von Steffen Dietzsch

Sowjetrussland war für Weltverbesserer aller Couleur immer schon ein Sehnsuchtsort, auch ein, wenn es ›daheim‹ zum Äußersten kommen sollte, Fluchtziel und perspektivreiche Basis fürs letzte-Gefecht. – Das parlamentarische Ende der ›Weimarer Republik‹ schien ein diesbezügliches historisches Zeichen zu sein. Gleich nach dem Reichstagsbrand 1933 erlebte Deutschland insgesamt einen intellektuellen Exodus. Auch Schriftsteller, Essayisten und Kulturpolitiker des der KPD nahestehenden Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (gegr. 1928) verließen das Land. Viele kamen schließlich auf den unterschiedlichsten Wegen des Exils auch nach Moskau. Ihre Erwartungen waren, zumal wenn sie das Land bloß als Polittouristen kannten, weit gespannt – ebenso wie ihre anschließenden grotesken und schrecklichen Erfahrungen. Sie waren auf verschiedene Weise, aber immer politisch, resistent gegen alle kontraintuitiven Lebens- u. Leidenserfahrungen in jenem Land, in-dem-das-Morgen-schon-Geschichte-ist (Julius Fučik, 1931); auch tragische Lebensschicksale von aktivistischen Russlandfahrern aus ihrem engsten Genossenkreis (wie z.B. das des frühen Sowjetbeamten Karl Albrecht *1897, seit 1924 in Moskau, stellv. Volkskommissar, 1932 inhaftiert, Todesurteil, 1934 ausgewiesen) blieben als ›Einzelfälle‹ oder als ›Irrtümer‹ außerhalb ihrer – eben politischen – Urteilskraft.

Die vorliegende ausführliche, archivkundliche Dokumentation lässt uns in den Gemeinschaftsalltag jener hochgestimmten Exilanten schauen, die mit ihrer Entscheidung für die Sowjetunion der felsenfesten Meinung waren, für ein Land und ein System der Zukunft zu arbeiten. – Die deutschen Literaten gerieten gleich anfänglich mitten hinein in eine Zentralisierungskampagne des sowjetischen Literaturbetriebs; im Sommer 1934 wurde beim I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller eine neue einheitliche, konzentrierte Literaturpolitik begründet und – schon seit 1932 – alle bis dahin bestehenden eigenständigen Verbände, Assoziationen oder literarischen Schulen, wie namentlich die ›Rapp‹ (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller), ›Kuznica‹ (Schmiede) oder die ›Lef‹ (Linke Kunstfront) aufgelöst. Aber die deutschen Genossen brauchten sich nicht fremd zu fühlen in der unerbittlichen polemischen Atmosphäre, mit der auch sie – lange eingeübt – immer schon auf sehr strikte alltagspolitische Einbettung literarischer Projekte achteten. Das wird von den Herausgebern vom Anfang an exemplarisch dokumentiert: im Abdruck vernichtender Kritiken an schnell geschriebenen, 1935/36 im Deutschen Staatsverlag (in Engels, der Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik) publizierten, durchaus zeitkritischen aber erzählerisch wenig aufwendigen Kurzgeschichten; diese Texte werden jetzt schnell als »den heroisch kämpfenden Kommunisten in Deutschland gegenüber ganz und gar unverantwortlich« (75) denunziert. Sie werden plötzlich sogar als Schandfleck der deutschen Literatur bewertet. Das aber war eben keine radikale literarisch-stilistische Selbstkritik deutscher Genossen, sondern – das-musst-du-politisch-sehen – eine unmündige Anbiederung und Urteilsübergabe an die gastgebende sowjetische Strafverfolgung, – denn in diesen Tagen wurde der deutsche Chef jenes Staatsverlages (Willi Loew, *1887) verhaftet (… und im Oktober 1937 erschossen).

Im vorliegenden Band werden 38 Diskussions-Notate vorgelegt, transkribiert, kommentiert, die zwischen 1936 und 1941 die politischen und sozial kontrollierten Literaturbedingungen dokumentieren, – und eben auch den künstlerischen Arbeitsalltag deutsch-sowjetischer Autoren »als Kulturkader«(21), der im Zurechtkommen mit dem Hin und Her von Verschwörungserzählungen, Planversprechen und alltäglich absurden Mängeln bestand. Dokumentiert werden intrigante Netzwerke, Vormundschaft und frenetische Selbstzensur, auch tragische Selbsterhaltungsversuche, – und schließlich insgesamt das Mitleiden an einer Kulturpraxis, die von den dann (auch in die DDR) Rückgeführten in die sowjetisch besetzten Ländern übertragen und weiterentwickelt wurde. Hier ist es ideologiepraktisch das unbedingte Primat des Politischen, das exemplarisch einmal von Alfred Kurella (1895-1975) gegenüber dem österreichischen Dichter Hugo Huppert (1902-1982) eingefordert wurde: »Denn das Urteil eines politischen Menschen über ein im Kern politisch falsches Buch [es geht um einen Lyrikband!] ist immer schärfer als das Urteil eines Kunstkritikers über ästhetische Mängel, auch wenn hinter diesem weltanschauliche Schwächen aufgedeckt werden« und: »das wird für dich nicht ganz leicht zu begreifen sein, weil deine unmittelbare spontane Reaktion auf meine Kritik eine ››Empörung‹ sein wird, aber du wirst die bittere Pille schlucken und richtig reagieren, – versteh‘ die Richtung des Schlages!« (355f) Das ist auch der grobschlächtig-parteiliche Gestus von Kurellas späteren Kritiken als führender Kulturpolitiker der DDR, – an z. B. der Kafka-Diskussion fünfundzwanzig Jahre später …

Die Herausgeber sortieren die Dokumente nach drei Etappen des sowjetischen Großen Terror (Robert Conquest): 1. Das Schlüsseljahr 1936, 2. Inmitten der Jeshowshina und 3. Unglückliches 1941.

Die mentale Situation des Jahres 1936 war für alle im Lande geprägt durch den (wie man später zählen wird) ersten großen Prozess gegen ein terroristisches Zentrum (von sechzehn alten Parteifunktionären, darunter fünf aus der KPD); alle wurden erschossen. In den zu dieser Zeit dokumentierten Aussprachen, Parteitreffen und Stellungnahmen deutschsprachiger Literaten geht es immer um politische Zurüstung von Literatur (auch klassischer): denn viele seien noch zu sehr ›Emigranten‹, ›Gäste‹ … aus dem Westen, also noch zu unempfänglich für die (normative) Wirklichkeit des Sozialismus-in-einem-Lande. Und natürlich ist die Wachsamkeit immer zu erhöhen, um überall »Trojanische Pferde« (99) zu identifizieren; mit diesem Schlagwort war die breite Zumutung verbunden, auch selber mitzuhelfen, die von der Regierung aufgedeckten Verschwörungsnetze weit verstreuter Rechter Zentren aufzudecken. – Das darf man eine (erste) ›Zeitenwende‹ im modernen Regierungshandeln einer europäischen Macht nennen, die sich entschließt, alle von der politischen Programmatik abweichenden praktischen Alltagsprobleme, Mängel und Fehlleistungen nicht mehr den eigenen operativen Potenzen und Aufwendungen anzulasten sind, sondern (als Absicht zu schaden) all denen, die – früher oder jetzt – sogenannte ›eigene‹ Überlegungen und Wege der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung propagiert, diskutiert, künstlerisch dargestellt oder hier und da ausprobiert hatten; wobei alles, was von der amtlich vorgegebenen ›Generallinie‹ abweicht (und sei auch nur terminologisch), – egal ob ›Versöhnler‹, ›Mitläufer‹, ›Bucharinist‹, ›Trotzkist‹ insgesamt als Rechte Abweichung galt. Kurzum: »Fauler Liberalismus hilft dem Feind.« (119-122).

Auch die beiden folgenden großen Prozesse – Januar 1937 und März 1938 – bestimmten die geistige Atmosphäre in den Diskussionen der deutschen Schriftsteller im ›Vaterland der Werktätigen‹. Literarische Erzeugnisse und Schriftstellerkarrieren werden eng geführt durch dieses politische Klima, das sich zumal 1937 pogromhaft steigerte. Man habe, so beeilten sich die deutschen Genossen zu versichern, »mit großer Befriedigung die Liquidierung der trotzkistischen Filiale in der sowjetischen Literatur begrüßt« (166), als so namhafte sowjetische Intellektuelle, die geistig das ganze erste Jahrzehnt der Revolution prägten, wie z.B. Leopold Awerbach (1903-1937), Wladimir Kirschon (1902-1938), Alexander Afinogenow (1904-1941) und Bruno Jasiènski (1901-1938) ihre Acht-Gramm-in-die-Kruppe bekamen. Aber auch die ›Säuberungen‹ deutschsprachiger Redaktionen und Verlage, bis hin in die wolgadeutsche Provinz, wurden vorangetrieben, wie man dem Gemeinschaftsbericht »Über einige Mängel in der deutschen Literaturbewegung« (166-176) entnehmen kann. – Wie stark diese ›Theater‹-Prozesse in Moskau die Urteilskraft gerade von Leuten beeinflusst hat, die es gewohnt und stolz darauf waren, politisch zu denken, zeigt das Beispiel Lion Feuchtwanger: er war Zuschauer beim ersten Prozess und obwohl er sich (Dimitroff mündlich gegenüber) befremdet zeigt, »dass außer den Geständnissen der Angeklagten keine Beweise vorgelegt wurden« (41), veröffentlicht er in seinem »Moskau 1937« (Amsterdam: Querido 1937, S. 119) das Eingeständnis: »Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist.« – Wenn Kafkas Diktum (aus Der Proceß) – Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht – auf ein zeitgenössisch gemeinschaftsstiftendes Ereignis verweisen könnte, dann waren deutsche Schriftsteller hier im sowjetischen Exil Zeugen dieses Beginnens.

Auch 1940/41 ist die Feind-Lage so verworren, wie eigentlich immer, obwohl doch geopolitisch, innerparteilich und außenpolitisch – immer mit Gewalt – neue Fronten befestigt wurden. In einer Diskussion (Ende Okt. 1940) aber beklagen sich die deutschen Literaten wie immer über verbreitetes Misstrauen untereinander, das zu klären sei (359); davon könnte wiederum Hugo Huppert sozusagen ein-Lied-singen: Als er im Mai 1939 aus der Haft entlassen wurde, erzählte er einem Freund viele »Details über die ›asiatischen Methoden‹ physischer Behandlung, denen er in den ersten Monaten seiner Haftzeit (März bis Juli 1938) und noch einmal unmittelbar vor seiner Entlassung ausgesetzt gewesen sei – Methoden, neben denen sich … faschistische Foltermethoden harmlos ausnehmen« (396 f). Der Zuhörer, Franz Leschnitzer (1905-1967), provokations-sensibel, meldet diesen Vorfall anderthalb Jahre später (Dez. 1940) doch noch an Walter Ulbricht und an die Internationale Kontroll-Kommission (397 u. 400-424). Die Denunziation nutzte ihm aber nichts: Von Ulbricht wird er (Febr. 1941) darauf hingewiesen, dass man nicht immer »nur von den Fehlern der Vergangenheit« (435) reden dürfe; Leschnitzerer wird 1942 aus der Partei ausgeschlossen und erst 1960 wieder aufgenommen, die er dann aus eigenem Entschluss 1963 endgültig verließ. – Aufs Literarische bezogen bemerken einige Genossen Schriftsteller jetzt gelegentlich etwas vom Eigenwert der Literatur (in Dokument 31), – etwa wie nutzlos »der Roman eines politischen Funktionärs« sei, denn: »jeder Droschkenkutscher, jeder Bauer ist poetischer als ein politischer Funktionär« (359)

Die Moskauer Lektionen zeigen über die Jahre hin ein Ergebnis: »Wer gehofft hatte, dass man, sei erst einmal der Schmutz und Dreck beiseite geschafft, zu einem produktiven Miteinander zurückfinden würde, irrte sich« (22). Dazu wäre es zuerst nötig gewesen, sich von der Parteigemeinschaft zu emanzipieren und wieder ein Person zu werden.

Die Herausgeber des Bandes, Anne Hartmann und Reinhard Müller, sind außerordentlich kenntnisreiche und findige Archivare, vertraut mit den sozialgeschichtlich wie tragischen personellen Konstellationen in dieser deutsch-sowjetischen Kommunikationsgeschichte. Hier werden auch Neufunde vorgestellt, die seinerzeit in der Dokumentation von Reinhard Müller »Die Säuberung« (Rowohlt 1991) noch fehlten: Hier sind (Dokument 10) die damals noch nicht aufgefundene Eröffnungsansprache von Alexander Barta (erschossen 1938) und die Verteidigungsrede von Andor Gábor (1883-1953) zum Protokoll der geschlossenen Sitzung der Parteigruppe der Deutschen Sektion vom 4. September 1936 ergänzt (123-138) worden.

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