von Ulrich Siebgeber

J. Christine Janowski/Bernd Janowski/Hans. P. Lichtenberger (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte, Bd. 1, Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchner Verlag 2006, 371 S.

Angesichts des allfälligen homo sacer-Auftriebs in den Kulturwissenschaften ist ein Band hochwillkommen, in dem Theologen vom gegenwärtigen Stand der Stellvertretungsdebatte in ihren Disziplinen Zeugnis ablegen. Die auf ein interdisziplinäres Symposion in Tübingen (2004) zurückgehende, von J. Christine und Bernd Janowski sowie Hans P. Lichtenberger mit viel Überlegung und Sorgfalt herausgegebene Sammlung von Beiträgen, die das Thema unter kulturwissenschaftlich-biblischen, systematisch-theologischen und philosophischen resp. gesellschaftstheoretischen Aspekten durchleuchten, besticht durch sachliche Vielfalt und informative Differenziertheit, angesichts derer sich ein nichttheologischer Leser allenfalls hier und da mehr Entschiedenheit in den vertretenen Thesen wünschte.

Ob das mehr Kritik oder Lob beinhaltet, bleibe dahingestellt. ›Stellvertretung‹ ist ein Begriff, in dessen komplexer Herkunft sich ein Bündel altrömischer Rechtsbegriffe mit divergierenden theologischen Auslegungen insbesondere des Kreuzestods Christi vorwiegend im protestantischen Raum vermengt.

Wohl bewusst ist den Autoren die juristische, politische, soziale und psychologische Dimension ihres Themas; ihnen gewinnen sie für den kundigen Leser mehr als eine nicht unwichtige Pointe ab. Zwischen Repräsentation und Substitution verläuft eine der Hauptlinien, an denen entlang Interpretationen mythisch denotierter Institutionen wie des ›effektiven‹ bzw. ›nutzbringenden‹ Todes, auf den der Kreuzestod Christi anspielt (Andreas Bendlin), des alttestamentarischen Sündenbocks als »Unheilsträger« (Bernd Janowski) oder des ›Vikariats‹ als Grundmuster einer lebenserhaltenden »Stellvertreterkultur« (Christof Gestrich) vorgelegt werden. Im Mittelpunkt der meisten Überlegungen steht die von Kant negierte Frage, ob und wie es zu denken sei, dass Einzelne (oder ein Einzelner) die ›Schuld‹ oder ›Last‹ einer Gemeinschaft oder ›Aller‹ zu tragen imstande sei(en): eine Frage, die sich unabweislich mit dem - eher restriktiv gehandhabten - Begriff des Opfers verbindet. Einen »ganz neuen« Begriff von Stellvertretung, basierend auf einer akribischen Analyse der semantischen Merkmale »alle[r] wichtigen soteriologischen Texte des Alten und Neuen Testamentes«, fordert Stephan Schaede, der »ausdrücklich« vor dem »emphatischen Gebrauch von Stellvertretung in der Theologie« warnt. Andere sehen das gelassener. Eine Reihe offen konzipierter Thesen formuliert der Religionsphilosoph Hans P. Lichtenberger im Hinblick auf die Stellvertretungstheorien Bonhoeffers und Lévinas' - Thesen, die, hinreichend bedacht, wohl in beiden Fällen auf eine kritische Demontage hinauslaufen. Überlegungen zur »Stellvertretungsproblematik im Eltern-Kind-Verhältnis« aus psychiatrischer Sicht (Gunther Klosinski) runden den Band weniger ab, als dass sie ihn auf andere Disziplinen hin öffnen.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Es leuchtet ein, dass, wer ausgeschlossen bleibt vom großen Mediengeschäft (oder ausgeschlossen wurde), eher auf der kritischen Seite zu finden sein wird als auf der affirmativen – vorausgesetzt, die ›führenden‹ Medien stehen, wie es zu gehen pflegt, im Sold der Mächtigen oder pflegen die Allianz aus anderen Gründen. Seit den frühen Tagen des Journalismus gilt: Je konformer die Platzhirsche, desto giftiger die Habenichtse. Das betrifft das Verhältnis zur Regierung, zum

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er

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Politik / Gesellschaft

  • von Severus Magnos

    Atze ist auch so einer. Kennen Sie Atze? Nein? Dann haben Sie was verpasst! Der Typ ist ein echtes Vorbild – seit Jahren alimentierter Künstler, eigentlich Bürgergeldempfänger, weil seine »kreativen Jahre« schon lange im Museum der Vergangenheit verstauben. Sein einziger Kumpel ist ein kleiner Hund, der ihn komplett an der Leine hat. Wenn Matze vor ihm steht und mit rehbraunen Kulleraugen um Futter bettelt, dann kann er einfach nicht »Nein!« sagen. Gleich denkt er daran, wie

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  • von Jobst Landgrebe

    Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Markt für Mobiltelefonie stetig gewachsen, nach einiger Zeit gab es keine Telefonzellen mehr, und seit zehn Jahren verzichten immer mehr Privatpersonen auf einen Festnetzanschluss, da die meisten ein Mobiltelefon haben – ohne Mobiltelefon ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben deutlich schwieriger. Videoübertragung hat einen sehr hohen Bedarf an Datenübertragung geschaffen, der schließlich zur Einführung des 5G Mobilfunkstandards

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Souverän für Amerika

  • von Ulrich Schödlbauer

    Als Ionas mit einem gewaltigen Rülpser aus dem Bauch des Wals entlassen wurde, da fand er sich nicht, wie oft behauptet, an einem abgelegenen Gestade wieder, sondern im Zentrum einer volkreichen Stadt. Der Wal, geplagt von seinem Gedärme, war die Flüsse hinaufgeschwommen, solange sie ihm passierbar dünkten. Hier aber, vor einer adlergeschmückten Brücke, hatte er den point of return erreicht und verabschiedete sich von der staunenden Menge mit einer gewaltigen Fontäne,

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

GLOBKULT Magazin
herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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