von Immo Sennewald

Wer aus der Geschichte nicht lernen wolle – so heißt es – sei dazu verdammt, ihre Wiederkehr zu durchleiden. Gemeint sind natürlich vom Menschen verschuldete historische Katastrophen. Die zweifellos tödlichsten waren Zeiten totalitärer Herrschaft: Die von Kommunisten, die Marx, Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot … folgten, ebenso die von Politbürokraten, deren Sozialismus – hinter allerlei Masken getarnt – Menschen massenhaft zur Gefolgschaft verführte: als nationaler, ›real existierender‹, ›demokratischer‹.

Die bis heute gefälligste Maske ist die des ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹. Hier konnte sich jeder als Menschenfreund fühlen, denn er propagierte wie alle anderen, dass er die ›Ausbeutung des Menschen durch den Menschen‹ abschaffen wolle.

Im 19. und 20. Jahrhundert versammelten einschlägige, die Führung der gesamten Menschheit beanspruchende Parteien hinter diesem Versprechen das Proletariat, sie priesen es als großen, die Industrialisierung tragenden Helden eines historischen Prozesses, der die Ökonomie, die sozialen Verhältnisse, die Kultur umwälzen sollte. Und sie verhießen sowohl den elend schuftenden Proleten, den armen Bauern wie den Angestellten sozialistischer Staatskonzerne – sogar ihren vergleichsweise verwöhnten Klassengenossen im Westen – den Kommunismus als ›lichte Zukunft der Menschheit‹. Dazu musste er nur das Kapital, seinen Gegenspieler, von der Erde tilgen. Zuvor müsse allerdings unter Führung einer kommunistischen Internationale die ›Diktatur des Proletariats‹ zur Macht kommen und dabei alle Nationalstaaten auflösen.

Es geht nicht ohne Säubern

Soweit die Theorie. Sie beschwor erbitterte ideologische Gefechte unter all jenen herauf, die sich für besonders begnadete Führer hielten; nicht alle überlebten. Fraktionen befehdeten einander, es wurde gespalten, neu gegründet, gehetzt und verleumdet, wer zur Macht kam, schaltete einstige Kampfgenossen aus. Eine interessante Frage ist, ob mehr bedeutende Kader an der Spitze kommunistischer Parteien bei Säuberungen starben als von der Hand konterrevolutionärer Gegner.

Sehr schnell wurde klar, dass nicht allein die informelle Macht – die Deutungshoheit – umkämpft war, sondern auch die materielle. Hier wäre es angebracht, einen Blick auf den ›Klassenfeind‹ zu werfen, der anfangs deutlich an materieller Macht überlegen schien, weil er im Besitz der besseren Geldquellen war. Die ›Gegneranalyse‹ von Marx selbst:

Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.

›Merksch‘ was?‹ sagt an dieser Stelle der Badener, der bei modernen Medien wie seinem ›Heimatsender‹ gelernt hat, was ›Framing‹ ist: ›Das Kapital‹ muss etwas Furchtbares sein, nicht etwa nur ein schöner Haufen Geld, den jeder gern hätte, sondern eine düstere Macht dahinter, die es akkumuliert, dabei vor keinem Verbrechen zurückschreckt: Kapitalisten. Differenzieren erübrigte sich, denn der Zustand der Welt, Hunger, Elend, Kriege und Kriegsgewinne waren offenbar. So weit, so propagandatauglich. Für den Sieg über die düstere Macht brauchte man natürlich auch Geld. Penunze, Kies, Diridari, Bimbes, Schotter, Moos, Kohle. Und es musste gesäubert werden. Revolution: von unten oder oben?

Wenn Parteien oder andere politbürokratische Organisationen wachsen, die mehr oder weniger Dogmen von Marx und Lenin – etwa von der von der ›Expropriation der Expropriateure‹, also der Enteignung aller Kapitalisten – folgen, wird nämlich auch mit Geld bezahlt: Sie brauchen Kapital. Dort, wo sie den Kapitalismus seine Arbeit tun lassen, sind Generationen von Funktionären in Gewerkschaften, Parteien, NGOs inzwischen luxuriöser versorgt als die meisten selbständigen Landwirte, Handwerker, Firmeninhaber. Als ganz oben in solchen Korporationen Angestellter lebt es sich beinahe risikolos gegenüber dem Dasein als Unternehmer. Politiker leben von den Steuern, sie haften nicht persönlich, wenn sie versagen – ein mehr als feudales Privileg.

Etliche revolutionär gesonnene Aktivisten hatten schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erkannt: Propaganda vom Elend des Proletariats führte ihnen keine Anhänger mehr zu, der linke Terror beschwor im ›deutschen Herbst‹ 1977 ein Desaster herauf. Gerd Koenen, der damals noch selbst mitmischte, hat ein ausführliches, wohldurchdachtes Buch mit dem Titel Das rote Jahrzehnt über diese Zeit geschrieben. Richtungskämpfe und Lebensformen waren heftig. Mancher vom damaligen Personal marschierte später gleichwohl ›durch die Institutionen‹ und genießt historische Bekanntheit.

Noch waren die Medien nicht überwiegend staatlich gestriegelt wie in der DDR, die Hochschulen produzierten reichlich oppositionellen Nachwuchs, aber der drängte nur schütter an Zahl und wenig erfolgreich in die Werkhallen. Die Revolution ›von unten‹ fand nicht statt. Schlimmer: Wer jahrelang im ›Staat der Arbeiter und Bauern‹, geschützt vom ›antifaschistischen Schutzwall‹ gearbeitet, dabei nicht gerade Funktionärsprivilegien genossen hatte, wurde immer unzufriedener mit dem Sozialismus. Ganz Osteuropa und seine sowjetische ›Führungsmacht‹ trudelten wirtschaftlich zu Boden, immer mehr Leute trauten sich auf die Straße und verlangten nach mehr Kapitalismus.

Das Proletariat zu befreien, erwies sich als weitgehend fruchtlos, die ›befreiten‹ Völker Afrikas, Asiens, Mittel- und Südamerikas formieren bis heute Migrationsströme in Richtung USA bzw. Europa. Aber der Kapitalismus hatte noch andere Schwächen, um derentwillen es lohnte, ihn vorzuführen, zu bekämpfen – und dabei Gewinne zu machen, zunächst an informeller Macht: Zur Deutungshoheit über soziale Fragen sollte die über den Schutz von Natur und Umwelt kommen, nach dem ›roten Jahrzehnt‹ verlagerte sich das Gefechtsfeld: Aus vielen Roten wurden Grüne – der Charme des Anliegens mobilisierte wesentlich mehr bürgerliche Anhänger als Marx und Mao – auch im Osten, zumal er sich mit Zielen der Friedensbewegung verband. Der ›Marsch durch die Institutionen‹ zeigte Erfolge, vor allem an Schulen und Hochschulen.

Der Sturz sozialistischer Diktaturen in Osteuropa war für Ideologen mit rotgrünem Lebenslauf ein Rückschlag – nicht wenige liefen gegen die deutsche Einheit Sturm. Grünen war herzlich egal, dass die zerstörten Landschaften, die verseuchten Gewässer, die verwahrlosten Städte, die abgehängten Dörfer, die kaputten Verkehrsverbindungen und Betriebe zwar vor allem viel Geld kosten würden, dass die Bevölkerung aber mit dem Wunsch nach Einheit auch Heimatliebe verband – also von Helmut Kohl in Aussicht gestellte blühende Landschaften, taugliche Infrastruktur, Recht und Freiheit, vor allem der Meinung. Die Zweistaatlichkeit erhalten zu wollen, bedeutete ›Altlasten‹ abzuschütteln, vielleicht auch das politische Entschärfen von Kuschelszenen Westlinker mit FDJ und SED.

Fürstin der ökologischen Wende

Stattdessen fusionierten – von eher konservativen Kräften getrieben – beide Teilstaaten samt Altlasten. ›Jetzt werde ich mit meinen SED-Bonzen und Stasis wiedervereinigt‹, fiel mir mitten im Jubel des 9. November 1989 ein. Ein Irrtum. Sie waren mit Geld und Personal schon sehr, sehr lange präsent, vom geistigen Nährboden zu schweigen.

Die deutsche Parteiengeschichte hält für Historiker reichlich Stoff aus der ›Wendezeit‹ zur Aufarbeitung bereit, auch einige Überraschungen. Für das Unrecht der SED wurde eigens eine Bundesstiftung mit etlichen Steuermillionen ausgestattet – der Partei hat das kaum geschadet. Wird die Dynamik informeller und materieller Machtkämpfe wechselnder Koalitionen seit dem Ende Kohls je ›aufgearbeitet‹? Von wem? Das gelingt bisher nicht einmal mit dem Corona-Geschehen am Ende der Ära Merkel.

Sie führte als Kanzlerin das Lavieren mit der Macht unsteter Allianzen zweifellos zum Gipfel. Mir fiel auf, dass eine in der DDR-Kirche sozialisierte Physikerin, vom konservativen Helmut Kohl und ihrem Vorgänger Klaus Töpfer protegierte Umweltministerin, der Linie folgte, die der DDR-Dissident und Ex-Grüne Rudolf Bahro 1987 in seinem Buch Logik der Rettung vorgezeichnet hatte: ein überparteiliches Bündnis mit weltweiten Zielen – Frieden, Umweltschutz, Rettung vor der Selbstzerstörung der Menschheit, die in der Industriegesellschaft zur ›Megamaschine‹ wird. Das Kapitel »Gesellschaft als Megamaschine« lohnt sich zu lesen, denn es fragt:

»Wie müsste eine Instanz aussehen, sozial funktionieren, psychisch möglich werden, die diese Weltregierungsaufgabe als gerechte Verwaltung der Mutter Erde und des kulturellen Patrimoniums praktiziert?« (S. 121)

Es gibt durchaus Leute, die sich als solche Instanz verstehen und etliche der von Bahro vertretenen Thesen folgen, etwa wenn von ›Degrowth‹ die Rede ist. Und es ist wohl keine Übertreibung, ihr Selbstverständnis als das jener ›Unsichtbaren Kirche‹ zu bezeichnen, die er zehn Jahre vor seinem Tode beschwor. Parlamente hielt er für dysfunktional, da von Privat- und Parteiinteressen paralysiert, ihm schwebten ›überwölbende‹ Institutionen vor – die inzwischen ohne demokratische Legitimation installierten ›Bürgerräte‹ lassen grüßen.

Bahro bezog bürgerliche Politiker wie Kurt Biedenkopf, Grüne wie Ralph Fücks in sein Denkschema ein. Ziel war: Die Mehrheit der Menschen unter einem gemeinsamen ökologisch-humanitären Dach zu sammeln. Auch das von ihm vorgeschlagene ›House of Lords‹ – eine Kammer weltweiter Kompetenzen aus Wirtschaft, Politik, Kultur ist am Werk: Zum ›World Economic Forum‹ gehören, neben Mächtigen aus der Wirtschaft, als ›Young Global Leaders‹ u.a. Angela Merkel, Barack Obama, Justin Trudeau, Annalena Baerbock … Das gemeinsame Kirchendach spannt die Klimareligion, genauer: der Glaube ans alles schicksalhaft entscheidende CO2, auf.

Wie alle Kirchen hat auch diese ihre Häretiker und Ketzer, Sekten spalten sich ab, Fürsten konkurrieren, und als Weltreligion konnte sie sich bislang nicht durchsetzen. Die entscheidende Verbindung zwischen Bahros Werk und Merkels Beitrag ist die Konzentration der Macht bei supranationalen Korporationen: der EU, der UNO – deutsche Bürger werden schon bald in Fragen ihrer Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit auf die Gnade der WHO angewiesen sein. Deren Chef unterstützte im Corona-Geschehen von Anfang an die rigide chinesische Linie.

Paradiesisch unfrei

Die Visionen Bahros sind – wie die meisten Gesetze und Maßnahmen, mit denen nicht demokratisch gewählte, supranationale Organisationen ermächtigt werden – offen oder verhohlen totalitär. Sie zielen letztlich auf umfassendes Überwachen, Kontrollieren und Schurigeln der Bürger, leben – wie ihre willfährigen Medien – von deren Steuern und Abgaben und verpanzern sich hinter immer dickeren materiellen und ideellen Schutzschichten.

Sie machen recht eigentlich der ›Megamaschine‹ den Weg frei. China taugt trefflich zum Pionier der Entwicklung – und kommt Orwells Szenarien einer voll digitalisierten Gesellschaft von aufs Funktionieren gedrillten Menschen am nächsten. Das kann freilich aussehen wie in Nordkorea, aber im Reich von Xi Jinpings Kommunistischer Partei, wo der Wohlstand für Hunderte Millionen Menschen die Erinnerung an die Hölle von Mao Zedongs Kulturrevolution fast völlig verdrängt hat, erschafft bequemer Konformismus egozentrische Rituale der Selbstkontrolle:
›Wieso soll gerade ich mich widersetzen? Wenn ich mich weigere, macht ein anderer den Job.‹
›Wenn alle anderen das können – kannst du das doch auch – oder?‹
›Was bringt es schon mir und anderen, wenn ich durch Widerstand Schaden nehme?‹
›Meinungsfreiheit? Wer unbedingt auffallen will, muss auch die Folgen tragen.‹

Klingt alles ziemlich alternativlos, nicht wahr? So organisiert sich ›Organisierte Verantwortungslosigkeit‹ selbst – und wird dafür belohnt.

Wer sieht, wie vom Staat wohlwollend finanzierte Kollektive sich zusammenschließen – in diversen Rechtsformen aber mit sehr einseitig ausgerichteter Botschaft –, wie sie eilfertig Ziele der Politbürokratie propagieren, so wie es von Kommunisten initiierte ›Massenorganisationen‹ für Jugend, Frauen, Sport, Bildung und Kultur in der DDR taten, wer die Penetranz wahrnimmt, mit der Hochschulen, Behörden und Justiz auf vereinheitlichte, absurde Gendersprache getrimmt werden sollen, Menschen mit abweichenden Meinungen diffamiert werden, wie das vom Grundgesetz verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung diskreditiert, unterlaufen oder mittels des ›NetzDG‹ und des ›Digital Services Act‹ (DSA) der EU durch private Firmen ausgehebelt wird, der muss um die Zukunft von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat besorgt sein. Das Grundgesetz ist solchen Korporationen nur Instrument, eigene Dominanz zu erreichen – und die Deutungshoheit über den Sprachgebrauch ist ein erster Schritt.

Politische Parteien und die Regierungen, an denen sie beteiligt sind, haben – so will es das Grundgesetz – Aufgaben im Interesse der Bürger, des Souveräns, zu erfüllen. Es kann nicht im Interesse der Bürger sein, dass Parteien und ihnen zuarbeitende Organisationen nur zum Zwecke des Machterhalts und der von ihnen bevorzugten Ziele Steuermittel einsetzen, dass sie die Unabhängigkeit der Medien eliminieren, dadurch Kritik an Fehlentscheidungen, Rechtsbrüchen und unerwünschten Entwicklungen erschweren oder gar ersticken.

Wem daran liegt, dass Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Rechtsstaat in Deutschland und Europa in Zukunft erhalten und weitergeführt werden, der kann staatliches Abdriften in Richtung ›Weltregierung‹ nicht unterstützen. Er sollte allerdings nicht darauf hoffen, dass eine Partei – gleich welchen Namens – ihm die Arbeit der Opposition abnimmt. Besser ist allemal, mit den hoch bezahlten Abgeordneten seines Wahlkreises Klartext zu reden, auch mit Journalisten, Gewerkschafts- und sonstigen Funktionären. Und – ja! – noch ist das Internet ein offener, weitgehend unkontrollierter Raum für den Meinungsstreit, anders als in China. Jeder sollte ihn nutzen – so lange es ihn gibt.

(Dieser Beitrag erschien zuerst in ›Der Sandwirt‹)

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