Von der Krise zur Revolte des bürgerlichen Bewusstseins

Als Ausgangspunkt von Peter Brückners Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären, lässt sich der bei ihm zentrale Begriff einer spezifischen Krise des bürgerlichen Bewusstseins bestimmen. Und systematisch angegangen ist er diese Frage bereits in seinem 1965 erstmals veröffentlichten Werk Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Über die Widersprüche des Wohlstandes.

In diesem Buch holt er historisch weit aus und geht zurück bis auf die Französische Revolution, als die große Trias der revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität erstmals machtvoll erhoben wurde. Brückner zeigt dann allerdings auf, dass und wie sich diese revolutionären Ideale des 18. im 19. Jahrhundert an den neuen ökonomischen Tendenzen des bürgerlichen Kapitalismus nachhaltig brechen. Die proklamierte Gleichheit der Rechte war von Beginn an nur innerhalb einer zum Teil schreienden Ungleichheit von Gütern und Eigentumstiteln zu haben. So verkam Freiheit im 20.Jahrhundert zu einem rein inneren Zustand innerhalb des vereinzelten und isolierten Individuums. In dieser neuen Innerlichkeit des Staatsbürgers haben Herrschaft und Repression wenn auch nicht vollkommen, so doch weitgehend ihre unmittelbare Direktheit und Äußerlichkeit verloren. Aus Freiheit sei die ohne offenen Zwang gewährte Zustimmung und aus Gleichheit Konformität geworden. Die Brüderlichkeit habe sich nicht weiter entwickelt zur Solidarität, sondern zurückentwickelt zur kriegerischen Männer-Kameradschaft. Und die Demokratie schließlich wurde »erst als konstitutionelle Oligarchie funktionstüchtig« (1965/1972, S.69). Was einstmals gedacht war als Gesellschaft von Citoyens, von gesellschaftlich engagierten Staats-Bürgern, wurde zur Gemeinschaft von Warenproduzenten und Bourgeois, zur Warengesellschaft, in der gleich ist, wer gleich viel und Gleiches konsumiert, in der man sich die Welt in bloßer Warenform aneignet und Individualität zur ›Produktpersönlichkeit‹ verkommt. Aus der demokratischen wurde so die liberale Tradition, in welcher sich unter der »versteinernden Decke der Konformität (…) die archaische Matrix der Aggression« (ebd., S.82) erhalten habe und sich das private Individuum, »der einzelne als der, der bloß zuschaut oder sich abwendet«, als »der Baustein ihrer formierten Gesellschaft« erweise (1967, S.100).

Wo solcherart der alte Traum allgemeinmenschlicher Revolution zum sozialen Frieden einer unversöhnten und unversöhnlichen Marktgesellschaft verkommen sei, wo sich die Herrschaftstechniken sozialer Integration immer weiter verfeinern und die Gleichschaltung des psychischen wie des gesellschaftlichen Institutionen-Apparates so weit fortgeschritten sei, dass »kaum einer das Possessivpronomen ›mein‹ auch nur mit einer Spur von Recht (gebraucht)« (1965/1972, S.147), da werde, so Brückner in direkter Anlehnung an seinen psychoanalytischen Lehrer Alexander Mitscherlich, die Verweigerung von Gehorsam zur ebenso individuellen wie gesellschaftlichen Pflicht für all jene, die an den alten Freiheitsidealen auch unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen festhalten wollen. Gegen »die alles verschlingende Konformität« (ebd., S.143) helfe deswegen nur die permanente Revolution des Nonkonformismus; gegen die Involution der Demokratie helfe nur die Re-Politisierung, die Re-Demokratisierung des bürgerlichen Lebens, also die Partizipation des Einzelnen an seiner Gesellschaft.

Brückner liest also die Verhältnisse der fünfziger und sechziger Jahre als Krise des bürgerlichen Bewusstseins und die Revolte als eine spezifische Antwort auf diese Krise. Für ihn war die 1966/67 einsetzende Politisierung der Studierendenschaft und der Jugend eine »Renaissance des bürgerlichen Bewusstseins«, eine »Rettung von Individualität« (1967, S.107). In seinem 1967 erschienenen Werk zur Transformation des demokratischen Bewusstseins sind ihm die Studierenden zuallererst demonstrierende Bürger, also die Schwalben einer Emanzipationsbewegung gegen eine seiner Meinung nach historisch überholte Form autoritärer Herrschaft. Um 68 herum setze sich »das revolutionäre Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft gegen das falsche Bewusstsein spätkapitalistischer oder stalinistischer Regression zur Wehr« (ebd., S.93).

Was genau meint Brückner hier mit dem für ihn zentralen Begriff des bürgerlichen Bewusstseins? Bürgerliches Bewusstsein bezeichnet hier nicht den klassenanalytischen, sondern den sozial- und vor allem ideengeschichtlichen Gehalt des Begriffs. Bürgerliches Bewusstsein meint hier ein nicht-proletarisches, nicht notwendigerweise sozialistisches Bewusstsein und bezeichnet ein radikal-demokratisches, ein der bürgerlichen Sozialphilosophie (und nicht unbedingt allen Bürgerlichen) zugehörendes, im Grunde antiautoritäres Bewusstsein.

Die zentralen Strategien der antiautoritären Revolte: ›Aufklärung und Aktion‹, ›Politisierung der Wissenschaft‹, ›Eroberung der Öffentlichkeit‹, ›partizipative, direkte Demokratie‹, werden hier ebenso wie die neuen Demonstrationstechniken und die Strategie der Provokation zu Mitteln einer gesellschaftlichen Re-Demokratisierung, die an sich nur die uneingelösten Versprechen frühbürgerlicher, d.h. radikal-demokratischer Emanzipation einklagt. Und dieser Re-Demokratisierungs- und Re-Politisierungs-Prozess beginnt in der spätbürgerlich formierten Gesellschaft von den soziologischen Rändern der Gesellschaft ausgehend, bei jenen gesellschaftlich Marginalisierten also, deren Abstand zum im bürgerlich-kapitalistischen Alltag vorherrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital es ihnen ermögliche, sich aus den vorherrschenden repressiven Integrationsprozessen zumindest partiell herauszuziehen und mittels Demonstration und Provokation zur politisch-tätigen Reflexion zu gelangen. Gerade diese Funktion übernehmen Ende der sechziger Jahre die Studierenden und die studentische Linke – die rebellischen Söhne und Töchter des kleinen und großen Bürgertums.

Wenn wir es aber 1967/68 in einem gewissen, wohlverstandenen Sinne mit einer bürgerlichen Revolte zu tun haben, wie erklärt sich Brückner dann, dass sozialistische Ideen in ihr eine solch tragende Rolle spielen? Er thematisiert das nicht explizit, implizit liegt es jedoch auch bei ihm auf der Hand: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform konsequent demokratisieren kann man nur, wenn man die ihr eigene Freiheit, die politisch-individualrechtliche Freiheit, auch auf die sozialen und kulturellen Bereiche ausdehnt. Die politische Freiheitsidee konsequent auf die sozialen und kulturellen Bereiche der Gesellschaft ausdehnen und zur sozialen Freiheit weiter zu entwickeln, funktioniert aber nur, wenn man auch die Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen in Betrieb und Büro aufhebt. Dies wiederum geht nicht ohne die Aufhebung von Profitlogik, Konkurrenzkampf und privatem Eigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Und das ist nichts anderes als die Überwindung der Marktwirtschaft, die Überwindung des mit dem bürgerlichen Privateigentum unlösbar verschränkten Vergesellschaftungsprinzips. Auch die bürgerlich-kapitalistische Kultur kann man nicht konsequent demokratisieren, wenn man nicht die vom Bürgertum immer wieder mit viel Erfolg vorangetriebene Spaltung von Völkern, Klassen, Schichten, Geschlechtern und Ethnien überwindet, wenn man nicht anstelle der individuellen und Gruppen-Konkurrenz die kollektive Praxis einer Ethik gemeinsamer Verantwortung setzt, die auf der »umfassenden demokratischen Teilhabe auf allen Ebenen des sozialen Lebens einschließlich der materiellen Produktion sowie gleichberechtigtem Zugang zum Prozess der Kulturerzeugung« beruht und »konzertiertes sozialistisches Handeln voraus(setzt)« (Eagleton 2000, S.170; vgl. Jünke 2007, S.204ff.). Und gerade diese Dialektik von demokratischem und sozialistischem Kampf, gerade dieses ebenso widerspruchsvolle wie organische Ineinanderübergehen des Einen ins Andere, verspricht die antiautoritäre Strategie an der Nahtstelle von radikaler Demokratisierung und Sozialisierung. Artikuliert wird sie von einer Neuen Linken, die in sich heterogen ist, aber versucht, den Zusammenhang zu denken und zu organisieren.

Die Stärke dieser antiautoritären Strategie als einer spezifischen Umsetzung des klassisch-emanzipativen Programms von Aufklärung und Aktion liegt gerade darin, dass sie Individuen und Kleingruppen mobilisiert und politische Erfahrung ermöglicht. Sie politisiert – in Brückners Sicht: sie re-politisiert – und verändert damit gleichermaßen individuell wie kollektiv Bewusstsein. Sie ist damit ein Akt politisch-tätiger Reflexion. Sie führt den radikal-demokratischen Kampf an die strukturellen Grenzen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsform heran, und ist, gleichsam nebenbei, durch seine Vorbildfunktion auch ein Mittel der Re-Politisierung der Arbeiterschaft. Genau dies ist auch die eigentliche politische Strategie des antiautoritären Flügels der APO: Gesellschaftlich marginalisierte Minderheiten sollen in einem Prozess von Aufklärung und Aktion, und mittels der begrenzten Regelverletzung (›Provokation‹), die Passivität der Massen durchbrechen und eine Art der Kulturrevolution in Gang setzen, die dann wiederum die Grundlage einer durchaus klassisch sozialistischen Revolution schaffen würde.

Formuliert findet man diese Strategie bei den Vordenkern Dutschke, Krahl und anderen. Und auch Peter Brückner vertritt in seinen Schriften diese aus der Analyse der historisch neuartigen sozialpsychologischen Integrationsprozesse abgeleitete Theorie der antiautoritären Revolte als einer Art der Vorrevolutionstheorie. Deswegen wurde er auch nicht müde, den heterogenen und dynamischen Charakter des Aufbruchs zu betonen (vgl. bspw. 1968) und zu verdeutlichen, warum in dieser an sich nicht-proletarischen, d.h. nicht-sozialistischen Revolte von Provokateuren doch ein Moment sozialistischer Avantgarde lebt, obwohl doch, wie er schreibt, die lohnabhängigen Massen »so ihre Lage und Emanzipation nicht artikulieren« (1970, S.31).

Aus dieser Dialektik von Demokratie und Sozialismus leitet sich bei ihm auch die Erkenntnis- und Untersuchungsmethode ab, seine spezifische Haltung – denn die schwierige Aufgabe des linken kritischen Intellektuellen ist für ihn das Denken des Zusammenhangs, das Denken des Ganzen. Es sei dieser ganzheitliche Ansatz, der allein den zwangsläufig partiell Handelnden ihren eigenen geschichtlichen Zusammenhang als Aufklärung und Selbstaufklärung anzubieten und damit das allseitige Wesen Mensch auf allseitige Weise zu entfalten vermöge. Es komme dabei darauf an, »sich dialektisch des jeweils Unterdrückten vermittelnd anzunehmen« und »antikritisch die wirkliche Komplexität der Sachverhalte, um die es geht, erst wieder herzustellen« (1968, S.111). Sich dialektisch des jeweils Unterdrückten vermittelnd anzunehmen und dabei antikritisch, also kritisch gegen die Vereinfacher und Kritiker der Revolte, die wirkliche Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte erst wieder herzustellen – dies ist, was Peter Brückner unter den Begriff der politisch-tätigen Reflexion fasst und als ein Produkt geschichtlicher Arbeit versteht, als Überwindung der Ich-Schwäche des falschen Bewusstseins ebenso wie als kollektive Veränderung.

Diese politisch-tätige Reflexion – »Man muss die Sozietät handelnd verändern, wenn man sie adäquat erkennen will; aber nur jenes Handeln erkennt verändernd, das selbst als tätige politische Reflexion begriffen werden darf.« (1967, S.136) – versteht Brückner als Einheit von Theorie und Praxis. Und an diesem methodologischen Punkt vermischen sich frühbürgerliche Aufklärung, marxistische Dialektik und die an Freud geschulte Psychoanalyse zur spezifisch Brücknerschen Methodik politischer Psychologie. Konzeptionell, methodologisch, speist sich diese Form eines eingreifenden Denkens aus dem Erbe des frühbürgerlichen Humanismus ebenso wie aus den Emanzipationsversprechen der radikalen Arbeiterbewegungstradition – und weiß doch zugleich, dass beide reichlich verwaist daherkommen in den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts.

Unter dem »Schatten der abwesenden Revolution hier, der unvollkommenen dort« (Lefebvre 1962, S.264), das war die eingängige Formulierung, mit der der französische Linksphilosoph Henri Lefebvre – Brückner sollte ihn zeitlebens besonders schätzen – zu Beginn dieser sechziger Jahre über den eigenartigen Übergangscharakter seiner Zeit nachdachte und mit demselben politisch-theoretischen Problem wie Brückner kämpfte, als er in Auseinandersetzung mit dogmatischen wie revisionistischen Tendenzen schrieb, dass wir in einer fragmentierten, zerrissenen und mehrfach differenzierten Welt die Differenzen und Fragmente begreifen und das vereinen müssen, »wenn möglich, was getrennt worden ist. (…) Reduzieren wir nichts und klammern wir nichts aus, es sei denn vorläufig.« (Ebd., S.55) In diesen Sätzen kommt eine spezifische (ebenso theoretische wie praktische) Haltung zum Tragen, eine Haltung, die das Festhalten am alten, vielfältigen Erbe der Emanzipationsbewegungen mit einer ebenso theoretischen wie praktischen Offenheit kombiniert, die Lefebvre zu einem herausragenden Vordenker der französischen ›Neuen Linken‹ werden lassen sollte. Und es ist dieselbe konzeptionelle Haltung, die sich auch bei Peter Brückner findet und ihn ab Mitte der sechziger Jahre zu einem der herausragenden Denker der westdeutschen Neuen Linken werden ließ.

 

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