von Heinz Theisen

Henry Kissinger sieht den Westen heute am Rande eines Krieges mit Russland und China über Themen, die wir teilweise selbst geschaffen haben, ohne eine Vorstellung davon, wie das überhaupt enden wird oder wohin es führen soll. Alles, was man tun könne, sei, die Spannungen nicht zu verstärken und Optionen zu schaffen, aber dafür müsse ein bestimmtes Ziel vorhanden sein.

Ein solches Ziel könnte eine multipolare Weltordnung sein, die nach dem Scheitern des westlichen Universalismus und des Globalismus die Machtpole USA, China, Russland, Indien und gegebenenfalls Europäische Union sich gegenseitig begrenzen und in ihren Einflusssphären anerkennen würde.

Auf westlicher Seite ist dafür zunächst mehr Einsicht in die Grenzen seiner weltpolitischen Macht und Möglichkeiten gefordert. Der Westen könnte seine künftige Selbstbehauptung vor allem aus seiner Anpassung an die Grenzen seiner Möglichkeiten gewinnen. Auf diese Weise würde er sich zugleich in eine multipolare Weltordnung einfügen.

Eine multipolare Ordnung schon innerhalb Europas durch voneinander abgegrenzten west-östlichen Machtpolen hätte etwa im Rahmen einer Nato-Russland-Sicherheitspartnerschaft den Krieg in der Ukraine vermeiden helfen. Die Rede, dass Russland mit seinem Angriffskrieg die europäische Friedensordnung zerstört habe, übersieht, dass es keine Friedensordnung zwischen Russland und der Nato gegeben hat.

Eine multipolare Weltordnung wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die mächtigsten Player ihre Einflusssphären in Analogie zu den Ergebnissen des Wiener Kongresses von 1815 gegenseitig respektieren. Auf ihm haben die europäischen Großmächte ihre Sphären in Europa aufgeteilt. Diese Ordnung hatte trotz einzelner Kriege im Kern ein Jahrhundert Bestand.

Hinsichtlich ungeklärter Räume zwischen den Mächten wären neutrale Zonen anzuerkennen, die sich von den um Einfluss ringenden Machtpolen Rosinen herauspicken. Serbien sieht sich als ›Osten im Westen‹ oder umgekehrt als ›Westen im Osten‹ und nutzt seine Vier-Pfeiler Außenpolitik (EU, USA, Russland, China) dazu, seine eigene Rolle zu definieren - und dies wäre auch die Rolle der Ukraine gewesen.

Einer multipolaren Weltordnung stehen die ungeklärten Zugehörigkeiten der Ukraine und Taiwans entgegen. In beiden Fällen winkt kein Siegfrieden, sondern drohen Weltkriege. Für eine Neutralität der Ukraine als Pufferzone hätte es das Vorbild der Finnlandisierung gegeben: die militärische Neutralität wäre mit wirtschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Zuordnung zum Westen vereinbar gewesen.

Die Entneutralisierung der Ukraine durch die Nato

Mit der selbstverständlichen Verurteilung Russlands wird die unheilvolle Rolle der Nato in der zuvor neutralen Ukraine und generell die Wandlung der Nato von einem Defensiv- zu einem Offensivbündnis zu oft unterschlagen. In dem Maße, in dem die Nato sich nicht mehr nur als Verteidigungsbündnis der westlichen Welt verstand, verstrickte sie sich in fremde Kulturkreise. Die tiefere Ursache für diese Überdehnung liegt in der Verleugnung kultureller Grenzen.

Die Nato-Osterweiterung umgriff 14 Staaten Ost- und Südosteuropas, die meisten davon hatten früher zum Warschauer Pakt gehört. Die Ukraine ist seit 2020 einer der sechs Partnerstaaten, die zwar keine Mitglieder sind, aber Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Dazu zählen auch Finnland und Schweden. Neben den 30 Mitgliedsländern gibt es noch 21 ›Nato-Partnerländer‹. Durch die Ausweitung der Nato-Aktivitäten in den Mittelmeerraum, den Mittleren Osten und nach Asien ist eine Partnerschaftsindustrie entstanden, die eine fast unüberschaubare Zahl an Foren, Räten und Gruppen nach sich gezogen hat.

Die Ukraine wäre aufgrund ihrer inneren Spaltung in westchristliche Konfessionen in der West-Ukraine und russisch-orthodoxes Christentum in der Ost-Ukraine für eine neutrale Rolle zwischen den geistigen und politischen Mächten prädestiniert gewesen.

Angesichts der kulturellen Spaltung in der Ukraine wäre ihre Föderalisierung und maximale Autonomie ethnisch-kultureller Minderheiten wie vor allem der Russen, aber auch der Ungarn im Westen der Ukraine geboten gewesen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker kann nicht nur für Staatsvölker gelten und gegen Kulturvölker ausgespielt werden, wie dies im ukrainischen Nationalismus geschieht.

Das Drängen vor allem der Nato, der EU und zahlloser westlicher NGOs auf eine Übernahme der bis dahin bewusst neutral gebliebenen Ukraine in das westliche Lager untergrub die Neutralität der Ukraine. Die Ukraine ist von der Nato in eine Falle gelockt worden. Auf der Bukarester Nato-Konferenz von 2008 wurde Georgien und der Ukraine der künftige Beitritt zugesagt. Mit diesem Beitrittsversprechen und den folgenden Annäherungen der EU wurde die Ukraine nach Westen gezogen. Einerseits lockte die Nato sie aus ihrer geopolitisch gebotenen Neutralität heraus, andererseits gewährte sie der Ukraine mit diesem bloßen Versprechen keinen wirklichen Schutz.

Russland empfindet sich, durch seine geschichtlichen Erfahrungen und seine geographische Lage zwischen China und dem Westen als potentiell eingekreist. Dabei handelt es sich zumindest um eine psychologische Tatsache. Gefühle sind in der Politik Realitäten. Russlands aggressives Vorrücken in Georgien und 2022 in der Ukraine verstärkt wiederum die begründeten Ängste der Balten und Polen und leitet mit dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands zu einer neuen Eindämmungspolitik über.

Mit ihrer Haltung zu Russland haben die EU und die Nato-Staaten zunächst zu unerwarteter Einigkeit unter der Führung der USA gefunden. Im Kalkül jedenfalls der amerikanischen Regierung – und der globalistischen Außenministerin Baerbock – soll Russland ruiniert und als Konkurrent und Gegner ausgeschaltet werden.

Die unmoralische Geopolitik der Großmächte

Schon mit der abrupten Abwendung Chinas vom freien Welthandel, aber spätestens durch den ruchlosen Angriffskrieg Russlands sind Hoffnungen auf eine globale, regelbasierte, wertegestützte und normgetriebene Weltordnung zerstört worden. Die Neuordnung der Welt wird auf geographische und geokulturelle Zusammenhänge stärker Rücksicht nehmen müssen.

Gemäß der universellen Werte des Westens gelten Einflusssphären als völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch – allein, weder Russland noch China teilen diese Werte. Wie auch die islamische Welt sehen sie im Universalismus des Westens den Anspruch, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten, was nach dem islamischen Fundamentalismus auch den chinesischen und russischen Nationalismus mit hervorgetrieben hat.

Geopolitik gilt in Deutschland auch deshalb als unkorrekt, weil sie es mit Realitäten zu tun hat. Sie ist jedoch von jeher die wichtigste Grundlage der Großmächtepolitik. Das Völkerrecht gilt faktisch nicht für die Großmächte, weil diese es im UN-Sicherheitsrat jederzeit aushebeln können. Die US/Nato-Kriege der letzten Jahrzehnte, ob in Serbien, Afghanistan, im Irak, in Syrien oder Libyen waren klare Völkerrechtsverstöße.

Mit der Ausklammerung geopolitischer Überlegungen läuft eine moralische Argumentation auf eine einseitige Verurteilung Russlands hinaus. Damit wird die gesamte Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung bis an die Tore Russlands ausgeblendet. In der Logik dieser Moral liegen maximale Waffenhilfen für die Ukraine und maximale Sanktionen gegenüber Russland.

Die Ausblendung geopolitischer Kategorien übersieht die Risiken für die wirtschaftliche Stabilität Europas, für eine Selbstisolierung des Westens und vor allem das Risiko einer militärischen Eskalation, welches sich gerade aus einem erfolgreichen Kriegsverlauf für die Ukraine ergibt.

Einen Endsieg der Ukraine mögen wir uns im Herzen wünschen, aber mit dem Verstand können wir ihn nicht wollen. Russland ist die zweitstärkste Atommacht der Welt und je erbärmlicher und erfolgloser die konventionelle russische Kriegsführung wütet, desto größer wird die Gefahr taktischer Atomschläge auf die Ukraine. Die derzeitigen Erfolge der Ukraine in der Rückeroberung ihrer Landesteilen sollten in gemäßigte Verhandlungserfolge übergeleitet werden.

Die moralische Eindeutigkeit gilt zudem erst vom 24. Februar 2022 an. Im Kontext der vorangegangenen Ereignisse steigt das Zwielicht. Seit 2014 wütet ein Krieg im Donbass, in dem Ukrainer gegen Ukrainer kämpften und in dem etwa 14000 Menschen getötet wurden. Die wirtschaftlichen Blockaden sollten unter Missachtung des Minsker Abkommens das öffentliche Leben zerstören.

Aus der geopolitischen Perspektive wird die Konfrontation zwischen den USA und Russland um Einflusssphären ersichtlich. Der Krieg – wie immer er ausgeht – hat Russland aus dem europäischen Haus entfernt und das Imperium der USA in die Ukraine hinein erweitert. Die USA können sich nach einem Ruin Russlands auf die bipolare Konfrontation mit China konzentrieren und haben zudem die wirtschaftliche Konkurrenz der Europäer geschwächt.

Russland steht vor einem moralischen und militärischen, die Welt vor einem geopolitischen Scherbenhaufen. Die Sanktionspolitik wurde zum geopolitischen Desaster für den Westen. Selbst verbündete Mächte wie die Türkei und als befreundet geltende Mächte wie Indien, Südamerika und die arabischen Staaten beteiligen sich nicht an den Sanktionen. Die südostasiatischen Staaten verurteilten nicht einmal den russischen Angriff auf die Ukraine.

Indien will sich nicht auf die Seite des Westens schlagen, sondern seine eigene Haltung haben und keine Meinung diktiert bekommen. Die amerikanischen Interventionen, hätten – Pavan K. Varma – dem Westen das moralische Alleinvertretungsrecht in der Weltpolitik geraubt. Saudi-Arabien knüpft unterdessen engere Bande zur Volksrepublik China, weil es den moralischen Ansprüchen der USA nicht gerecht werden will. Der westliche Moralismus trägt zu seiner globalen Schwächung bei.

Alternativen: Staatenchaos und bipolare Weltordnung

Das Fehlen jeder Ordnung ist oft schlimmer als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im eurasischen Raum auf den Plan rufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern. Der Kampf um den Einfluss auf die neuen eurasischen Staaten würde die bipolare Konkurrenz zwischen China und den USA und der neue Nationalismen zwischen den Staaten Nullsummenspiele befeuern. Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei oder Aserbaidschan ungeniert eine revisionistische Politik, da ihnen die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte und auch Russland keine Grenzen mehr setzen.

Der neuerliche Angriff Aserbaidschans auf Armenien ist eine direkte Folge des Ukrainekrieges. Russland fällt durch den Krieg in der Ukraine als Schutzmacht Armeniens weitgehend aus und die Staaten der EU meinten, aus dem Kriegsstaat Aserbaidschan mit besserem Gewissen Öl und Gas beziehen zu können als von Russland.

Im Nahen und Mittleren Osten sind die Folgen des Staatenchaos seit einhundert Jahren gegeben. Die dort nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstandenen Staaten sind seitdem nach innen und außen fragil und in endlose Konflikte und Kämpfe verstrickt.

Die Offensiven der Türkei, die selbst gegen den Nato-Partner Griechenland angedroht werden, unterstreichen die Notwendigkeit einer geokulturell gestützten Multipolarität. Wenn die Türkei nicht mehr der Nato angehören würde, wären die Grenzen Griechenlands eindeutiger vor der Türkei geschützt. Auch die schändliche Zwischenhändlerrolle, die die Türkei in der Migrationspolitik gegenüber Europa spielt, ist Ausdruck mangelnder Solidarität und Zugehörigkeit. Eine klarere Abgrenzung von EU und Nato gegenüber der Türkei würde der Selbstbehauptung des Westens dienen.

Eine von den Sanktionen ausgelöste Wirtschaftskrise schädigt bisher sowohl Russland als auch die westlichen Staaten Europas. Dies begünstigt die Heraufkunft einer bipolaren Welt, in der nur noch die USA und China um die Hegemonie ringen und in der sowohl Russland als auch die Europäische Union zu angehängten oder sogar abgehängten Randzonen Chinas und der USA verkommen.

Im bipolaren Konflikt droht die sogenannte Thukydides-Falle. Demnach prallen aufstrebende und etablierte Mächte zusammen: wie zwischen Athen und Sparta oder zwischen Großbritannien und Deutschland im Ersten Weltkrieg. Die Flottenpolitik des Kaiserreichs sollte Deutschland aus der britischen Umklammerung befreien und mehr Zugang zu Rohstoffen gewähren. Dies schürte in Großbritannien Ängste vor der Konkurrenz und trug zum Kriegseintritt Großbritanniens bei.

China fühlt sich von Südkorea über Japan, Taiwan und die Philippinen bis nach Indonesien vom globalen Westen eingekreist. Chinas Dominanzgebaren im Südchinesischen Meer dient dem Versuch, sich aus dieser Einkreisung zu befreien. Taiwan soll nicht nur aus nationalistischen Motiven integriert werden. Mit der Einnahme der Insel will China zugleich die Einflusssphäre der USA in Asien zurückdrängen.

Chinas Geschichte und Kultur, seine Traditionen sowie seine Größe und wirtschaftliche Dynamik treiben es dazu, eine hegemoniale Stellung in Ost-Asien anzustreben und mit den Seidenstraßen weltweiten Einfluss zu erringen. Frühere Großmächte wie Großbritannien und Frankreich, Deutschland und Japan, später dann USA und Sowjetunion haben gleichzeitig mit oder nach ihrer Industrialisierung und ihrem wirtschaftlichen Aufschwung ebenfalls eine imperialistische Politik betrieben.

Die USA verfolgten in ihrer Chinapolitik bewusst strategische Zweideutigkeit. Sie anerkennen Taiwan nicht als Staat, sagen der Regierung aber militärische Unterstützung zu. Im Sinne einer Neutralitätspolitik wurde die Pekinger Ein-China Politik zwar von den USA akzeptiert, aber mit Beistandsversprechen an Taiwan flankiert. Die USA stimmten der Formel ›Ein Land – zwei Systeme‹ zu. Kissinger soll auf chinesische Ansprüche auf Taiwan geantwortet haben. ›Wir erkennen an, das ihr das so seht.‹ Unklarer geht es nicht. Wo unklare Grenzen vorherrschen, müssen sie im Rahmen einer ausdifferenzierten Neutralität unklar bleiben und idealerweise von den angrenzenden Machtpolen garantiert und ausgestaltet werden.

Auf diese Weise ist bisher die Unabhängigkeit Taiwans gewahrt und gleichzeitig ein Krieg verhindert worden. Diese Strategie ist klüger als die Besuchsbekundungen einer Nancy Pelosi, die mit ihrem Besuch Taiwans nicht weniger als den Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus bestärken wollte.

Die Eindämmungspolitik des einen ist die Einkreisungsangst des anderen. Aggressive Ausbruchsversuche aus der Eindämmung gelten wiederum als Beleg für die Notwendigkeit weiterer Eindämmung und diese wiederum als Notwendigkeit für Ausbruchsversuche. Eine solch tragische Dialektik lag bereits vielen Kriegen zugrunde. Sie hätte nur von Staatsmännern durchbrochen werden können, die diese Dialektik durchschauen und auf höheren Ebenen wie einer gesamteuropäischen Friedensordnung aufzuheben verstehen.

Neutralität durch Ausdifferenzierung von Einflusssphären

Falls sich die Europäer auch in handelspolitische Konflikte mit China verstricken lassen, wird das Zeitalter der Globalisierung endgültig zu Ende gehen. Damit drohen die komparativen Kostenvorteile im Freihandel zerstört zu werden und stattdessen werden neue Nullsummenspiele entstehen.

Die ›Finnlandisierung‹ schien bis in die Nuller Jahre der Weg der Ukraine zu sein. Es wäre eine mögliche Lösung gewesen, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim Russland zu überlassen.

Eine differenzierte Neutralität bedeutet u.a. auch, dass sich militärische Neutralität mit der politischen Zuordnung zu einem Lager verbinden lässt. Auf diese Weise stünde der Ukraine der Weg in die EU, aber nicht in die Nato offen. Nach der Zerstörung der ukrainischen Neutralität durch beide Großmächte bleibt nur noch der Aufbau klar gezogener Grenzen, zur Not auch durch eine Teilung des Landes. Solche Teilungen hatten geholfen, die Jugoslawienkriege zu beenden. So wie Zypern entlang seiner kulturellen und nationalen Ethnien geteilt werden musste, wird dies auch in der Ukraine zur Beendigung des Krieges geschehen müssen.

Die Schweiz vermochte ihre Multinationalität einerseits durch Föderalisierung nach innen und andererseits durch politische Neutralität gegenüber den sie umgebenden konkurrierenden Großmächten zu sichern. Hätten sich etwa die Deutschschweizer zu sehr nach Deutschland hin orientiert, wären die Romanen aus der Eidgenossenschaft ausgeschieden und die Nationen der Schweiz unter den angrenzenden Mächten aufgeteilt worden.

Differenzierte Sanktionen

In vielen Kriegen war es durchaus üblich, die Handelsbeziehungen zwischen den Kontrahenten fortzuführen. Auch in der Russlandpolitik wäre eine solche Ausdifferenzierung der Funktionssysteme geboten gewesen. Ein Beispiel dafür bietet Ungarn, welches den russischen Überfall verurteilt, aber sich dennoch nicht an den Energie-Sanktionen der EU beteiligt, weil dies dem eigenen Land Schaden zufügen würde.

Hans Werner Sinn unterscheidet zwei Typen von Sanktionen. Die eine Sanktion, von den USA betrieben und von Europa unterstützt, vorenthält den Russen das Geld, das sie früher durch den Export von Ressourcen verdient haben. Die Devisenbestände der Russen bei den westlichen Zentralbanken zu konfiszieren bedeute, die Zahlungen für bereits geliefertes Gas im Nachhinein zurückzurufen. Das macht den Westen reicher und die Russen ärmer. Der andere Typ von Sanktion ist, kein neues russisches Gas mehr zu kaufen.

Damit schädigen wir zwar auch die Russen ein bisschen – aber vor allem uns selbst. Die Pipeline ›Power of Siberia‹ liefert schon Gas nach China, eine neue Leitung, ›Power of Siberia II‹, die den westlichen Teil des Leitungsnetzes der Russen mit Peking verbindet, ist schon vereinbart. Die darüber fließenden Gasmengen kann Russland China auf Kredit verpfänden. Die Embargopolitik treibt Russland in die Arme Chinas und stärkt gerade dasjenige Land, welches die USA in Zukunft am meisten fürchten müssen.

Gleichgewicht, Koexistenz und Eindämmung in einer multipolaren Ordnung

Die Zeit der Universalisierungsansprüche, die der Kommunismus, der liberale Imperialismus und der revolutionäre Islamismus erhoben haben oder noch erheben, sollte in einer multipolaren Ordnung zur Abgrenzung und Koexistenz der Kulturen und Mächte übergehen. Die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich von Wissenschaft, Technik und Ökonomie würden durch die Neutralisierung der politischen Beziehungen vergrößert.

In einer multipolaren Weltordnung müssen die jeweils eigenen Werte begrenzt und behauptet und zugleich globale Gefahren gemeinsam angegangen werden. In der Energie- und Klimapolitik fordern die Interdependenzen zugleich eine Koexistenz der Kulturen und Mächte und wissenschaftlich-technische Kooperation. Das Funktionssystem Ökonomie erfordert gleichzeitig Konkurrenz und Kooperation.

Globalisten wähnten sich durch eine allseitige Integration und interkulturelles Miteinander auf dem richtigen Weg. In der Realität sind Kulturen verschieden, ihre Werte und Interessen oft gegensätzlich. Auch zwischen ihnen werden Gleichgewicht, Koexistenz und Eindämmung bedeutsam.

Die Selbstbehauptung der Mächte und Kulturen würde nicht mehr in stetiger Ausdehnung noch in der Universalität einer Ordnung, sondern in der gegenseitigen Selbstbegrenzung liegen. Multipolarität ginge mit einer Anerkennung der Multikulturalität einher.

Die Stabilität der Weltordnung erfordert eine gemeinsame Eindämmungspolitik der Großmächte gegenüber revolutionären Ansprüchen wie denen des Islamismus. Im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien deutete sich dies an.

Ein weiteres zartes Pflänzchen der Multipolarität deutet sich im Abraham-Abkommen zwischen Israel und Teilen der arabischen Welt an. In ihm wird der ethnisch-religiöse Kulturalismus zugunsten zivilisatorischer Ziele relativiert. Einstige Feinde wie arabische Staaten und Israel streben den gemeinsamen Kampf um zivilisatorische Existenzbedingungen an – Wasser, Handel, Tourismus, Investitionen.

In einer multipolaren Ordnung fände sich kein Gleichgewicht im Sinne eines harmonischen Regenbogens. Das Gleichgewicht wird immer von neuem bewacht und erkämpft werden und insbesondere gegenüber Diktaturen mit Eindämmung einhergehen müssen. Diktatoren pflegen Verträge nur so lange einzuhalten, wie sie ihnen nutzen.

Eine Gleichgewichtspolitik zwischen den Mächten erfordert Neutralität gegenüber ihren Kulturen und politischen Strukturen, wodurch Ansprüche auf die Alleingültigkeit der Demokratie – anders als in einer wertegebundenen Außenpolitik – dem Ziel einer stabilen Weltordnung untergeordnet bleiben.

Ein zweiter Wiener Kongress

Der Wiener Kongress von 1815 ist das gelungenste Beispiel für eine Politik des Gleichgewichts. Nach der napoleonischen Universalherrschaft in Europa ordneten die europäischen Imperien ihre Mächtekonstellation neu.

Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 verzichteten die Staaten darauf, gerechte Kriege zu führen. Der Feind galt nun nicht mehr als ungerecht, sondern als ein Konkurrent, der zum Krieg als letztes Mittel griff. Auch gegenüber Napoleon kamen seine Gegner nicht auf die Idee, ihn einen Verbrecher, Mörder oder Schlächter zu nennen, obwohl alle von ihm ausgenutzt und ausgeplündert worden waren. Fürst Metternich und der Russische Kaiser Alexander I bewiesen noch 1813/14 eine erstaunliche Geduld mit ihm, weil ihnen ein gezähmtes, auf Frankreich beschränktes Kaisertum für den Frieden in Europa verheißungsvoller schien als die Restauration der Bourbonen.

Frankreich wurde nicht als Reich des Bösen dämonisiert. Sie überließen es den Franzosen, ihre inneren Entscheidungen zu treffen und beteiligten diese Großmacht, die eine bleiben sollte, an den Friedensverhandlungen.

Die fünf europäischen Großmächte verstanden sich auf der Grundlage des Wiener Friedens als eine Art Sicherheitsrat, der beratend und korrigierend eingreift, sobald sich Krisen andeuten. Für das Konzert der Mächte gab es viele neue Bezeichnungen, um eine vorher ungewohnte Organisation Europas durch die Herrschaft der Pentarchie der fünf Großmächte näher zu bestimmen: Konföderation, Kooperation der Großmächte, Union, europäische Liga.

Die Wiener Ordnung hielt bis 1914 und hat in Europa ein Jahrhundert lang zur Stabilität beigetragen. Der Erste Weltkrieg wurde dagegen als Kultur- und Ideologiekampf geführt. In Versailles wurde nicht mit dem Feind verhandelt und keine Grundlage für einen dauerhaften Frieden gelegt.

Henry Kissinger, der über Metternich promoviert hatte, knüpfte in der Zeit des Kalten Krieges an das Gleichgewichtsmodell des Westfälischen Systems und des Wiener Kongresses an. Die fragile sicherheitspolitische Lage wurde durch eine Anerkennung der Legitimität Moskaus und Pekings stabilisiert. In den nachfolgenden Regierungen traten dagegen wieder universalistische Motive in den Vordergrund.

Europas Selbstbehauptung in einer multipolaren Welt

Die Interventionen von USA/Nato ziehen seit Jahrzehnten – von Vietnam bis Afghanistan – Niederlagen nach sich, ohne dass dies zu der Einsicht in eine notwendige Selbstbegrenzung geführt hätte. Die Kehrseite der universalistischen Selbstgewissheit liegt in der narzisstischen Unfähigkeit, alternative Informationen aufzunehmen, sei es die anderer Völker und Kulturen oder der Kritiker im eigenen Lager.

Nach dem als definitiv erscheinenden Scheitern des westlichen Universalismus in Afghanistan folgten aber keine Einsichten in die Grenzen des Westens, sondern kam es zu einer Flucht nach vorn in den Globalismus, der gar keine Kulturen und Nationen mehr kennt, sondern nur noch ›die Menschheit‹ und die ›Eine-Welt‹, womit nicht weniger als die Unterscheidungen zwischen Freunden, Feinden und Gegnern verloren gingen.

Über dem Ukraine-Krieg droht die gesamte Weltordnung zu kollabieren. Die Europäer halten sich immer noch für den Nabel der Welt. Während sie noch jüngst den Kriegen Aserbaidschans, Saudi-Arabiens oder der Türkei gegen die Kurden Syriens tatenlos zugesehen haben, erscheint ihnen ein Krieg in Osteuropa nicht hinnehmbar, weil sie diese Region offenbar zu ihrer Einflusssphäre zählen.

Die politischen Klassen der EU-Staaten verfügen über keine historisch vertiefte Idee von ihrem besonderen Raum. Die Verleugnung der eigenen Kultur und ihrer Grenzen beginnt mit der Geringschätzung der Voraussetzungen der westlichen Moderne, so dass man ihre Werte und politischen Strukturen auf andere Kulturen und Zuwanderer aus fremden Kulturen glaubte übertragen zu können.

Die Multipolarität der Welt hätte zunächst eine bipolare europäische Ordnung erfordert, die den Großraum des westlichen Europas von der russischen Kultursphäre abgrenzt. Die osteuropäische Orthodoxie ist seit 1000 Jahren vom Westen geschieden, verdankt schon ihre Begründung der Abwehrhaltung gegenüber westlichen Machtansprüchen, in diesem Fall des päpstlichen Universalismus. In der heutigen, schon in Rumänien spürbaren Ablehnung westlicher Dekadenz leben diese religiösen Motive weiter fort.

Carl Schmitt hatte ›den Großraum‹ als einen zusammenhängenden Leistungsraum zur Problembewältigung definiert. Der Großraum Europa kann auf einen gemeinsamen Schutz gegenüber fremden Mächten nicht verzichten. Im Ringen zwischen einer multipolaren und einer bipolaren Ordnung kann er auch nicht länger gegenüber den USA auf seine eigene Handlungsfähigkeit verzichten. Sofern die USA auf weitere offensive Pläne zur Weltherrschaft bestehen, sollten sich die Europäer von ihnen lösen und eine neutralere Rolle zwischen den Großmächten suchen. Ein starker europäischer Pfeiler innerhalb der Nato könnte eine hinreichende Unabhängigkeit der europäischen Politik von imperialen Motiven der USA ermöglichen. Die französische Atommacht müsste dafür europäisiert werden.

Hinsichtlich Migration und Integration läge der mittlere Weg zwischen Nationalismus und Globalismus in kontrollfähigen europäischen Grenzen und in einem gemeinsamen Asylgesetz. Der europäische Binnenmarkt sollte dort Schutzräume bieten, wo sie zum Aufbau fairer Gegenseitigkeiten mit China notwendig sind. Die europäische Solarenergie wäre damit vielleicht zu retten gewesen.

Nach den Kriegen in Afghanistan und der Ukraine werden die Europäer ihren Raum und dessen Grenzen abklären müssen, um ihn umso entschiedener verteidigen zu können. Die Europäische Union darf nicht mehr den Agenten der entgrenzenden Globalisierung geben. ›Ein Europa, das schützt‹ (Macron), müsste mehr Dezentralität nach innen gestatten und umgekehrt mehr Einheit und Stärke nach außen zeigen. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft könnte die Strategie der ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ umso eher nach außen durchsetzen. Vielfalt nach innen und Einheit nach außen würden sich ergänzen. Auf diese Weise könnte sie Beiträge dazu leisten, dass die Nato sich wieder von einem global agierenden Bündnis zu einem Defensivbündnis zurückentwickelt.

Ohne eine eigene kulturelle Identität werden die Europäer ihre Grenzen nach außen nicht legitimieren können. Die Strategie einer Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung beginnt daher mit der Reflektion unserer kulturellen Wurzeln. Gemäß der kulturellen Grenzen des abendländischen Europas würde Europas Vorfeldsicherung nicht am Hindukusch, sondern am Bosporus und gegenüber der russischen Hemisphäre einsetzen. Auf dem gemischtkulturellen Balkan wäre mit größter Zurückhaltung zu operieren und eine Integration nur von zumindest westlich orientierten Staaten zu erwägen. Sofern sich das Kosovo und Bosnien-Herzegowina mehr nach der Türkei und andere Kleinstaaten mehr nach Russland und China orientieren, bedeuten solche Territorien für diese Mächte so wenig eine Stärkung wie sie es je für den Westen waren. Abgrenzungen von solchen failed states, ähnliches gilt auch für große Teile Afrikas, würden eher die westliche Selbstbehauptung stärken.

Zur Sicherung europäischer Einflusssphären in Nordafrika sollte auch die Entwicklungs- und Handelspolitik Beiträge leisten, indem die Entwicklungshilfe für nordafrikanische Staaten an migrationspolitische Bedingungen gebunden wird. Die Sicherheit Israels als westliche Burg im Nahen Osten ist ein Bestandteil unserer Staatsräson.

Eine multipolare Weltordnung wird keinen bunten Regenbogen bilden. Sie wird aus lauter grauen, oft zwielichtigen Kompromissen bestehen, auch mit uns selbst, vor allem zwischen Moral und Interessen. Ihre Akteure müssen sich wechselnder Taktiken bedienen: zwischen Koexistenz, Eindämmung und selektiver wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Kooperation.

Auch die Akteursebenen müssen sich von Fall zu Fall ergänzen, zwischen den Nationalstaaten, Großräumen und idealerweise auch globalen Ebenen. Der Gegensatz zwischen Nationalstaat und europäischem Großraum muss in Gegenseitigkeiten aufgehoben werden. Nur ein starkes Deutschland kann auch zu einem starken Europa beitragen. Die Aushöhlung unserer Selbstbehauptungsfähigkeit von der Bundeswehr bis in die Infrastruktur hinein zugunsten globalistischer Schwärmereien müsste beendet werden.

Die wichtigsten Grenzen sind die Grenzen des Möglichen, die sich auch aus der Beachtung der Eigenlogik der Funktionssysteme ergeben, insbesondere zwischen Religion und Politik. Die Überschreitung ersatzreligiöser Utopien in den politischen Raum bedeutet angesichts der geopolitischen Realitäten eine Gefährdung unserer Selbstbehauptung. Die Schrecken des Ukrainekrieges könnten zu einer besseren Erkenntnis der Realitäten überleiten.

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