint die Argumentation, wo er Rödder den verpönten Samuel Huntington (The Clash of Civilizations 1993/1996) zitiert: »Was für den Westen Universalismus ist, ist für den Rest der Welt Imperialismus.« (140). Er spitzt die Problematik noch weiter zu, indem er fragt, ob ›der Westen‹ als politisch-normatives Konzept tauge. Der Begriff ›globaler Westen‹ – er bezieht sich auf Heinrich August Winklers »groß angelegtes Panorama des Westens« (139) – erscheint ihm eher als ideologisch eingefärbte Abstraktion »aus der Vielfalt historischer Erscheinungsformen« europäischer Geschichte – als Begriff ehedem tauglich für die Ära des Kalten Krieges. (139f.) Eine kritische Bemerkung trifft auch die – andernorts ob ihrer Zentralisierungstendenz maßvoll gerügte – EU: »Die Europäische Union beruft sich auf universale Werte, allerdings ohne transzendentale Begründung.« Bei der Frage nach dem Geltungsgrund politisch-kultureller Normen und bei den diesbezüglichen ›Diskursen‹ handelt es sich wiederum um Machtfragen – eine ideologiekritische Feststellung, frei von grün-deutscher Blauäugigkeit. (141) Ungeachtet dieser distanzierten Betrachtung der Dinge neigt Rödder dazu, die von ihm selbst angesprochenen Konfliktpotentiale in unserer kulturell-sozialen Wirklichkeit in mildem Licht zu sehen. So schlimm wird es schon nicht werden, auch der Klimawandel – abgehandelt in dem um die Energiewende 2011 zentrierten Kapitel III Die Welt ist nicht genug – birgt für den Historiker noch keine apokalyptische Drohung. Als Zeugen ruft er den Klimaforscher (und Globkult-Autor) Hans von Storch auf, der es für »gut möglich [hält], dass wir zudem [neben anderen Faktoren] die natürlichen Schwankungen des Klimas unterschätzen.« (zit. 88).

Integrationsfragen

Um den sozialen Wandel in den letzten Jahrzehnten – anschaulich illustriert durch die Sinus-Milieus von 1985 und 2011 (147f.) –geht es in Kapitel V (Wo zwei oder drei). Von der wohlfahrtsstaatlich abgesicherten ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ der 1960er Jahre kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Was den ›Wertewandel‹ – im Blick auf das Geschlechterverhältnis, Ehescheidungen und Homosexuellen-Ehe – betrifft, so ist in Rödders Buch von konservativer Kulturkritik nichts zu spüren. Immerhin scheint er hinsichtlich der von der Bundeskanzlerin Merkel ermöglichten ›Flüchtlingskrise‹ das Urteil des 2017 verstorbenen Zeithistorikers Hans-Peter Schwarz zu teilen:

»Nie zuvor in den 65 Jahren bundesdeutscher Geschichte hat eine Bundesregierung ein derartiges Chaos verschuldet und seine Fortsetzung wie gelähmt toleriert, bis die Sperrung der Balkanroute durch eine Koalition der Willigen unter Führung Österreichs im März 2016 dem Kontrollverlust ein Ende machte.« (zit. 174)

Der Staat – vorzugsweise angelsächsisch gedacht als territorialer nation state – spielt bei Rödder – nicht nur in Kapitel VI Vater Staat – eine stärkere Rolle als Verfechtern transnationaler Integration und/oder ›transnationaler Demokratie‹ lieb sein mag. Protagonisten der in den Medien-Bachelor-Kursen und Parteistiftungen omnipräsenten ›Zivilgesellschaft‹ sind die historischen Erläuterungen des des »ebenso schillernden wie widersprüchlichen« Begriffs zu empfehlen. (251) Eine vom Kanzleramt 2001 veranlasste Umfrage ergab, dass »die Deutschen nicht zwischen Zivilgesellschaft und Zivildienst unterscheiden [können]«. (252) Rödder schreibt: »Schon die EU erweist sich als grenzwertig groß, um noch handlungsfähig zu sein« (242). Wo er – nicht nur innerhalb seiner Partei CDU – hinsichtlich des »Integrationssogs« und der »Fliehkräfte« (250) der bis dato laut Bundesverfassungsgericht als ›Staatenverbund‹ zu bezeichnenden Europäischen Union steht, ist jedoch nicht ganz eindeutig. Anscheinend ist er kein begeisterter Befürworter des Weges in den europäischen Bundesstaat. Er verweist auf das alte, seit der Wiedervereinigung 1990 wiedergekehrte deutsche Problem – halbhegemonial in Europa, kritisch wahrgenommen von seinen Nachbarn –, aber hält eine ›Gratwanderung‹ für unvermeidlich.

»Eine Politik der Integration um jeden Preis –...etwa in Form einer europäischen Transferunion würde Deutschland selbst schwächen und ihm schaden... Das deutsche Dilemma aber bleibt.« (267)

In den Monaten und Jahren Jahren nach dem Mauerfall ging es im Zentrum Europas um Grundsatzentscheidungen: »Mit Maastricht etablierte sich die EU – und nicht die KSZE oder eine andere Organisation – als die zentrale Institution in Europa nach 1989.« (294) Wo und wenn immer Volksabstimmungen zu den Integrationsschritten – bis dato gipfelnd im Vertrag von Lissabon (2007/2009) – stattfanden, setzten sich die ›Entscheider‹ – sprich die ihre Macht nutzenden führenden Akteure der classe politica in den westeuropäischen Staaten – über die ablehnenden Voten des jeweiligen Volkssouveräns hinweg. EU-Europa ist nicht identisch mit dem historisch-kulturell komplexen Begriff ›Europa‹ und dessen unklaren historisch-geographischen Grenzen. Eine europäische Identität als Substrat einer politischen Einheit EU-Europas existiert bislang nicht. Im Blick auf die EU kommt Rödder die von Samuel von Pufendorf anno 1667 auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (»ein irregulärer und einem Monstrum ähnlicher Körper«) gemünzte Definition in den Sinn (336) – angesichts der Brüsseler Bürokratie ein eher fragwürdiger Vergleich. Im Institutionengeflecht der EU steht der Europäische Rat noch immer über der demokratisch dürftig legitimierten Kommission. In der Darstellung der derzeitigen EU-Realität leistet sich Rödder gar einen Verstoß gegen die reine demokratische Lehre: Das »Letztentscheidungsrecht« des Europäischen Rats – als »bestes Beispiel« nennt er die Euro-Schuldenkrise – »entspricht...Carl Schmitts Definition des Souveräns, der ›über den Ausnahmezustand entscheidet‹.« (305)

Machtfragen

Damit sind wir wieder bei den Machtfragen. Vor dem Hintergrund alter und – vor allem in Gestalt islamisch-fundamentalistischen Terrors – neuartiger Konflikte erscheint als Grundproblem – zuletzt demonstriert am Beispiel Afghanistan – die Diskrepanz zwischen moralischen, menschenrechtlichen Maximen und moralisch neutraler Macht- und Interessenpolitik. Rödder macht deutlich, dass in der historisch-politischen Realität – exemplarisch in Barack Obamas Agieren gegenüber Libyen 2011, sodann 2012 gegenüber Syrien – die Grenzen zwischen Moral (»Menschenrechtsimperialismus«, 348) und Machthandeln nach Belieben gezogen zu werden. Die machtpolitischen Veränderungen seit dem Epochenjahr 1989/90 werden in Kapitel VIII (Weltpolitik und Weltgesellschaft) rekapituliert. Dazu gehört die Osterweiterung und die Neudefinition der NATO als Interventionsallianz anstelle des alten Verteidigungsbündnisses. Den Abschied von nachkriegsdeutscher Geschichtsmoral proklamierte 1999 der Grünen-Außenminister Joschka Fischer, als er die Beteiligung am Kososo-Krieg mit ›Auschwitz‹ begründete. Schon zuvor (1994) hatte das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil die bis dato strikt defensiven Klauseln des Grundgesetzes uminterpretiert und den Weg in die künftigen deutschen Auslandseinsätze markiert. (351f.)

Anno 1997 bezeichnete Zbigniew Brzeziński, Vertreter der ›realistischen Schule‹ in politicis, die USA als die einzige Weltmacht (in: The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, 1997). Zehn Jahre später sprach er von der ›Krise der amerikanischen Supermacht‹ (in: Second Chance: Three Presidents and the Crisis of American Superpower, 2007). Anders Rödder: Die USA erscheinen bei ihm als »seltsamer Hegemon«, ohne dass ihre geschwächte Position in der Welt sowie die Unwägbarkeiten im Mächtedreieck USA-China-Russland schärfer hervortreten. (353-357) Dass Russland als »unzufriedener Verlierer« dasteht, ist angesichts Putins Verhalten gegenüber dem »nahen Ausland«, das er als altes Territorium des Russischen Reiches betrachtet, evident. (357-364) In Rödders Buch fehlt der Name Horst Teltschik – der Kohl-Vertraute gilt heute womöglich als ›Putinversteher‹ –, aber er zitiert John Lewis Gaddis, den »Altmeister der realistischen Schule des Kalten Krieges«, der die NATO-Osterweiterung als Verstoß gegen die historische Klugheit kritisierte. (345)

»Entgegen jahrzehntelanger Unkenrufe eines amerikanischen decline und trotz aller historischer Muster des Aufstiegs und des Niedergangs von großen Mächten ist ein amerikanischer Abstieg...nicht in Sicht.« (365)

Gilt der Satz ohne Einschränkung noch heute? Er wurde vor der – unter Donald Trump initiierten und unter Joe Biden verschärften – amerikanischen Wahrnehmung Chinas als rivalisierender Weltmacht geschrieben. Der Aufstieg Chinas stelle – anders als ehedem der des Deutschen Reiches und Japans – die internationale Ordnung mutmaßlich nicht in Frage, aber »zuweilen waren auch schon weniger kooperative Töne zu vernehmen.« (367). Das lässt wieder alles offen.

Beruhigungstee für die Zukunft

Historiker neigen nicht zu Prophezeiungen, aber in der Tradition Leopold von Rankes geht es darum, die ›Tendenzen des gegenwärtigen Zeitalters‹ festzuhalten. Rödder tut dies in seinem Schlusskapitel 21.0. Resümierende Überlegungen, wo noch einmal die zuvor dargestellten ›neuen‹ Entwicklungen, Grundmuster und Tendenzen skizziert werden: Digitalisierung, »anthropogener« Klimawandel, »der Aufstieg der anderen«, die europäische Integration sowie – ohne kulturkritischen Zungenschlag – »Novum 5: Wahlfreiheit der Lebensformen«.(385)

In der Zusammenfassung bleibt die – in Kapitel V dargestellte, anhand der Alterspyramiden illustrierte – Bevölkerungsentwicklung unerwähnt, obgleich diese unter dem Aspekt ›Migration‹ mit den ›internationalen Konflikten und Gewalt‹ (Muster 4) eng verknüpft ist. Das ›Entschwinden des 20. Jahrhunderts‹ (Tendenz 1) ist verquickt mit der Tendenz zur ›Verschiebung des [Werte-]Rahmens‹ (Tendenz 2) hin zu der Maxime Paul Feyerabends ›anything goes‹. Beide münden in die unklare Logik von ›Tendenz 3: Umgang mit Ungewissheit‹.

Das Buch besticht durch seinen Informationsgehalt und vermittelt einen gut lesbaren Überblick über die Geschichte der letzten fünfzig Jahre. Wer indes jenseits der Darstellung des Faktischen einen Kompass für das 21. Jahrhundert gesucht hat, findet sich angesichts der genannten Tendenzen am Ende ziemlich ratlos wieder. Nichtsdestoweniger ermuntert der Autor uns Zeitgenossen zum optimistischen Blick in die Zukunft. Es gelte

»die Chancen des Unvorhergesehenen [zu] nutzen. So gelangte Kolumbus nach Amerika, so wurden der Teebeutel und das Penicillin erfunden, und wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für Realitäten verbinden, dann macht auch die Geschichte der Gegenwart keine Angst vor der Zukunft.« (394)

Derlei Sätze schützen vor grüner Apokalyptik, aber sie haben den Geschmack eines grünen Beruhigungstees.

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