von Heinz Theisen

Corona und die mangelnde Lernfähigkeit der Politik

Im Sammelband von Werner Bruns und Volker Ronge zur Pandemie stehen politik- und sozialwissenschaftliche Analysen im Mittelpunkt. Die Irritationen betreffen die aus liberaler Sicht schwer hinnehmbaren Einschränkungen des öffentlichen Lebens und verfassungsmäßiger Freiheiten des Individuums. Hat sich durch den Lockdown, seine Anwendung und politische Begründung das Verständnis der Demokratie und der Rolle des Staates in ihr verändert? Ist Deutschland über die Pandemie autoritärer geworden?

Aus den vielen reflektierten Beiträgen seien einige hervorgehoben. Die Kritik von Thomas Jäger an der staatlichen Corona-Politik könnte kaum härter ausfallen. Sie betrifft nicht nur einzelne Versäumnisse und Fehleinschätzungen, sondern kulminiert in der These einer grundlegenden mangelnden Lernfähigkeit der deutschen Politik – über zwei Jahre der Pandemie hinweg. Er sieht deren Kompetenzanspruch als geradezu dekonstruiert an.

Im Rahmen der Pandemie sei zwar der Nationalstaat revitalisiert worden, weil sich dieser gegenüber globalen und internationalen Akteuren noch als die stärkste Handlungsebene erwiesen habe. In ihm wurde die Pandemie zur Stunde der Exekutive. Das Krisenmanagement der deutschen Regierung sei aber von Unachtsamkeit, Fehlern und Versäumnissen geprägt gewesen. Alle Maßnahmen, von den Einreisekontrollen bis zur Masken- und Impfbeschaffung, seien immer später als möglich erfolgt. Merkels Entscheidung, die Impfdosenbeschaffung an die Europäische Union zu übergeben, habe das Regierungsversagen auf eine andere Ebene verlagert, aber keineswegs behoben.

Die Bundesregierung sei über operative Maßnahmen nicht hinausgekommen und habe nie zu einer Strategie gefunden, in der unterschiedliche Maßnahmen auf einen Zweck hin konstruktiv zusammengeführt und dann angewendet worden seien. Jäger verlängert die Kritik an der gesamten Regierungszeit von Angela Merkel, die in keiner Krise zu einer Strategie gefunden habe.

Die Wissenschaft sei einseitig zur Legitimation angeblich alternativloser politischen Entscheidungen herangezogen worden. Dies ist aber unwissenschaftlich, weil es ›die Wissenschaft‹ im Singular gar nicht gibt und auf diese Weise das Denken in Alternativen unterbunden worden sei. Die Parteien hätten sich mit Ausnahme der AFD kritiklos und alternativlos von der Exekutive einbinden lassen.

Marcel Tyrell benennt als wirtschaftliche Irritation die Zunahme der Einkommens- und Vermögensunterschiede, und zwar sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Ursache dafür sei vor allem in der Vulnerabilität des Faktors Arbeitskraft zu suchen. Das Zerreißen von Lieferketten irritiere all diejenigen, die ganz auf die freien Weltmärkte gesetzt hatten. Die nun einsetzende Deglobalisierung drohe für die Entwicklungsländer eine Deindustrialisierung zur Folge zu haben. Die Corona-Pandemie habe zudem zentrale gesellschaftliche Herausforderungen und fundamentale Strukturschwächen offengelegt.

Der Soziologe Werner Bruns sieht die Bundesrepublik schon seit der Wiedervereinigung auf dem Weg in eine anomische Gesellschaft. Durch die Flüchtlingskrise und den Lockdown wurde dies weiter beschleunigt. Die Folge seien Desintegration und verstärkte Ungleichheit, die schon zunehmend auf die Mittelschicht übergreife. In der Summe würde dieser Wertekrise eine Schwächung unseres politischen Systems bedeuten. Selbst in Verwaltung und Infrastruktur wird erkennbar, dass der deutsche Staat längst nicht mehr zur Elite der Staatenwelt gehöre.

Intellektuell ist es geradezu peinlich, dass im öffentlichen Diskurs das Links-Rechts Schema selbst auf Risikoabwägungen zu rein medizinischen Fragen angewandt wurde. Auch dies trägt zur erstickenden, fast schon antidemokratischen Debattenkultur bei, die Eckhard Jesse beschreibt. Zwar gilt in der offenen Gesellschaft der Streit als Kern des demokratischen Verfassungsstaates: Debatten bilden Meinungen, inspirieren, verbinden. So sollte es sein, aber im Alltag sähe es oft anders aus. Dabei müssten wir Streit nicht nur aushalten, sondern sogar fördern, um neue Ideen zu entwickeln und unsere Demokratie mit Leben zu erfüllen.

Zwei Folgen der Pandemie werden deutlich sichtbar. Die Lockdowns haben einerseits eine verstärkte Digitalisierung zur Folge. Meetings, Sport- und Kulturveranstaltungen ohne Publikum, die zunächst als Modi aus der Not heraus entwickelt wurden, erscheinen plötzlich als Chance für eine Digitalisierung und damit eine weitergehende Technisierung der gesellschaftlichen Beziehungen.

Die zweite Folge ist die seit dem Krieg in der Ukraine noch massiver einsetzende Deglobalisierung. In ihr erscheint die alte Polarisierung zwischen Globalisten und Protektionisten in einem neuen Licht. Seit dem Ausbruch der Pandemie gilt der Schutz des Nationalstaates wieder als unabweisbar. Ein schützender Staat ist nicht mehr ›rechts‹, sondern legitim. Vielleicht darf man künftig bei der Suche nach glokalen Mittelwegen auf mehr begriffliche Differenzierung hoffen.

Angesichts der gemeinsamen Bedrohungen sind vor allem neue politische Kommunikationsformen unabdingbar. Eckhard Jesse referiert einige Spielregeln. Im Streit verbiete sich eine persönliche Diffamierung. Die Debatten sollten in der Form milde, in der Sache hart geführt werden. Entscheidend für die Qualität einer Argumentation sei nicht, wer sie vorbringe und in welchem Periodikum sie erscheine. Maßstab sollte allein die Stimmigkeit der jeweiligen Position sein. Die bisher herrschende Polarisierung habe die politische Atmosphäre vergiftet und zu unversöhnlichen Konflikten geführt. Eine freimütige Diskussion sei aber das Lebenselixier einer offenen Gesellschaft.

Zu einer größeren Öffnung der Debatte leistet der Band wichtige Beiträge. Dabei hätte allerdings eine Erweiterung um europäische – mehr noch – globale Aspekte gutgetan. Dabei würden einige Paradoxa erkennbar. In späteren Zeiten wird man mit Verwunderung auf die Arglosigkeit schauen, mit der die Welt den Auskünften der chinesischen Regierung vertraut hat und den freien Handel und die offenen Grenzen zunächst nicht beeinträchtigt sehen wollte. Im globalistischen Geist wurden auch Einreisebeschränkungen nach Europa als unnötig abgelehnt. Umso enger wurden dann die Bewegungsgrenzen der ansässigen Bürger im Lockdown gezogen. Dies irritiert massiv, weil es die mangelnde Abgleichung zwischen globalen, internationalen und nationalen Handlungsebenen aufzeigt.

Die Deglobalisierung wird erhebliche nachideologische Bemühungen und Anpassungsleistungen erzwingen. Es bleibt die Hoffnung, dass wir aus den vielen Fehlern lernen werden. Dazu hat der Sammelband von Bruns und Ronge mit vielen nachdenklich stimmenden Beiträgen einen wichtigen Beitrag geleistet.

Debatte

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