Eurer Exzellenz melden wir gehorsamst, daß die … Kartoffelserie ›Hindenburg‹ den Sieg errungen hat

An der Kartoffel »Hindenburg« kann Deutschlands Weltkriegsniederlage 1918 nicht gelegen haben. Die gab im Herbst 1917 ihr Bestes und wurde klarer Sieger im Kartoffelerntekampf. So vermeldete es jedenfalls die Deutsche Kartoffelkulturstation per Telegramm an Generalfeldmarschall Hindenburg. Nachzulesen im Heeresbericht von Edlef Köppen (S. 253). Heeresbericht ist der Titel eines 1930 im Horen-Verlag veröffentlichten Romans von Edlef Köppen.

›Hundert Jahre Weltkriegsende 1918‹ ist ein guter Anlass Edlef Köppen und seinem beeindruckend geschriebenen Roman verdiente Ehre widerfahren lassen. Gehört Erich Maria Remarque zum Allgemeinwissen interessierter Zeitgenossen, so dürfte der Name Edlef Köppen zu Unrecht Schulterzucken hervorrufen. Im Westen nichts Neues ist Standard, Heeresbericht nicht. Schade. Mich beeindruckt Köppens Buch vielleicht sogar stärker als Remarques Roman. Vielleicht, weil Köppen seinen Roman mit vielen Originaldokumenten und -zitaten zu einer sehr authentischen Beschreibung dieses widerlichen Krieges zusammenzusetzen wusste? Das Buch ist eine frappierende Collage aus von persönlichem Erleben geprägter Erzählung und klug darin verwobener Dokumentenauthentizität. Ich entdeckte es Anfang der Achtziger Jahre in einem beliebten Leipziger modernen Antiquariat. Ein kurzer Blick hinein genügte, es sofort zu erwerben. Seither benutze ich es gern in Gesprächen über den ersten Weltkrieg, der eigentlich – von der Unterbrechung 1918 bis 1939 abgesehen sein heißes kriegerisches Ende 1945 und sein kaltes erst 1989 fand.

Köppen musste den Niedergang der Weimarer Republik ebenso miterleben wie die ›Machtergreifung‹ Hitlers und der NSDAP, die Bücherverbrennungen – einschließlich seines Heeresberichts –, die NS-Rassegesetze, die ersten Konzentrationslager, den ›Anschluss‹ Österreichs und den Einmarsch ins Sudetenland. Wenige Monate vor dem Überfall auf Polen starb Edlef Köppen. Er sollte erneut gelesen werden!

Anders als Köppen setze ich seine Nachschrift (S. 360) voran:

Es fielen in den Jahren 14 bis 18 Einemillionachthundertundachttausendfünfhundertundfünfundvierzig Deutsche, EineMilliondreihundertvierundfünfzigtausend Franzosen, Neunhundertachttausenddreihundertunddreiundsiebzig Engländer, Sechshunderttausend Italiener, Einhundertundfünfzehntausend Belgier, Einhundertundfünfzigtausend Rumänen, Sechshundertneunzigtausend Serben, Fünfundsechszigtausend Bulgaren, Zweimillionenfünfhunderttausend Russen und Polen, Fünfundfünfzigtausendsechshundertachtzehn Amerikaner. Zusammen: Achtmillionenzweihundertfünfundfünfzigtausendfünfhundertvierunddreißig Menschen.

Heute wissen wir, es starben viel mehr Menschen. Sowohl als Soldaten als auch als Zivilisten, die Köppen hier als nichtaktive Kriegsteilnehmer an dieser Stelle nicht aufzählte. Das Robert-Schuman-Zentrum (http://www.centre-robert-schuman.org) führt zu den Weltkriegsopfern folgendes aus:

Die Anzahl der Personen, die Folgen aus dem Ersten Weltkrieg davon getragen haben (sowohl Soldaten als auch Zivilisten), beläuft sich auf mehr als 40 Millionen Personen, 20 Millionen Tote, 21 Millionen Verletzte. Diese Zahl beinhaltet 9,7 Millionen Tote unter den Soldaten und rund 10 Millionen Tote unter den Zivilisten. Die Alliierten des Ersten Weltkrieges verlieren mehr als 5 Millionen und die Mittelmächte knapp 4 Millionen Soldaten.

Für den Klappentext zum Heeresbericht schrieb Köppen eine autobiografische Notiz:

Ich bin am 1. März 1893 geboren. Infolgedessen war ich imstande, mich im August 1914 kriegsfreiwillig zu den Waffen zu begeben, die ich vom Oktober 14 bis Oktober 18 in Allerhöchstem Auftrag als Kanonier, Gefreiter, Unteroffizier, Vizewachtmeister, Offiziersstellenvertreter, Leutnant der Reserve in West und Ost weidlich führte. Ich tat das mit Begeisterung, mit Pflichtgefühl, mit zusammengebissenen Zähnen, mit Verzweiflung, bis man mir das E.K. I verlieh und mich ins Irrenhaus steckte. … Als der Frieden kam, stellte ich mich im Studium von Germanistik und Literaturgeschichte auch ihm freiwillig zur Verfügung. … Das Studium wurde abgebrochen, als ich merkte, daß man auf Hochschulen anno 1920 noch bei der Gemütlichkeit der Vorkriegsjahre zu beharren beliebte. – Der Beruf begann, Buchhändler, Verleger, ›freier‹ Schriftsteller. Die Not begann, der Hunger. … Endlich kam ein Beruf, der mehr gab als die Möglichkeit zu Handlangerdiensten: in ihm lebe ich jetzt. Ihn liebe ich. Also kann die Arbeit beginnen, deren erster Niederschlag dieses Buch ist. Die Aufgaben werden klarer: es geht um nichts anderes als um die Reinlichkeit dieses fragwürdigen Daseins. (aus dem Nachwort von W. U. Schütte S.361/362 – Die zentrale Person ist Adolf Reisiger, der das Kriegs-Leben Edlef Köppens im Roman lebte.)

Die ›Oberzensurstelle‹ erließ am 23.3.1915 folgende Weisung:

Es ist nicht erwünscht, daß Darstellungen, die größere Abschnitte des Krieges umfassen, von Persönlichkeiten veröffentlicht werden, die nach Maßgabe ihrer Dienststellung und Erfahrung gar nicht imstande gewesen sein können, die Zusammenhänge überall richtig zu erfassen. Die Entstehung eines solchen Literatur würde in weiten Volkskreisen zu ganz einseitiger Beurteilung der Ereignisse führen

Auf gut Deutsch hieß das, Millionen Kriegsüberlebende hatten kein Recht, ihr Überleben zu reflektieren. Dieses Recht stand nur den Krieg-Führern zu – Einseitigkeit war das angeblich nicht. Zwanzig Jahre später kam der nationalsozialistische Staat der Oberzensurstellenweisung von 1915 nach. Die Bücher von Köppen, Friedlaender, Gide, Theodor Heuss, Kafka, Kaus, Kästner, London, Seghers, Rathenau, Tucholsky u.v.a. wurden verbrannt und damit für die Nachgeborenen besonders wichtig.

Diese Rezension soll keine Abschrift werden. Das Lesen des Buches lohnt sich sehr. Ich werde versuchen, anhand von Textausschnitten, Interesse zu wecken:

Mobilmachung Ich bestimme hiermit: Das Deutsche Heer und die Kaiserliche Marina sind nach Maßgabe des Mobilmachungsplans für das deutsche Heer und die kaiserliche Marine kriegsbereit aufzustellen. Der 2. August 1914 wird als erster Mobilmachungstag festgesetzt. Berlin, den 1. August 1914 Wilhelm I.R. von Bethmann Hollweg (S. 11)
 
Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches …. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heer macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. … Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes. (S.12/13)

In der DDR hieß das »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit!«

Reisigers Mutter an Reisiger … Vater habe ich heute morgen nur kurz gesprochen, aber er läßt dir sagen, daß er sehr stolz darauf ist, seinen Jungen nun auch im Felde zu wissen. (Ich hätte lieber, Du könntest weiterstudieren.) Ich sprach übrigens heute mittag den Bürgermeister. Alle meinen, daß der Krieg bestimmt noch vor Weihnachten zu Ende ist. … In Liebe Deine Mutter (S.14)
Zusammenstellung von Zensurverfügungen des Kriegsministeriums.., Leitsätze, zu Nr. 3620/14: … Die im Auftrag seiner Majestät des Kaisers von dem Reichskanzler geleitete auswärtige Politik darf in dieser kritischen Zeit, die über ein Jahrhundert entscheidet, durch keine offene und versteckte Kritik gestört und behindert werden. Zweifel an ihrer Festigkeit zu äußern, schadet dem Ansehen des Vaterlandes. Das Vertrauen in sie muß gehoben und darf ebensowenig erschüttert werden wie das Vertrauen in die militärische Führung. (S.21).

Ein frühes Netzwerk-Durchsetzungs-Gesetz (NetzDG).

Gegen die Schwarzseher Der stellvertretende Kommandierende General des 7. Armeekorps v. Gayl veröffentlicht in den Zeitungen seines Korpsbezirks eine Mahnung zum Ausharren und Vertrauen. „Ist es wahr“, fragt er, „daß dieses Vertrauen hie und da zu wanken beginnt? Daß Schwarzseher am Werke sind, um in ihren Kreisen flau zu machen und die frohe Zuversicht zu dämpfen?“… (S.22).

Hell- vs. Dunkeldeutschland anno 1914.

In der Nacht zum 20. Januar 1915 bekam der Kriegsfreiwillige Adolf Reisiger den Befehl, sich am nächsten Morgen fünf Uhr dreißig in der Feuerstellung der 1. Batterie Feldartillerie-Regiment 96 zu melden. … Er ging schneller. Am liebsten hätte er gesungen. Aber ein Absatz aus den Dienstvorschriften stieg vor ihm auf, der besagte, daß man am Feind nicht singen, nicht sprechen, nicht einmal rauchen darf. (S. 26)
Reisiger ist voller Spannungen. Er empfindet es nach der Ruhe des Sonntags als ein beglückendes Gefühl, Soldat hier an der Front sein zu dürfen. Und wie er stumm hinter seinem Vordermann hertrabt, wird aus diesem Gefühl Stolz. Wie armselig, denkt er, ist das Leben unten in der Kolonne. Natürlich, auch da müssen Menschen sein, und, natürlich, auch sie tun ihre Pflicht; aber wenn man Soldat ist, gehört man an den Feind. (S.32).
Er ist etwa zehn Minuten gegangen, da bleibt er stehen. Ihm wird plötzlich heiß. Vor ihm liegen Menschen! Er wirft sich platt auf die Erde. Er schließt einen Augenblick die Augen, öffnet sie wieder, kontrolliert: Ja, da vor ihm liegen Menschen! … Er schiebt sein Gesicht dicht ans Ohr und sagt: „Kamerad, du kannst doch hier nicht schlafen. Stellt euch vor, wenn jetzt ein Offizier kommt.“ Keine Antwort. … „ Du red doch, es wird gleich hell.“ Keine Antwort. Da legt Reisiger seine Hand auf die Rechte des Nebenmannes. Die ist eiskalt. (S.36).
Sieh mal Adolf, das ist doch so: Wenn du dich jetzt an die Front meldest und sie knallen dir eins vor den Brägen, dann mußt du dir doch immer Vorwürfe machen und dir sagen, daß du es ja selbst nicht anders gewollt hast. …Nie tun, was nicht befohlen wird. Das ist die höchste Parole. (S.43)
Die Veröffentlichung von Berichten über sog. Verbrüderungsszenen zwischen Freund und Feind im Schützengraben ist unerwünscht. (Oberzensurstelle Nr. 38. O.Z. 22.1.1915) (S.46).
Preis-Verzeichnis A. Getränke:
Sekt Henkell Trocken a‘ Flasche 18,00 Mark
Bordeaux Chateau Lafille a‘ Flasche 6,00 Mark
Ungarwein a‘ Flasche 8,00 Mark
….
B. Beischlaf:
für die ganze Nacht 30,00 Mark
für 2 bis 3 Stunden zur Abend- und Nachtzeit 20,00 Mark für 1 Stunde 10,00 Mark
für jede beliebige Stunde von 9 Uhr
vormittags bis 6 Uhr nachmittags 10,00 Mark …
Georgi stielte seine Augen. »Was kostet denn eine Stunde bei uns, ich meine für Mannschaften?« … »Die Weiber haben natürlicherweise nichts zu fressen. Wenn du ihnen ein Brot schenkst, oder sagen wir ein halbes – du ich wette mit dir, dafür machen sie alle die Beine breit.« (S. 94).

Soviel zur höheren Moral im Deutschen Heer.

Er ging an den Toten vorbei und ging dann sehr langsam. Er dachte, heute abend wird in Deutschland im Heeresbericht stehe, daß ein feindlicher Angriff mit großen Verlusten für den Feind abgewiesen ist und daß unsere Verluste gering sind. Gewiß, elf Mann spielen gar keine Rolle. Wir haben ein Millionenheer. Sehr begreiflich, daß man von geringen Verlusten spricht. Aber er hatte den ersten von diesen elf Mann angesehen. Das war ein älterer Soldat mit einem Vollbart, auf der rechten Hand einen Trauring. Das begriff Reisiger nicht. (S.104).
… Da der erzeugte Rauch auch in dunkler Nacht deutlich wahrnehmbar ist, bleibt es jedem überlassen, sich seiner Einwirkung rechtzeitig zu entziehen. …bewirkte insgesamt 15000 Gasvergiftete, davon 5000 Tote… .“ (S. 114).

Beim Gaskrieg während des Ersten Weltkrieges wurden rund 120.000 Tonnen Kampfstoffe 38 verschiedener Typen eingesetzt, wobei ca. 100.000 Soldaten starben und 1,2 Millionen Soldaten verwundet wurden. (Wikipedia: »Gaskrieg während des ersten Weltkriegs«)

Größter Schlager der Gegenwart! Deutsch sei dein Gruß! Künstlerisch ausgefertigtes Grußtäfelchen, gesetzlich geschützt, 15x11 cm, zum Anheften an Türen, Geschäftsräumen, Gastwirtschaften usw. zum 10-Pfennig-Verkauf. (S.185).
Auf bevorstehende Erfolge nicht zu sehr hinweisen, da die Freude über unsere Siege dadurch herabgesetzt oder bei ihrem Ausbleiben Enttäuschung erregt wird. (Presse-Besprechung der Oberzensurstelle des Kriegspresseamts, 20.8.1915). (S. 12)
Es ist in letzter Zeit widerholt vorgekommen, daß die Zivilbevölkerung beim Durchzug von Kriegsgefangenen ein außerordentlich taktloses Benehmen gezeigt hat. Nicht nur haben sich große Scharen von Neugierigen gesammelt, sondern viele Zuschauer – namentlich der weibliche Teil – haben sich auch nicht enthalten, Mitleid mit den Gefangenen durch Weinen, durch Beschenken und durch Hilfeleistung beim Tragen von Gepäck usw. zu zeigen. Die Zivilbevölkerung wird darauf hingewiesen, daß Maßnahmen getroffen sind, damit ein derartiges Verhalten künftig unter allen Umständen verhindert wird. (Stadtpolizei von Schwerin im April 1915, S. 194).

Vielleicht wollte die unbotmäßige Zivilbevölkerung doch nur mit den Gefangenen so umgehen, wie sie es für ihre Männer und Söhne beim Gegner erhoffte?

Das Lebensalter von Offizieren kann bei Todesanzeigen unbedenklich angegeben werden, sofern im übrigen Nr. 23 O.Z. beachtet wird. Unzulässig: 18jähriger Leutnant als Kompanieführer. (Oberzensurstelle Nr. 375 O.Z. 5.7.1915)
Todesanzeigen: 1. Lange Sammelnachrufe der Truppenteile sind verboten; höchstens 5 bis 6 Namen. 2. Sammelnachrufe von Vereinen etc. sind gestattet. (Nr. 23 O.Z. 4.12.1914) (S. 252).
Da ist wieder die Frage. Das hat Reisiger tausendmal überlegt. Wer nicht tötet, wird getötet. (S. 259).
Da Reisiger, wie man ihn findet und zum Generalskommando führt, erklärt, daß er den Krieg für das größte aller Verbrechen hält, verhaftet man ihn und sperrt ihn ins Irrenhaus. (S. 357).

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