Stichworte eines Intellektuellen- und Publizistenstreits

Für eine Argumentationskrise spricht auch die in der gleichen Zeit-Ausgabe wie die gegenteiligen Bekenntnisse Greiners abgedruckte Lesart des stellvertretenden Chefredakteurs Bernd Ulrich zur ›Weltmacht Geduld‹ (der Kanzlerin): »Doch nun bekommt Merkel mit den drei Landtagswahlen das, was die Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 für Helmut Kohls Vereinigungspolitik war – eine nachträgliche demokratische Legitimation. Um das zu wissen, braucht man den kommenden Sonntag womöglich gar nicht abzuwarten« (10.3.2016, S. 2.). Die zeitgeschichtliche Bewertung des Jahres 1990 sei dahingestellt – nachlegitimierend konnte letztlich wohl erst die gesamtdeutsche Wahl im Dezember gewesen sein. Aber diese Sichtweise würde auch daran hindern, vor Auszählung in Landesergebnisse etwas hineindeuten zu wollen, was allenfalls mit der nächsten Bundestagwahl interpretierbar sein wird. Die Brücke zur weniger vordergründig tagespolitischen Grundsatzdebatte schlägt ebenfalls in jener Zeit-Vorwahlnummer eine Erwiderung des Politiktheoretikers und -beraters Herfried Münkler auf Sloterdijk. Jener hatte wenige Tage zuvor in einer »Antwort auf die Kritiker« seine und des (früheren ›Philosophisches Quartett‹-)Kollegen Safranskis »Einlassungen eine linkskonservative Sorge um den sozialen Zusammenhalt« genannt und auch die nachträgliche moralische Aufladung einer situativ-pragmatischen Entscheidung kritisiert: »Safranski und ich haben, unabhängig voneinander, der Volksmeinung recht gegeben, die in breitester Mehrheit dem Eindruck zustimmt, es habe sich bei der Merkelschen Willkommens-Propaganda um eine Improvisation in letzter Minute gehandelt, die aus einer Verlegenheit eine überlegte Maßnahme machen wollte.« Das sei aber nicht »unbedingt ehrenrührig. Politik in der überkomplexen Moderne ist in weitaus höherem Maß improvisatorisch bestimmt, als das Wählervolk, das lieber an eine weit planende Intelligenz von oben glaubt, wahrhaben möchte.« Zwar vermisst Sloterdijk bei »einer in Vagheiten erfahrenen Übergangsfigur wie Frau Merkel« die rechtzeitige »Gegensteuerung« und bespöttelt seinen Kritiker Münkler als »Kavaliers-Politologen«, der »jetzt Frau Merkels unbeirrbar konfusem Handeln ein grand design unterstellt«. Aber das ist jenseits der Aversion nicht prinzipiell oppositionell gemeint: »Die Kunst, den Zufall zu zähmen, erweist sich als schwerer erlernbar denn je. Sie ist zur Stunde beim deutschen Außenminister in guten Händen.« Dieses angesichts der Koalitionsregierung nicht selbstverständliche Lob für den SPD-Politiker Steinmeier umfasst auch militärische Zurückhaltung, während das Gegenteil Fluchtursachen schuf: »Diente ›Strategie‹ nicht stets als Ausrede für zukunftsblinden Interventionismus, beginnend mit der Destabilisierung unwillkommener Regime, endend mit der Überlassung ruinierter Staaten an Chaos, Terror und nie beendbaren Bürgerkrieg?« Am Fazit irritiert wesentlich die Vermischung von Resthoffnung auf künftige Problembewältigung mit einer Unterstellung und aus ihr folgendem Alarmismus: »Sind nach mehreren Jahren der bejahten Überrollung erst einmal fünf Millionen Asylanten im Land, kann man nur noch dafür beten, es möge einen Masterplan gegeben haben. Vielleicht füllt sich Merkels bis heute haltlose Rede von der ›europäischen Lösung‹ in den kommenden Jahren doch noch mit brauchbarer Substanz« (Zeit Online v. 9.3.2016 – »Primitive Reflexe«). So wie die hingeworfene Ziffer ›fünf Millionen Asylanten‹ nur spekulativ sein kann, steht belegfrei unterstellte »bejahte Überrollung« in ungeklärtem Widerspruch zu der in den Passagen zuvor dargelegten Improvisationslage und Konzeptionsschwäche. Von der ›Überrollung‹ hat Sloterdijk auch im Magazin Cicero gesprochen und in undiskutiertem Verhältnis zum ›Lügenpresse‹-Verdikt behauptet: »Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr« (Cicero Online v. 28.1.2016 – »Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«).

Münkler hatte zuvor Safranski und Sloterdijk als politisch »ahnungslos« und »unbedarft« bezeichnet, noch die Realität zu sehen: »Im Prinzip lief die Entscheidung für durchlässige Grenzen nämlich darauf hinaus, Zeit zu kaufen, um die Ursachen der Krise und deren weitere Entwicklung zu erfassen und europäische Lösungen für ein Problem zu erarbeiten, das eine Herausforderung Europas für die nächsten Jahrzehnte darstellt.« Das mag plausibel klingen, wenngleich ebenfalls mit spekulativen (Nicht-)Berechnungen, dabei aber recht ökonomistisch jenseits der Gegenposition argumentiert wird: »Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet« (Zeit Online v. 20.2.2016 – »Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können«). In der Replik auf die Antwort Sloterdijks beschränkt sich Münkler aber nicht auf Darlegung einer »in der Rechts- wie Politikwissenschaft konstatierten Zersplitterung von Souveränität«, sondern bestreitet dem Schreibstil des Kontrahenten geradewegs die fortdauernde Existenzberechtigung: »Solange die Bundesrepublik ein Akteur ohne größere politische Spielräume und ohne politische Handlungsmacht war, hat sie sich diesen Typus des öffentlichen Intellektuellen folgenlos leisten können« (Die Zeit v. 10.3.2016, S. 42).

Safranski ließ zunächst offen, wie seine Aussagen zu verstehen sind, »dass Europa auch eine Festung sein muss« und es »Pflicht und Schuldigkeit« eines »souveränen Staates« sei, »über seine Grenzen zu wachen« (NZZ am Sonntag v. 8.11.2015 – »Die Deutschen sind in der Pubertät«). Insoweit deutlicher und polemischer im national- und nicht EU-politischen Sinne wurde er in einem anderen Interview. »Wenn eine Staatschefin wie Angela Merkel sagt: ›Wir können die Grenzen gar nicht mehr kontrollieren‹, reiht man sich ein unter die zerfallenden Staaten, wie jene in Afrika« (Die Weltwoche 52/2015 – »Politischer Kitsch«). Es habe angeblich die Politik »die Entscheidung getroffen, Deutschland zu fluten«, und »da möchte ich doch bitte gefragt werden« (Welt.de v. 28.9.2015). Darin schwingt wie bei anderen die Sorge um den eigenen Bedeutungsverlust mit; doch jedenfalls zur nächsten Bundestagswahl ist auch er gefragt und hat sogar zwei Stimmen (diejenige in der Wahlurne und die Chance, dass seine Empfehlung und Begründung irgendwo mit mehr als marginaler Auflage gedruckt wird).

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