von Ulrich Schödlbauer

Es leuchtet ein, dass, wer ausgeschlossen bleibt vom großen Mediengeschäft (oder ausgeschlossen wurde), eher auf der kritischen Seite zu finden sein wird als auf der affirmativen – vorausgesetzt, die ›führenden‹ Medien stehen, wie es zu gehen pflegt, im Sold der Mächtigen oder pflegen die Allianz aus anderen Gründen. Seit den frühen Tagen des Journalismus gilt: Je konformer die Platzhirsche, desto giftiger die Habenichtse. Das betrifft das Verhältnis zur Regierung, zum Parlament, zu Justiz und Verwaltungsbehörden, und es endet nicht an den eigenen Landesgrenzen.

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Medienschaffende müssen es sich in der Regel verkneifen, einen Krieg zwischen Fremdstaaten als ›Drecksarbeit‹ zu unseren Gunsten zu bezeichnen. Es gehört sich nicht und würde die Grenzen des Gewerbes überschreiten. Eine auf Freund-Feind-Verhältnisse eingestimmte Öffentlichkeit bekommt über kurz oder lang Konsistenzprobleme. Ein regierungsamtlich zertifizierter Feind ist ein Stolperstein, an dem sie sich der opponierende Teil der Öffentlichkeit, der sich als Gegenöffentlichkeit inszeniert, fast zwangsläufig selbst zerlegt. Es fällt schwer, sich affirmativ zum Landesfeind zu verhalten – aus allgemein psychologischen, dem Patriotismus oder bloßer Vorsicht geschuldeten Gründen. Daher wagen es nur wenige, vor allem auf die Gefahr hin, mit Vertretern der Staatsgewalt vor der Wohnungstür (oder am Gate eines Flughafens) Bekanntschaft machen zu müssen, diesen Weg zu gehen. Leichter fällt es da, der Versuchung des Konformismus zu erliegen und auf diesem Weg ganz neue Feindbilder aufzubauen. So zerlegt sich, zum Vorteil der Herrschenden, über kurz oder lang jede ›Szene‹ – wenn’s sein muss, zum eigenen Nachteil und wider besseres Wissen.

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In eine ähnliche Lage bringt der ungeliebte Regierungschef eines Landes, das die offizielle Unterstützung des eigenen genießt – eine gar nicht so seltene Konstellation –, die affirmativen Medien, die von ihren digitalisierten Herausforderern gern ›Altmedien‹ genannt werden, nachdem sie lange, amerikanischem Vorbild folgend, als mainstream tituliert wurden. Allerdings bevorzugen sie andere Bewältigungsstrategien. In der Regel verfahren sie doppelzüngig: Verlangt die große Politik Loyalität, dann wird sie augenzwinkernd gewährt – und mit ›Bedenken‹ angereichert. Das zwingt die Alternativen, ihrerseits Doppelstrategien zu entwickeln. Eine, bizarr auch sie, besteht darin, dass man sich unbedingt auf die Seite des ›Ungeliebten‹ und seiner Vorgehensweise schlägt, gleichzeitig aber die Unterstützung durch die eigene Regierung und ihre Helfermedien als heuchlerisch, lau oder nutzlos und schädlich denunziert.

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Bereitliegenden Mustern zu folgen hat nichts mit Sachkenntnis oder gar Fallanalyse zu tun. Es ergibt sich mehr oder weniger automatisch aus der Selbstverortung der Kommentatoren und den Erwartungen des Publikums, sprich: den Gesetzen des Marktes. Es leuchtet ein, dass Kommentieren von Tag zu Tag, von Nachricht zu Ereignis, von Social-media-Eintrag zu Social-media-Eintrag den mechanischen Anteil an den Stellungnahmen verstärkt. Die Platzhirsche der Szene sind diejenigen, die sich eine Art Monopol auf den ultimativen Kick erarbeitet haben und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die obligaten Untergangsgesänge anzustimmen wissen. Keine Vision klingt da zu düster. Wenn es eine Heuchelei der Affirmativen gibt, die vor jedem Einzelereignis den Ton angibt, dann handelt es sich hier um Gegen-Heuchelei.

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Man kommt schwer von Extrempositionen zurück, ohne sich in den Verdacht der Lächerlichkeit zu begeben. Zum Glück für alle Seiten steht der Begriff des Systems bereit, in dem die Große Krise auf Dauer gestellt und der Untergang angeblich programmiert ist. Abstrus wirkt es, wenn Fußküssende einschlägiger rhetorischer Schulen versuchen, den Systembegriff, dieses unabdingbare Analyseinstrument, als solchen zu verleumden oder gar zu kriminalisieren. Das kann, abseits von Überrumpelungseffekten, nicht gelingen. System bleibt System, gleichgültig, von welcher Seite aus man es betrachtet. Dem freischwingenden Kritizismus erweist es ungeahnte Dienste als Hoffnungsträger jenseits aller Untergangsverdammung und -verdummung: Es gibt ein Leben nach dem System und es wird großartig sein. Vor Gericht sieht es dann wieder anders aus: Systemfeind ist immer der andere. Wie auch immer: In der geläufigen Systemrede darf sich der kritische Kritiker des lästigen Dauerpathos entledigen und zum Alltagsparlando übergehen, ohne den Ernst der Lage zu verraten. Es hat nur einen Nachteil: Es setzt eine hochgradig einvernehmliche Kommunikationspartnerschaft voraus. Das wiederum … bannt ihn fest in den Zirkel derer, die immer und überall schon Bescheid wissen.

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Es bedurfte keiner sonderlichen Anstrengung, in den Tagen des jüngsten israelisch-iranischen Waffengangs derlei simple journalistische Mechanismen am Werk zu sehen. Stars der internationalen alternativen Szene, patentierte Kritiker des ›Westens‹ im Namen einer erlösungsbedürftigen Menschheit, konnten der Versuchung nicht widerstehen und warfen sich in prophetische Posen, die vor allem durch einen radikalen Mangel an Information Eindruck machten: Amerikas Ruin! Untergang des Westens! Israel am Ende! Jeder zeitgenössische Esel hätte einwerfen können, dass dieser Krieg seit Jahrzehnten im Gang ist und immer wieder den gleichen oder analogen Höhepunkten zustrebt. Augenscheinlich wiegen die Gesetze des publizierenden Gewerbes schwerer als jede Erinnerung, die nach Belieben ersatzlos gestrichen und wieder hervorgeholt werden kann. Sie scheinen nicht nur schwerer zu wiegen, sondern auch die öffentliche Moral auf ihrer Seite zu haben. Was nicht bedeutet, dass Gleiches mit gleichen Argumenten erwogen wird.

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Nichts ist parteiischer als öffentliches Moralisieren. Seltsamerweise verwendet kaum jemand in diesem Zusammenhang das Begriffspaar Moral / Antimoral. Es schickt sich nicht, die eine Moral, in wessen Auftrag auch immer sie unterwegs sein mag, in dieser Weise zu zerlegen. Lieber moralisieren die Antimedien gegen alle Moral, als dass sie sich und anderen die Beliebigkeit ihres eigenen Moralisierens eingestehen würden. Die Moral ist ihre Achillesferse und sie wissen es. Sie wissen auch den Grund: Eine Welt ohne Moral wäre nicht lebenswert. Das Problem besteht darin, dass sie, wie alles Unabdingbare, missbraucht werden kann und genau deshalb hemmungslos missbraucht wird – unter welchem ›Label‹ auch immer. Moral und Moralisieren verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser. Nur sicher sein darf man sich dessen im Einzelfall nie. Die Erfahrung lässt sich bereits im Privaten machen.

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Nach dem Motto Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps könnte man das journalistische Gewerbe an dieser Stelle seinen Untiefen überlassen, existierte da nicht noch ein kniffliger Punkt. Russland greift die Ukraine an und steht offiziell am Pranger. Israel greift den Iran an und ›genießt unsere‹ – sprich: des Westens – ›volle Unterstützung‹, ausgenommen sein Regierungschef, dem seit Jahr und Tag ›unser‹ tiefwurzelndes Misstrauen gilt. In beiden Fällen zerlegt sich die Gegenöffentlichkeit – man möchte meinen: mit Lichtgeschwindigkeit – in immer kleinere Sektoren. Halbwegs konstant bleibt nur die Gruppe der Friedensfreunde, was sie über kurz oder lang zum Sündenbock aller qualifiziert. So weit, so normal – doch da nun einmal Israel im Spiel ist, bleibt es nicht dabei und eine andere Art von Raserei nimmt ihren Lauf. Man nennt sie wahlweise ›Antisemitismus‹ oder ›Antizionismus‹, eine dritte Gruppe begnügt sich vornehm mit dem Terminus ›Israelkritik‹. Doch im Zielbereich kommen sie alle zusammen. Israel erhitzt die Gemüter wie kein anderer Staat unter der Sonne.

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Gemessen an seiner Bevölkerungszahl ist Israel das beredete Land. Mögen andere sich die Köpfe blutig schlagen oder mörderische Kriege gegeneinander führen –: alles ist vergessen, sobald dieses Land aktiv wird, sei es gegen blutigen Terror, sei es gegen sich aufbauende Bedrohungen, die, wie jeder weiß, aber nicht jeder jederzeit zu wissen wünscht, letztlich seinem – von den USA und ihren Verbündeten garantierten – Existenzrecht gelten. Darüber, dass es sich bislang überaus erfolgreich gegen seine Feinde in der Region gewehrt hat, stieg David zum Goliath auf – militärisch, aber nicht nur. Bei alledem blieb es der Winzling, der einer Welt von Feinden trotzt, nicht zuletzt durch die Hilfe der USA, denen es seine Entstehung verdankt und deren Interessen es in der Ölregion des Nahen Ostens diskret und tatkräftig durchzusetzen hilft.

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Nichts lockt das urteilende Gemüt stärker an als das Spiel der Disproportionen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen – für die Unterstützer der einen Konfliktpartei enthält diese Phrase eine Drohung, für die der anderen eine Verheißung. Daneben existiert die Fraktion der Abgebrühten, die mit kalter Logik seit Jahr und Tag dasselbe zu sagen wissen, immer dasselbe, mit dem einen entscheidenden Zusatz: Wir wissen nicht den Tag und die Stunde. Israel war und ist das Land der Propheten, vor allem der aus der Ferne Zugeschalteten. Immerhin sind sie es, die mit größter Klarheit aussprechen, worum sich andere nach Kräften drücken: Wer von ›besetzten Gebieten‹ spricht, dem geht es, rein sprachlogisch, um ihre ›Befreiung‹. Und als ›Besatzer‹ kommen nach Lage der Dinge nun einmal – bleibt man in dieser ›Logik‹ befangen – bloß die Angehörigen des Staatsvolks in Frage: eine ethno-religiöse Markierung, die hierzulande, handelte es sich um andere Zielgruppen, auszusprechen bereits als ›verfassungsfeindlich‹ gälte.

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Der Antisemitismus ist eine Konstante der modernen Welt. Das ideologische Feuer, das Israel seit seiner Gründung als ›Heimstatt der Juden‹ auf sich zieht, erhält durch seine Selbstbehauptungstaten wie durch seinen hartnäckigen Expansionismus immer wieder Munition. Man muss dem Dauergerede nicht in alle Spitzfindigkeiten folgen, um zu erkennen, dass der Antisemitismus – der ›antijüdische Reflex‹ – die treibende Kraft hinter alledem ist. Israel, das wird bei vielen Gelegenheiten sichtbar, steht, so will es die israelische Staatsräson selbst, als pars pro toto für ›die Juden‹. Entsprechend stehen ›die Juden‹ in aller Welt, oft genug physisch, als Zielscheibe für Israel. Wer’s nicht sieht, der will es einfach nicht sehen. Es gibt viele Theorien – oder Theoriesplitter –, die einen Zusammenhang zwischen den Klischees des Judentums und der westlichen Moderne behaupten und ihn mit ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen oder religiösen Gründen untermauern. Gleichgültig, ob sie plausibel oder abstrus daherkommen, eines ist ihnen gemeinsam: Sie sind Teil der Welt, in der sie zirkulieren und ihre Wirksamkeit entfalten. Insofern sind sie real und tragen das ihre zum Fortbestand der Klischees bei.

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Diesseits der Aufmerksamkeitsschwelle lassen sich sprechende und besprochene Weltregionen unterscheiden. Eindeutig zählt der Nahe Osten und in ihm Israel zu letzteren, unbesehen der Tatsache, dass vermutlich nirgendwo auf dem Planeten, von Welt-Metropolen wie New York einmal abgesehen, eine ähnliche Meinungsdichte auf so kleinem Raum erreicht wird. Doch darum geht es nicht. Akteure wie die Vereinigten Staaten, die groß und stark genug sind, um für sich zu sprechen, sind zwar in aller Munde und blinden Fanatikern gelten sie immer wieder gern als Horte des Bösen. Entscheidend bei alledem bleibt aber die Sprache, die sie führen, entscheidend das Handeln, mit dem sie sich ins planetarische Gespräch bringen. Für die besprochene Welt gelten andere Regeln. Hier geht es um essentielle (und essentialistische) Zuschreibungen, um Reflexe, die beim geringsten (oder ganz ohne) Anlass ihr Werk in den Köpfen und oft genug auf der Straße und in den Kabinetten verrichten, um ›Besorgtheiten‹, die weit über jeden konkreten Anlass hinaus die Region und ihre Akteure im Ganzen umfassen, und schließlich, seltsamste aller Kategorien, um das große Wir, das sich all dieser Themenkomplexe bemächtigt und unentwegt ›Lösungsstrategien‹ entwickelt, gleichgültig, wie in der Region selbst, aus der Öl und Gas noch immer alternativlos in alle Welt strömen, darüber gedacht wird und welche Probleme dort nach Meinung ihrer Bewohner gerade zur Lösung anstehen.

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Die besprochene Welt bietet, wie es scheint, Verfügungsräume für raumfremde Akteure und ihre Weltordnungsphantasien. Im Sonderfall Israel beschränkt sich Kompetenz nicht auf die Handlungsträger. Der Fall Israel ist ein Fall für jedermann und Israel-Kompetenz scheint weder an Macht und Einfluss noch an Sachkenntnis gebunden zu sein. Das gilt nicht bloß, wie der Normalfall geböte, für die israelische Bevölkerung, sondern unvermindert quer durch die Glaubenswelt des Nahen Ostens wie die des ›säkularen‹ Westens. Jedermann weiß sich aufgefordert, nicht nur seinen Senf dazuzugeben, sobald es um Israel geht, sondern zu jeder Zeit und aus jedem Anlass tiefen und fest gegründeten Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, in deren Zentrum besagtes Wir steht, das weiß, wie die Angelegenheiten jenes Landes zu ordnen sind, und das über nicht weniger als Raumordnungsvorstellungen für die gesamte Region Palästina und darüber hinaus in der Tasche trägt. Es ist aber nicht nur ein wissendes, es ist ein gefühlt handelndes Wir, das sich selbst da ausspricht, wo sein Handlungsraum nicht über den Gesprächsrand und die Wohlfühlsituation des Expertenaustausches hinausreicht.

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Betrachtet man die besprochene Welt auf der Landkarte, dann findet sie sich vorzugsweise in Gebieten, in denen westliche Siegerstaaten sich nach dem Ersten Weltkrieg Denkmäler durch Grenzziehungen gesetzt haben, deren gemeinsames Ziel offenkundig darin bestand, multiethnische Verwaltungseinheiten zu schaffen, deren Kohäsionskräfte möglichst gering bleiben sollten, mit endlosen Grenzstreitigkeiten im Gefolge und der Schaffung ganz spezieller Probleme für die Verliererstaaten (wie der sogenannten Kurdenfrage). Der nach dem Zweiten Weltkrieg hinzugekommene Sonderfall Israels sticht aus diesem Muster hervor, weil er einer Region mit ausgeprägten, aber machtpolitisch gelähmten Identitäten den gemeinsamen Feind und damit einen identitätsstiftenden Sündenbock lieferte, an dem sich jederzeit der Stand der eigenen Schwäche (und künftig zu gewinnender Stärke) ablesen ließ. Wenn das iranische Atomprogramm im Westen von Anfang an mit der Gefahr assoziiert wurde, einen Weltbrand zu entfachen, dann hat das, strukturell gesehen, weniger mit Israels Vernichtungsängsten zu schaffen als damit, dass, sofern der technologische Sprung gelingt, mit dem lange Zeit konservierten, Macht und Ohnmacht kunstvoll kombinierenden Image der islamischen Staaten die ohnehin löchrige Deutungshoheit des Westens über die Region vollends zusammenbricht.

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Paradoxerweise fesselt die prätendierte, nur im Kampf mit Israel aufzuhebende Ohnmacht der Golfregion den hochgerüsteten Kleinstaat Israel an den Westen, sprich: an die Garantiemacht USA. Als kostenlose Dreingabe stellt es damit sein Schicksal in der beredeten Welt jedem Glossisten und Westentaschenstrategen im nahen und fernen Westen anheim. Das gäbe zwar, für sich genommen, keinerlei Anlass für westlichen Antisemitismus. Aber es wäre ein Wunder, wenn das in Jahrzehnten unter dem Eindruck politisch-militärischer Dynamik entfaltete Pro und Kontra sich nicht potentiell massenwirksam mit den Stereotypen des Anti- und Philosemitismus angereichert hätte, auch wenn das immer wieder wütend bestritten wird. Ins Wanken geriet die dünne Fassade aus Anstand und ritueller Entrüstung über böse Unterstellungen mit der islamischen Massenmigration nach West- und Zentraleuropa, und sie wankt weiter mächtig. Insbesondere die Deutschen stellt die generationenübergreifende Verantwortung für Israel seit einiger Zeit vor unlösbare psychologisch-soziale Probleme. Doch kaum anders gestaltet sich die Lage in England und Frankreich. Da trifft es sich, wenngleich ungut, dass die verantwortliche Politik sich aus der intellektuellen Sphäre weitgehend zurückgezogen hat. Die Melange aus wortreich übernommener Verantwortung und vollendetem Unwillen der politischen Klasse, daraus fällige Konsequenzen zu ziehen, lässt in einem bestürzend rapide wachsenden Teil der Gesellschaft den ›antijüdischen Reflex‹ und die ›erlaubt sein müssende‹ Israelkritik nolens volens zu einem einzigen Hasskomplex zusammenwachsen.

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Im Zuständigkeitskomplex der Europäer für Israel steckt der ›antijüdische Reflex‹ schon deshalb, weil er auf eine stille und dauerhafte Entmündigung hin angelegt ist, mit welcher der Klient beim besten Willen nichts anzufangen weiß. Ritueller Hohn aus den üblichen Israel-affinen ›Kreisen‹ über die Ahnungs- und Einflusslosigkeit der Europäer scheint geradezu darauf abzuzielen, ihn zu schüren. Dafür gäbe es durchaus eigensüchtige Motive, die mehr mit dem Verhältnis USA-Israel zu tun haben als mit Europa als solchem. Ein sich gekränkt gebender Staat produziert gekränkte Kritiker. Es gibt einen Antisemitismus der gekränkten Israelfreunde, der sich kaum weniger giftig äußert als der Chor der unverhohlenen Feinde. Das ist außerhalb Europas nicht anders als hierzulande. Nur die Gewichte sortieren sich anders. In einer Zeit, in der kulturell gedüngter Hass auf ›den Westen‹ weltweit Zulauf erhält, zieht der Staat Israel als stilisierter Außenposten der westlichen Welt stellvertretend eine Wut auf sich, die – obwohl all diese Komponenten in ihr mitschwingen – weder religiös noch rassistisch noch machtpolitisch geprägt ist. Es hat sich herumgesprochen, dass der Westen, insbesondere Europa, einst Ideengeber der Welt, zur geistigen Wüste verkommen ist. Erschreckender noch als der Verlust an Geistigkeit ist die Ahnungslosigkeit, die ihn konstant begleitet. Über die Gründe des Verlustes lässt sich streiten. Es ist nicht der Mangel an Intellekt, es ist ein Mangel im Intellekt, der sich hier bemerkbar macht. Man muss nicht besonders schlau sein, um den Selbstzerstörungsprozess zu bemerken. Israel, der Gottesstaat mit dem vibrierenden Alltagsleben einer liberal-modernen Säkulargesellschaft, repräsentiert eine Verbindung, die dem größeren Westen offensichtlich verlorengegangen ist. Als Außenposten betrachtet, dient es aus der Perspektive der anderen der westlichen ›Lüge‹, als nationalreligiöse Festung hält es an einer archaischen Verheißung fest, die den postmodernen Fundamentalismen als nicht anschlussfähig gilt und sich von Glaubenskriegern bedrängt sieht, die sich im Kern nicht verständigen wollen. Nicht bloß Journalisten zeigen sich in dieser Konstellation überfordert.

 

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