von Ulrich Schödlbauer
Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen ... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er unwillkürlich, liegt alles bereit, was je überliefert wurde, sofern nicht gewaltsame Ereignisse die Überlieferungskette sprengten. Und selbst dann – selbst an solchen Stellen, angesichts rauchender oder erkalteter Trümmer-Enden, kann der nimmermüde Geist nicht anders, er muss so denken: Rekonstruktion ist möglich, sie muss möglich sein, sie ist schon im Gange, wenn das Bedauern begann.
So sehr ist Denken Herstellung von Zusammenhängen, Sich-Bewegen in Zusammenhängen, dass Zusammenhanglosigkeit nur postuliert, nicht ›festgestellt‹ werden kann. Wo einer sie konstatiert, ist der Zusammenhang schon unterwegs. »Wir kennen die Zusammenhänge nicht« bedeutet: wir nicht, andere schon, wir können sie gegenwärtig nur nicht befragen. Was nicht so schlimm ist, denn wir können uns unseren Teil denken, wir haben ihn auch bereits gedacht und damit das Wesentliche vorweggenommen. Wen juckt das Vergangene außerhalb der allgegenwärtigen Diskurse? Die Frage beantwortet sich von selbst, sie ist längst beantwortet, bedenkt man, dass niemand sich die Mühe macht, sie zu stellen.
Kulturwissenschaftler wissen (oder behaupten zu wissen), dass auch Kulturen vergessen, dass sie immerfort vergessen, mit einem Elan und mit einer Konsequenz, die ihre Art des Vergessens ›strategisch bedeutsam‹ erscheinen lässt. Doch diese allzu theoretische Einsicht ist bereits wieder vergessen, sobald sie sich an die Arbeit begeben und das Kulturwesen Mensch daran erinnern, was es einmal darstellte – just darin besteht schließlich der Sinn und die Arbeit aller Kultur. Wie wir wurden, was wir sind: das ist wichtig, das ist bewahrenswert, das muss memoriert werden. Ich armes Würstchen hingegen, das sich kaum von Tag zu Tag rettet, habe bereits wieder vergessen, was zu bewahren mir gestern dringlich erschien, ganz zu schweigen von dem Brief ans Finanzamt, der jetzt verspätet eintreffen wird, weil ich vergessen hatte, ihn rechtzeitig einzuwerfen. Das Finanzamt vergisst nichts, zum Glück, denn es ist Teil der Kultur. Ich hingegen bin kein Teil der Kultur. Seltsamerweise ist die Kultur ein Teil von mir, ich könnte sie komplett vergessen und würde nichts vermissen, ich hätte das Vergessen vergessen und fühlte mich frei in allem. Aber frei in allem sein: ist das nicht auch Kultur? Ist das nicht geradezu eine Definition von Kultur? So erneuert sich die Kultur in mir: durch Vergessen. Und, seltsam, seltsam – sie kann es. Die selbstvergessene Kultur: das muss wohl die meine sein. Lethe schreckt, aber nicht unbedingt.