von Christoph Jünke

Wer über Leben und Werk des Sozialpsychologen und Gesellschaftstheoretikers Peter Brückner (1922-1982) nachdenken möchte, kann dies nicht tun, ohne dabei über die Neue Linke nachzudenken, d.h. über den Versuch, beim Ausbruch aus dem herrschenden Falschen eine politisch mehrheitsfähige, linke Alternative sowohl zum sozialdemokratischen Reformismus wie zum stalinistischen Kommunismus aufzubauen.

Über die Neue Linke reden heißt auch und nicht zuletzt, über die Revolte von 68 zu reden. In der Tat wird in der BRD viel und gerne über diese Revolte geredet und geforscht. Doch trotz der mittlerweile immensen Literatur zum Thema – sowohl Memoiren und Dokumentationen wie auch Sachbücher und wissenschaftliche Werke – scheint für die Revolte noch immer Hegels Diktum zu gelten, dass das, was bekannt ist noch längst nicht erkanntsein muss. Denn was war denn nun diese Revolte eigentlich? War sie, wie die meisten heute meinen, eine bloße Jugend- oder Generationenrevolte oder war sie mehr und anderes? War sie vielleicht die historische Nachgeburt veralteter Sozialismusformen oder, andere Variante, der Vorschein neuer sozialer Bewegungen, neuer antisystemischer Bewegungen gar? Anders gefragt: Hatte denn diese Revolte ihre historische Logik oder war das alles nur ein historischer Zufall? Und welche Rolle spielte in ihr jene schwer zu fassende Neue Linke, die doch heute weitgehend Geschichte ist?

Man findet zu diesen gleichsam geschichtsphilosophischen Fragen kaum eine Diskussion in der umfangreichen Literatur. Noch immer hat diese Diskussion nicht einmal das Niveau erreicht, das ein Peter Brückner bereits zu Beginn der siebziger Jahre einklagte, als er sich über die zur Erforschung der Protestbewegung notwendigen methodischen Ansätze Gedanken machte, an die noch heute mit Erkenntnisgewinn anzuknüpfen wäre. In dem Exposé eines geplanten, aber nicht realisierten Forschungsprojektes unterschied er dort vier unterschiedliche Forschungsmethoden. Da wär zum ersten der historiographische Ansatz als die Frage nach dem, was eigentlich der Fall war, und die über das bloße »wer, wann, wie und warum« hinaus gehe, »weil die Bestimmung des Subjekts, des Ortes, der Zeit, der Form und der Ursachen bzw. Anlässe ohne Angabe von objektivierbaren Bedingungen, von Absichten, Zielen… nicht vorankäme« (Brückner 1972/73, S.307). Der zweite Ansatz sei der politisch-phänomenologische, die Frage also nach dem Strukturtypus der Protestbewegung als einer Bewegung, die Frage nach Zeit, Raum, Verlaufsweisen, Organen und auch Handlungsgestalten, die zugleich eine Frage ist nach dem spezifischen, von der Protestbewegung aktiv konstituierten Bewusstsein. Darauf aufbauend gebe es, drittens, den historisch-materialistischen Ansatz als eines theoretischen: »Er hat die (Re-)Konstruktion des theoretischen Begründungszusammenhangs der Protestbewegung zu leisten und damit den historischen, gesellschaftlichen und politischen Ort der Protestbewegung anzugeben« (ebd., 308). Schlussendlich gehe es dabei auch um die Definition des erkenntnisleitenden Interesses, um die Frage also, ob es sich bei dieser Untersuchung um eine Kritik, eine Antikritik oder eine Metakritik handele.

Nicht zufällig finden wir in seinen Schriften originelle und erinnernswerte Antworten und Antwortversuche auf diese und andere Fragen, denn wie nur wenige andere hat sich Peter Brückner seit Mitte der 1960er Jahre zum Interpreten der außerparlamentarischen Opposition (APO) und der antiautoritären Revolte gemacht. Und wie kein anderer hat er in den 1970er Jahren die spezifischen, aus dem gesellschaftspolitischen Charakter dieser Revolte resultierenden Widerspruchs- und Krisenprozesse, die Dialektik des antiautoritären, provozierenden Bewusstseins analysiert und thematisiert, die zuerst zu ihrer eigenen Aushöhlung und schließlich auch zu ihrem Zerfall führen sollte. Wohl bei keinem anderen deutschen Intellektuellen sind die eigene politische Identität und der werktheoretische Gehalt eine solch weitgehende Symbiose eingegangen: Über Brückners Werk zu reden heißt, über die westdeutsche Neue Linke zu reden – und nach der Aktualität seines Werkes zu fragen heißt, nach dem Schicksal dieser Neuen Linken zu fragen.

 


Von der Krise zur Revolte des bürgerlichen Bewusstseins

Als Ausgangspunkt von Peter Brückners Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären, lässt sich der bei ihm zentrale Begriff einer spezifischen Krise des bürgerlichen Bewusstseins bestimmen. Und systematisch angegangen ist er diese Frage bereits in seinem 1965 erstmals veröffentlichten Werk Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Über die Widersprüche des Wohlstandes.

In diesem Buch holt er historisch weit aus und geht zurück bis auf die Französische Revolution, als die große Trias der revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität erstmals machtvoll erhoben wurde. Brückner zeigt dann allerdings auf, dass und wie sich diese revolutionären Ideale des 18. im 19. Jahrhundert an den neuen ökonomischen Tendenzen des bürgerlichen Kapitalismus nachhaltig brechen. Die proklamierte Gleichheit der Rechte war von Beginn an nur innerhalb einer zum Teil schreienden Ungleichheit von Gütern und Eigentumstiteln zu haben. So verkam Freiheit im 20.Jahrhundert zu einem rein inneren Zustand innerhalb des vereinzelten und isolierten Individuums. In dieser neuen Innerlichkeit des Staatsbürgers haben Herrschaft und Repression wenn auch nicht vollkommen, so doch weitgehend ihre unmittelbare Direktheit und Äußerlichkeit verloren. Aus Freiheit sei die ohne offenen Zwang gewährte Zustimmung und aus Gleichheit Konformität geworden. Die Brüderlichkeit habe sich nicht weiter entwickelt zur Solidarität, sondern zurückentwickelt zur kriegerischen Männer-Kameradschaft. Und die Demokratie schließlich wurde »erst als konstitutionelle Oligarchie funktionstüchtig« (1965/1972, S.69). Was einstmals gedacht war als Gesellschaft von Citoyens, von gesellschaftlich engagierten Staats-Bürgern, wurde zur Gemeinschaft von Warenproduzenten und Bourgeois, zur Warengesellschaft, in der gleich ist, wer gleich viel und Gleiches konsumiert, in der man sich die Welt in bloßer Warenform aneignet und Individualität zur ›Produktpersönlichkeit‹ verkommt. Aus der demokratischen wurde so die liberale Tradition, in welcher sich unter der »versteinernden Decke der Konformität (…) die archaische Matrix der Aggression« (ebd., S.82) erhalten habe und sich das private Individuum, »der einzelne als der, der bloß zuschaut oder sich abwendet«, als »der Baustein ihrer formierten Gesellschaft« erweise (1967, S.100).

Wo solcherart der alte Traum allgemeinmenschlicher Revolution zum sozialen Frieden einer unversöhnten und unversöhnlichen Marktgesellschaft verkommen sei, wo sich die Herrschaftstechniken sozialer Integration immer weiter verfeinern und die Gleichschaltung des psychischen wie des gesellschaftlichen Institutionen-Apparates so weit fortgeschritten sei, dass »kaum einer das Possessivpronomen ›mein‹ auch nur mit einer Spur von Recht (gebraucht)« (1965/1972, S.147), da werde, so Brückner in direkter Anlehnung an seinen psychoanalytischen Lehrer Alexander Mitscherlich, die Verweigerung von Gehorsam zur ebenso individuellen wie gesellschaftlichen Pflicht für all jene, die an den alten Freiheitsidealen auch unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen festhalten wollen. Gegen »die alles verschlingende Konformität« (ebd., S.143) helfe deswegen nur die permanente Revolution des Nonkonformismus; gegen die Involution der Demokratie helfe nur die Re-Politisierung, die Re-Demokratisierung des bürgerlichen Lebens, also die Partizipation des Einzelnen an seiner Gesellschaft.

Brückner liest also die Verhältnisse der fünfziger und sechziger Jahre als Krise des bürgerlichen Bewusstseins und die Revolte als eine spezifische Antwort auf diese Krise. Für ihn war die 1966/67 einsetzende Politisierung der Studierendenschaft und der Jugend eine »Renaissance des bürgerlichen Bewusstseins«, eine »Rettung von Individualität« (1967, S.107). In seinem 1967 erschienenen Werk zur Transformation des demokratischen Bewusstseins sind ihm die Studierenden zuallererst demonstrierende Bürger, also die Schwalben einer Emanzipationsbewegung gegen eine seiner Meinung nach historisch überholte Form autoritärer Herrschaft. Um 68 herum setze sich »das revolutionäre Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft gegen das falsche Bewusstsein spätkapitalistischer oder stalinistischer Regression zur Wehr« (ebd., S.93).

Was genau meint Brückner hier mit dem für ihn zentralen Begriff des bürgerlichen Bewusstseins? Bürgerliches Bewusstsein bezeichnet hier nicht den klassenanalytischen, sondern den sozial- und vor allem ideengeschichtlichen Gehalt des Begriffs. Bürgerliches Bewusstsein meint hier ein nicht-proletarisches, nicht notwendigerweise sozialistisches Bewusstsein und bezeichnet ein radikal-demokratisches, ein der bürgerlichen Sozialphilosophie (und nicht unbedingt allen Bürgerlichen) zugehörendes, im Grunde antiautoritäres Bewusstsein.

Die zentralen Strategien der antiautoritären Revolte: ›Aufklärung und Aktion‹, ›Politisierung der Wissenschaft‹, ›Eroberung der Öffentlichkeit‹, ›partizipative, direkte Demokratie‹, werden hier ebenso wie die neuen Demonstrationstechniken und die Strategie der Provokation zu Mitteln einer gesellschaftlichen Re-Demokratisierung, die an sich nur die uneingelösten Versprechen frühbürgerlicher, d.h. radikal-demokratischer Emanzipation einklagt. Und dieser Re-Demokratisierungs- und Re-Politisierungs-Prozess beginnt in der spätbürgerlich formierten Gesellschaft von den soziologischen Rändern der Gesellschaft ausgehend, bei jenen gesellschaftlich Marginalisierten also, deren Abstand zum im bürgerlich-kapitalistischen Alltag vorherrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital es ihnen ermögliche, sich aus den vorherrschenden repressiven Integrationsprozessen zumindest partiell herauszuziehen und mittels Demonstration und Provokation zur politisch-tätigen Reflexion zu gelangen. Gerade diese Funktion übernehmen Ende der sechziger Jahre die Studierenden und die studentische Linke – die rebellischen Söhne und Töchter des kleinen und großen Bürgertums.

Wenn wir es aber 1967/68 in einem gewissen, wohlverstandenen Sinne mit einer bürgerlichen Revolte zu tun haben, wie erklärt sich Brückner dann, dass sozialistische Ideen in ihr eine solch tragende Rolle spielen? Er thematisiert das nicht explizit, implizit liegt es jedoch auch bei ihm auf der Hand: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform konsequent demokratisieren kann man nur, wenn man die ihr eigene Freiheit, die politisch-individualrechtliche Freiheit, auch auf die sozialen und kulturellen Bereiche ausdehnt. Die politische Freiheitsidee konsequent auf die sozialen und kulturellen Bereiche der Gesellschaft ausdehnen und zur sozialen Freiheit weiter zu entwickeln, funktioniert aber nur, wenn man auch die Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen in Betrieb und Büro aufhebt. Dies wiederum geht nicht ohne die Aufhebung von Profitlogik, Konkurrenzkampf und privatem Eigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Und das ist nichts anderes als die Überwindung der Marktwirtschaft, die Überwindung des mit dem bürgerlichen Privateigentum unlösbar verschränkten Vergesellschaftungsprinzips. Auch die bürgerlich-kapitalistische Kultur kann man nicht konsequent demokratisieren, wenn man nicht die vom Bürgertum immer wieder mit viel Erfolg vorangetriebene Spaltung von Völkern, Klassen, Schichten, Geschlechtern und Ethnien überwindet, wenn man nicht anstelle der individuellen und Gruppen-Konkurrenz die kollektive Praxis einer Ethik gemeinsamer Verantwortung setzt, die auf der »umfassenden demokratischen Teilhabe auf allen Ebenen des sozialen Lebens einschließlich der materiellen Produktion sowie gleichberechtigtem Zugang zum Prozess der Kulturerzeugung« beruht und »konzertiertes sozialistisches Handeln voraus(setzt)« (Eagleton 2000, S.170; vgl. Jünke 2007, S.204ff.). Und gerade diese Dialektik von demokratischem und sozialistischem Kampf, gerade dieses ebenso widerspruchsvolle wie organische Ineinanderübergehen des Einen ins Andere, verspricht die antiautoritäre Strategie an der Nahtstelle von radikaler Demokratisierung und Sozialisierung. Artikuliert wird sie von einer Neuen Linken, die in sich heterogen ist, aber versucht, den Zusammenhang zu denken und zu organisieren.

Die Stärke dieser antiautoritären Strategie als einer spezifischen Umsetzung des klassisch-emanzipativen Programms von Aufklärung und Aktion liegt gerade darin, dass sie Individuen und Kleingruppen mobilisiert und politische Erfahrung ermöglicht. Sie politisiert – in Brückners Sicht: sie re-politisiert – und verändert damit gleichermaßen individuell wie kollektiv Bewusstsein. Sie ist damit ein Akt politisch-tätiger Reflexion. Sie führt den radikal-demokratischen Kampf an die strukturellen Grenzen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsform heran, und ist, gleichsam nebenbei, durch seine Vorbildfunktion auch ein Mittel der Re-Politisierung der Arbeiterschaft. Genau dies ist auch die eigentliche politische Strategie des antiautoritären Flügels der APO: Gesellschaftlich marginalisierte Minderheiten sollen in einem Prozess von Aufklärung und Aktion, und mittels der begrenzten Regelverletzung (›Provokation‹), die Passivität der Massen durchbrechen und eine Art der Kulturrevolution in Gang setzen, die dann wiederum die Grundlage einer durchaus klassisch sozialistischen Revolution schaffen würde.

Formuliert findet man diese Strategie bei den Vordenkern Dutschke, Krahl und anderen. Und auch Peter Brückner vertritt in seinen Schriften diese aus der Analyse der historisch neuartigen sozialpsychologischen Integrationsprozesse abgeleitete Theorie der antiautoritären Revolte als einer Art der Vorrevolutionstheorie. Deswegen wurde er auch nicht müde, den heterogenen und dynamischen Charakter des Aufbruchs zu betonen (vgl. bspw. 1968) und zu verdeutlichen, warum in dieser an sich nicht-proletarischen, d.h. nicht-sozialistischen Revolte von Provokateuren doch ein Moment sozialistischer Avantgarde lebt, obwohl doch, wie er schreibt, die lohnabhängigen Massen »so ihre Lage und Emanzipation nicht artikulieren« (1970, S.31).

Aus dieser Dialektik von Demokratie und Sozialismus leitet sich bei ihm auch die Erkenntnis- und Untersuchungsmethode ab, seine spezifische Haltung – denn die schwierige Aufgabe des linken kritischen Intellektuellen ist für ihn das Denken des Zusammenhangs, das Denken des Ganzen. Es sei dieser ganzheitliche Ansatz, der allein den zwangsläufig partiell Handelnden ihren eigenen geschichtlichen Zusammenhang als Aufklärung und Selbstaufklärung anzubieten und damit das allseitige Wesen Mensch auf allseitige Weise zu entfalten vermöge. Es komme dabei darauf an, »sich dialektisch des jeweils Unterdrückten vermittelnd anzunehmen« und »antikritisch die wirkliche Komplexität der Sachverhalte, um die es geht, erst wieder herzustellen« (1968, S.111). Sich dialektisch des jeweils Unterdrückten vermittelnd anzunehmen und dabei antikritisch, also kritisch gegen die Vereinfacher und Kritiker der Revolte, die wirkliche Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte erst wieder herzustellen – dies ist, was Peter Brückner unter den Begriff der politisch-tätigen Reflexion fasst und als ein Produkt geschichtlicher Arbeit versteht, als Überwindung der Ich-Schwäche des falschen Bewusstseins ebenso wie als kollektive Veränderung.

Diese politisch-tätige Reflexion – »Man muss die Sozietät handelnd verändern, wenn man sie adäquat erkennen will; aber nur jenes Handeln erkennt verändernd, das selbst als tätige politische Reflexion begriffen werden darf.« (1967, S.136) – versteht Brückner als Einheit von Theorie und Praxis. Und an diesem methodologischen Punkt vermischen sich frühbürgerliche Aufklärung, marxistische Dialektik und die an Freud geschulte Psychoanalyse zur spezifisch Brücknerschen Methodik politischer Psychologie. Konzeptionell, methodologisch, speist sich diese Form eines eingreifenden Denkens aus dem Erbe des frühbürgerlichen Humanismus ebenso wie aus den Emanzipationsversprechen der radikalen Arbeiterbewegungstradition – und weiß doch zugleich, dass beide reichlich verwaist daherkommen in den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts.

Unter dem »Schatten der abwesenden Revolution hier, der unvollkommenen dort« (Lefebvre 1962, S.264), das war die eingängige Formulierung, mit der der französische Linksphilosoph Henri Lefebvre – Brückner sollte ihn zeitlebens besonders schätzen – zu Beginn dieser sechziger Jahre über den eigenartigen Übergangscharakter seiner Zeit nachdachte und mit demselben politisch-theoretischen Problem wie Brückner kämpfte, als er in Auseinandersetzung mit dogmatischen wie revisionistischen Tendenzen schrieb, dass wir in einer fragmentierten, zerrissenen und mehrfach differenzierten Welt die Differenzen und Fragmente begreifen und das vereinen müssen, »wenn möglich, was getrennt worden ist. (…) Reduzieren wir nichts und klammern wir nichts aus, es sei denn vorläufig.« (Ebd., S.55) In diesen Sätzen kommt eine spezifische (ebenso theoretische wie praktische) Haltung zum Tragen, eine Haltung, die das Festhalten am alten, vielfältigen Erbe der Emanzipationsbewegungen mit einer ebenso theoretischen wie praktischen Offenheit kombiniert, die Lefebvre zu einem herausragenden Vordenker der französischen ›Neuen Linken‹ werden lassen sollte. Und es ist dieselbe konzeptionelle Haltung, die sich auch bei Peter Brückner findet und ihn ab Mitte der sechziger Jahre zu einem der herausragenden Denker der westdeutschen Neuen Linken werden ließ.

 


Von den Paradoxien des antiautoritären Bewusstseins zur Entmischung der Bewegung

Das antiautoritäre Bewusstsein der Neuen Linken hat also für Brückner die Funktion, das verwaiste Erbe der demokratischen und sozialistischen Emanzipationstraditionen in einer Zeit des blockierten weltpolitischen Übergangs zu aktualisieren. Es besitzt aber auch seine immanenten Fallstricke. Als Protest des bürgerlich-jugendlichen Kulturschutzparks gegen die autoritär formierte Gesellschaft und die in ihr vorherrschende Trennung von Lust und Leistung, als Aufstand der Emanzipation gegen repressive Sozialisation ist das provokante Happening für Brückner ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Mittel der Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung. Es ist vielmehr selbst widersprüchlich und hat seine strukturellen Schwächen, wie er in dem 1969 entstandenen Aufsatz über Provokation als organisierte Selbstfreigabe schreibt. Gerade weil es sich an der Nahtstelle der Übergänge zwischen individueller und kollektiver Emanzipation bewegt, könne das antiautoritäre Bewusstsein gleichsam fließend auf die eine oder andere Seite der Medaille übergehen. Die antiautoritäre Emanzipation kann sich als sogenannte ›Kraft der Negation‹ verselbstständigen und von kollektiven, gesellschaftlichen Prozessen ablösen. Das provokative Insistieren auf dem ›Wir wollen alles – und zwar sofort‹ ist, genauer betrachtet, ebenso der Protest gegen den vorherrschenden Konsumismus wie auch dessen Widerspiegelung.

Das provokative Insistieren auf dem ›Wir wollen alles – und zwar sofort‹ bewahrt zwar die Idee und das Bedürfnis eines zu erstrebenden ganz Anderen in sich auf – und das ist gewiss nicht wenig. Doch es bricht sich an den Bedürfnissen von Zeit, denn: »Veränderung hat nicht die Zeitlichkeit des ›sofort…‹. Wer von ›Veränderung‹ spricht, redet auch von Aufschub.« (1970, S.66) Und so kann die provokative Haltung auch zur Legitimation herhalten, sich zu arrangieren mit den herrschenden Verhältnissen und auf individuellem Wege einen Teil von diesem Alles zu bekommen, wo dem solcherart begehrenden Individuum die kollektive Befriedigung des begehrten Alles versagt wird.

Bereits in der der antiautoritären Kultur eigenen ›Kraft der Negation‹ steckt also, wo sie den Übergang zur ›bestimmten Negation‹ nicht schafft, der Keim ihrer Auszehrung. Über die eigene Veränderung ›vergisst‹ man die kollektive Veränderung, entpolitisiert sich und wird im eigentlichen Sinne des Wortes unpolitisch. Oder man sondert sich in Kleingruppen von der Gesellschaft ab und begnügt sich fortan mit der partiellen Emanzipation, mit der eigenen Gegengesellschaft, die gegen die Herrschenden bloß noch verteidigt wird: »Die Gegengesellschaft als Illusion löst den Traum vom ›Verein freier Menschen‹ elend ab« (ebd., S.69f.), schreibt Brückner. Diese Regression ins Ghetto der Gegengesellschaft ist durchaus zu Anteilen Schutz gegen das herrschende Falsche, aber auch zu Anteilen Einordnung in dieses herrschende Falsche, weil es auf die gesamtgesellschaftliche Befreiung verzichtet.

So sehr diese Paradoxien der antiautoritären Revolte auch ihr selbst eingeschrieben waren, so wenig lässt sich aus ihnen – von einem linken, sozialistischen Standpunkt – eine Gegnerschaft zur 68er-Bewegung als ganzer begründen, wie Peter Cardorff in seinen Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung aufgezeigt hat. Zum einen war sie – betrachtet man sie unter der Maßgabe der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform typischen Dialektik von Demokratie und Sozialismus – als eine »Kraft der Negation«, als ein gleichsam »negativistisches Durchgangsstadium im Verhältnis zur Gesellschaft unerlässlich« (Cardorff 1980, S.157). Und zum anderen war gerade dies auch den Neuen Linken selbst, mindestens ihren politisch aufgeklärten Teilen, klar. Sollte also die Revolte von 1967/68 anhalten, so musste sie sich transformieren. Unklar und vor allem umstritten war allerdings wohin und mit welchen Mitteln.

Das Scheitern der Anti-Notstandsbewegung im Sommer 1968 isolierte die damals noch mit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung mindestens partiell verbundene linke Studierendenbewegung von einem wesentlichen Teil gesellschaftlicher Renitenz. Der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in den Prager Frühling im Herbst 1968 und die dadurch bedingte, abermalige Re-Stalinisierung der kommunistischen Bewegung trieb schließlich den Spaltkeim auch in die Neue Linke selbst. Die neue sozialliberale Reform-Regierung unter Willy Brandt führte schließlich dazu, dass große Teile der frisch politisierten Jugend und Bevölkerung erneut in die herrschenden Strukturen eingebunden wurden (nicht zuletzt bei den Jusos, der sozialdemokratischen Jugendorganisation), während jene, die sich diesen Reformstrategien verweigerten mit einer nachhaltigen Kriminalisierung mittels Radikalenerlassen zu kämpfen hatten. So kommt es 1969/70 zum Zusammenbruch der antiautoritären Gegenöffentlichkeit und zur Re-Heterogenisierung der oppositionellen Kräfte. Die Protestbewegung spaltet sich mehrfach und transformiert sich nachhaltig.

Nach dem Ende der antiautoritären Bewegung reproduziert sich dabei, wie Brückner Anfang der siebziger Jahre schreibt, in gewisser Weise der Zustand antikapitalistischer Kräfte und Gruppen von vor 1966/67. Die Zersplitterung führt zu einem erneuten ›Sekten- und Zirkelwesen‹, allerdings, wie er betont, auf einem sowohl quantitativ wie qualitativ erweiterten Niveau von Politisierung und einem im Ganzen fortgeschrittenen Niveau der Klassenkämpfe. Auch er selbst hält diese Transformationsprozesse und diese Bewegungs-Entmischung für historisch unvermeidlich, auch er bezeichnet die beginnende Fraktionierung in seiner 1973 erschienenen Schrift Kritik an der Linken als »unerlässliche(n) Durchgang zu einer größeren Breite und organisatorischen Verankerung linker Politik« (1973, S.16; Hervorhebung: CJ). Doch nichts desto trotz beklagt er diesen Prozess einer Entmischung von kulturrevolutionärem Impuls und politischer Organisierung, der Entgegensetzung von Bewusstseinsveränderung und traditionellen Politikformen. Nicht zuletzt, weil die antiautoritäre ›Kraft der Negation‹ nun unter anderem dazu führt, die eigenen Widersprüche auf falsche Weise aufzuheben, indem sie sich re-dogmatisiert und in autoritären Organisationsformen wie jenen kommunistischen oder maoistischen Kaderparteien traditionalisiert, die Anfang der 1970er Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Für diese Variante einer schlechten Aufhebung der antiautoritären Widersprüche gilt dann jedoch Brückners Diktum: »In der Auslieferung des antiautoritären Impulses, soweit er sozialistisch geworden ist, an orthodoxe parteiartige Vereinigungen geht verloren, dass Bewusstsein umgeworfen, der Stil zwischenmenschlicher Beziehungen gewandelt, der ›institutionalisierte Hass‹ aufgehoben (und nicht funktionalisiert) werden muss.« (1970, S.71)

Revolutionäre Politik benötige beides, wie Brückner unmissverständlich erklärt, »ein Optimum an Disziplin und Ungehorsam – nach wie vor gilt: Ohne Disziplin wird nichts produziert, aber dem Gehorsamen werden die Ergebnisse [in Brückners Schrift steht hier ›Ereignisse‹, was offensichtlich ein Druckfehler ist; CJ] der Produktion weggenommen (B. Brecht); ein Optimum an Desintegration (= praktische Kritik bürgerlicher Werte und Normen) und Solidarisierung (= innere Integration der antikapitalistisch-antiimperialistischen Kritik).« (1973, S.32) Und weil gegen verdinglichte Herrschaft nur die direkte Vertretung eigener Bedürfnisse und Interessen helfe, stellt er sich auf die Seite radikal-linker, basisdemokratischer Tendenzen und bezieht sich positiv auf die damals aufkommende politische Arbeit von Basisgruppen in Stadtteilen, Fabriken und Verwaltungen, mit denen sich die gesellschaftlich schmale Basis einer solchen, wirklich kommunistischen Politik verbreitern ließe. Immer wieder macht er deutlich, dass er nicht prinzipiell gegen Organisation sei, und dass ihn deswegen von den mehr traditionellen Parteiansätzen »im wesentlichen nur die Zeitperspektive« (ebd., S.53) trenne. Doch steckt in diesem ›nur‹ eine weitreichende Abweichung, nämlich das Brücknersche Beharren auf einer antiautoritären Haltung. Auf den Gedanken der Antizipation möchte er auch und gerade in der Diskussion um die notwendige Organisierung nicht verzichten, und hofft doch auf eine wechselseitige Befruchtung und sogar »eine Art von ›Bündnis‹ (…) zwischen den Ultralinken und vielen heute noch traditionell organisierten Kommunisten« (1965/1972, S.45).

Brückner versucht also weiterhin, etwas zusammenzudenken, was realiter zunehmend auseinander trieb in den 1970er Jahren. Es war ihm klar, dass sich dieser Widerspruch eben nicht am Schreibtisch des linken Intellektuellen lösen lässt, sondern nur praktisch-historisch, in den praktisch-politischen Bewegungen selbst. Abermals versuchte er, seine in Zeiten der aufkommenden Politisierung bewährte, spezifische Haltung auch in Zeiten der widersprüchlichen und partiell regressiven Bewegungsentmischung aufrecht zu erhalten. Anstatt Bewegungstotalität und Ganzheitsbetrachtung war nun jedoch Entmischung festzustellen, statt dem Bemühen um Vermittlung die Suche nach einer neuen Unmittelbarkeit, statt politisch-tätiger Reflexion die Trennung von Theorie und Praxis, statt einer neuen Dialektik von Frieden und Militanz »Legalismus hier und Terror dort«, wie Brückner später schreiben wird (1980b, S.8). Auf neue Weise stellte sich damit auch für ihn selbst die Frage, wie man sich als nicht-nur kontemplativer, als ein aufs Eingreifen abzielender sozialistischer Intellektueller jener neuen widersprüchlichen Zeit gegenüber verhält, deren zentrale Antagonismen, deren Stärken und Schwächen, deren historisches Recht man ebenso versteht wie dessen historische Illusionen. Wie nimmt man Stellung, welche Haltung nimmt man ein, welche kann man einnehmen?

Wie wenige andere hat Brückner versucht, in den ›roten‹ siebziger Jahren kühlen Kopf zu bewahren. Mit viel Ausdauer analysierte er die Strukturveränderungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die Kriminalisierungsstrategien des deutschen Staates. Detailliert und engagiert setzte er sich parallel dazu mit den einzelnen Fraktionen der westdeutschen Linken auseinander, mit ihren subkulturellen Fluchtbewegungen wie ihren falschen Rückgriffen auf veraltete politische Organisations- oder Kampfformen. Seine Auseinandersetzungen mit diesen neuen sozialen und politischen Bewegungen einerseits, den Kader-Organisationen und dem westdeutschen Terrorismus andererseits lesen sich nicht nur als exemplarische Umsetzungen seiner einfühlenden Teilnahme und sind nicht nur erinnernswerte Beispiele dessen, was heute als kritische Solidarität allgemein in Verruf geraten ist. Vor allem sind sie Meilensteine einer linken politischen Theoriebildung, die nach seinem allzu frühen Tod 1982 keine Fortsetzung mehr gefunden haben. Brückner blieb sich treu und hielt fest an seinem ganzheitlichen, vermittelnden Blick – obwohl sich doch bereits eine neue Unmittelbarkeit Bahn gebrochen hatte, die von der antiautoritären Subkultur über die ML-Organisationskultur bis zum westdeutschen ›bewaffneten Kampf‹ reichte. Seine in der Form solidarischen, in der Sache selbst jedoch bemerkenswert harten Kritiken des linken Zerfallsprozesses ließen ihn aber auch nicht den Blick verschließen für die eigene Ohnmacht: »Ich muss einräumen«, hatte er beispielsweise schon 1972 geschrieben, »dass wir nach der kritischen Feststellung: so nicht!, vor die Frage gestellt sind: aber wie dann?, und auf diese Frage bisher noch keine organisierende Antwort finden konnten.« (1965/1972, S.52f.)

 


Posthistoire?

Die zunehmende Enttäuschung über die sozialistische Linke ist Brückners Schriften aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre deutlich anzumerken. Mit dem immer offensichtlicher werdenden Scheitern der von ihm erhofften Dialektik von demokratischen und sozialistischen Kämpfen sieht sich der Theoretiker der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation gleichsam zurückgeworfen auf die Analyse des herrschenden Kapitalismus und die diesem Kapitalismus eigenen Desintegrationstendenzen. Und er beginnt sich zu fragen, ob hier nicht zwei unterschiedliche und auch irgendwie unvereinbare Paradigmen am Werk sind. Mit seiner Unterscheidung zwischen dem sogenannten Revolutionsparadigma und dem später von ihm sogenannten Aneignungsparadigma will er ab Ende der siebziger Jahre beschreiben, wie sich neben den klassischen Problemen des Klassenkampfes – »also [neben] den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, den Prozess der Konstituierung von Klassenbewusstsein« – die davon analytisch zu unterscheidenden Probleme der gesellschaftlichen Desintegration erheben, »also die Selbst-Zerstörung der Homogenität, der Grundordnungen einer Gesellschaft« (1978, S.146). Beide, das sozialistische Revolutionsparadigma wie das radikal-demokratische Aneignungsparadigma haben, wie er schreibt »ihr fundamentum in re, ihre materielle Basis in der Wirklichkeit« (ebd.). Erstmals fasst er diesen Befund hier, in seinem 1978 erschienenen Werk Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, unter jenen erst später berühmt gewordenen Begriff des posthistoire, den er in seinen Aufsätzen Ende der siebziger Jahre gleichsam durchdekliniert (vgl. bspw. 1984, S.127ff. & 133ff.), bevor er ihn auch zur Chiffre seiner nachgelassenen Fragmente in Psychologie und Geschichte machen wird (1982, S.259ff.).

Auch in diesen seinen letzten Schriften erweist sich Brückner also theoriepolitisch ganz auf der Höhe seiner Zeit. Und seine diesbezüglichen Überlegungen sind einmal mehr der ausgesprochen nüchterne Versuch, seine Zeit in Gedanken zu fassen, sich intellektuell Rechenschaft abzulegen über den Gang der Dinge. Schaut man jedoch genauer hin, so erkennt man, dass er hier nur seine Analysen der sechziger Jahre, seine Analysen zum bürgerlichen Bewusstsein fortsetzt. Das Aneignungsparadigma ist, genauer betrachtet, nur ein anderes Wort für die Revolte des bürgerlichen Bewusstseins gegen seine eigene Krise, ein anderes Wort also für die radikal-demokratischen Kämpfe gegen die vorherrschende Involution der Demokratie, ein anderes Wort für den Kampf der Marginalisierten gegen das System, sprich: ein anderes Wort für das, was bald als das Paradigma des Postmodernismus in die Geschichte eingehen wird.

Der späte Peter Brückner findet sich also bemerkenswert nah am postmodernen Denken, vor allem dort, wo er bei der Dialektik von Demokratie und Sozialismus die Hoffnung auf den Sozialismus einer Neuen Linken, also das Revolutionsparadigma infrage zu stellen scheint. Analytisch jedoch weiß er auch weiterhin, dass man beide Paradigmen, so sehr sie in der historischen Realität auch auseinanderdriften zu scheinen, nicht wirklich trennen kann, denn »(d)er ›Aneignungs-Kampf‹ antwortet auf den Umstand, dass das Wertgesetz, die Bürokratie, die Verwaltung unsere Lebensbedingungen, unsere Entscheidungsräume monopolisieren« (1979, S.62). Der Kampf gegen Bürokratie und Verwaltung ist hier nichts anderes als der Kampf um Demokratie, während der Kampf gegen das Wertgesetz die Chiffre für den sozialistischen Kampf der Arbeiterklasse bildet. Beide Kämpfe sind also Aneignungs-Kämpfe und tragen, konsequent betrieben, einen revolutionären Charakter. Beide Kämpfe haben aber auch ihre eigenen Kampfformen und Logiken, sind also als Kampfparadigmen Teil einer widersprüchlichen Einheit, die man als Ganzes nur zu fassen bekommt in der historischen Bewegung selbst – also nur dialektisch.

Wer also, wie Brückner damals, auch weiterhin vom Klassencharakter der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform ausging (und ausgeht), konnte (und kann) den sozialistischen Anspruch ihrer Überwindung nicht ernsthaft aufgeben, egal wie wenig aktuell eine solche realgeschichtlich erscheint. Wer sich dagegen vom sozialistischen Anspruch und Gehalt der wirklichen Geschichte enttäuscht sah (und sieht), musste (und muss) mit demselben auch die Erkenntnis des Klassencharakters der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform aufgeben und denunzieren. Er oder sie landet dann – sofern er oder sie sich nicht ganz ins Konservative wendet – entweder im affirmativen Liberalismus oder in jenem nonkonformistischen Konformismus, der sich in den (von Terry Eagleton 1996 so wunderbar entblößten) Illusionen des Postmodernismus seit nun drei Jahrzehnten austobt.

Es ist hier natürlich Spekulation, ob Brückner, wenn er länger hätte leben dürfen, diesen Weg in den Postmodernismus mitgegangen wäre – viele Parteigänger der Neuen Linken sind ihn jedenfalls gegangen und wollten fortan nicht mehr rechts oder links, sondern vorn sein, wie es damals hieß. Sie haben damit den sozialistischen Anspruch, die Hoffnung auf eine Dialektik von Demokratie und Sozialismus (und ihr Engagement dafür) weitgehend fallengelassen. Brückner hat dagegen bis zu seinem allzu frühen Tod im Frühjahr 1982 gerade an dem festgehalten, was die postmodernistische Ideologie seitdem erfolgreich verdrängt: an der erfahrungsgesättigten Erkenntnis, dass wir auch weiterhin in einer bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft leben – und dass dies auch Konsequenzen für das eigene Denken und Handeln hat.

Geschichtsschreibung ist bekanntlich immer auch die Geschichtsschreibung der Sieger. Und Peter Brückner war sich seines Scheiterns schmerzhaft bewusst: »Die Entwicklung der BRD (und ihrer Linken) bedeutet ja für mich eine lebensgeschichtliche Niederlage«, schreibt er 1980 (1980a, S.152.) Entsprechend haben wir es beim heutigen Blick auf die Revolte von 67/68ff. mit einem vorherrschend liberalen Blick zu tun. In seiner linksliberalen Variante betont er die Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen jener Zeit und belächelt gleichzeitig die diversen anarchistischen und sozialistischen Tendenzen (ob antiautoritär oder autoritär). In seiner rechtsliberalen, konservativen Variante speist sich er sich dagegen aus einer anklagenden Kritik an diesen anarchistischen und sozialistischen Tendenzen, weil ausgerechnet sie verantwortlich gemacht werden für die allgemein vorherrschenden gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen, auf die sie doch, im Sinne Brückners, nur geantwortet haben. Mit seinem Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären, können wir dagegen verstehen, dass und wie die Revolte ein historisch spezifisches Gemengelage verschiedener Bewegungen war, in denen sich der Kampf um eine Rückeroberung demokratischer Traditionen mit der immanenten Konsequenz eines sozialistisch überschießenden, eines sozialistisch weitertreibenden Bewusstseins auf historisch spezifische Weise vermischt hat. Die Neue Linke steht dabei für dieses überschießende, weitertreibende Bewusstsein eines Sozialismusverständnisses, das a) antikapitalistisch, b) antistalinistisch und c) radikal-demokratisch/antiautoritär gewesen ist. Und die postmoderne Wende der 1980er und 1990er Jahre war, so betrachtet, die Zersetzung dieser Hoffnung auf eine Dialektik von Demokratie und Sozialismus. Emanzipationskämpfe sind seitdem vorwiegend demokratische Kämpfe – mal mehr, mal weniger radikal. Was seitdem fehlt, ist die die bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft transzendierende Perspektive.

Und heute? Auch heute wieder haben wir es mit einer Krise des bürgerlichen Bewusstseins im Sinne Brückners zu tun. Auch heute wieder haben wir es mit einer partiellen Revolte des bürgerlichen Bewusstseins gegen diese Krise zu tun. Und auch heute wird der Unmut noch immer von den soziologischen Rändern der Gesellschaft her artikuliert – von den Hartz IV-Betroffenen und der neuen Lumpen-Intelligenz, von den noch immer ausgegrenzten Ossis wie den in die Defensive gedrängten Gewerkschaftern. Was uns heute jedoch fehlt, ist die Tradition eines ganzheitlichen, dialektischen Denkens und ein Verständnis und eine Vision von der Dialektik von demokratischem und sozialistischem Kampf. Und dies verweist uns vor allem auf die nachhaltigen Folgen des kumulativen Scheiterns der diversen linken Emanzipationsbewegungen in den siebziger und achtziger Jahren – von den nationalen Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt bis zur Implosion des einstmals real existierenden Sozialismus der sogenannten Zweiten Welt, vom Scheitern der Neuen Linken bis zum Scheitern der grünen Alternativbewegungen in der sogenannten Ersten Welt (vgl. Anderson 1993). Von diesem epochalen Bruch haben sich die Kräfte der Emanzipation bis heute nicht wirklich erholt – auch die neue Linkspartei scheint eher hin und hergerissen zu sein zwischen staatsragend sozialdemokratischen und autoritär-kommunistischen Konzepten, als dass sie einen Weg über diese beiden Traditionen hinaus sucht.

An der Vergangenheit der Neuen Linken bruchlos anknüpfen wird man aber auch nicht können. Sie ist ebenso Geschichte wie der Kapitalismus Geschichte ist, in dem sie groß geworden ist. Vorbei die Zeit, wo man den Sozialstaat als klassenlose Wohlstandsgesellschaft und die Involution der Demokratie als Fortleben des Faschismus missverstehen konnte. Vorbei die Zeit, in der man den Antiautoritarismus und die Große Weigerung als Feinde herrschender, vermeintlich formierter Verhältnisse und als Garanten gesellschaftlicher Emanzipation missverstehen konnte. Vorbei die Zeit, wo man den konformistischen Pferdefuß des Nonkonformismus einfach ignorieren konnte. Vorbei die Zeit, wo man auf eine Entstalinisierung der kommunistischen Bewegung oder auf eine Rückkehr zur klassisch-sozialistischen Sozialdemokratie hoffen konnte. Vorbei schließlich auch die Zeit, als man auf einen linkssozialistischen Erb-Antritt der beiden zusammenbrechenden Hauptströmungen organisierter Arbeiterbewegung setzte.

Die alten politischen Strategien eines antiautoritären Radikaldemokratismus und eines emanzipativen Neo-Sozialismus stecken in einer nachhaltigen Krise. Und doch glimmen auch heute noch (und heute wieder) die alten und neuen Ansätze einer moralischen Ökonomie der Marginalisierten, Ausgebeuteten und Unterdrückten immer wieder auf. Die Impulse für einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel zum Guten liegen noch immer dort, wo sie Peter Brückner 1976 festmachte, nämlich »dort, wo die Prävention des Staates sie kontinuierlich verdrängen oder zerstören will: in den arbeitenden und abhängigen Klassen, in den Emanzipations-Bewegungen und in den ›revolutionären Hintergedanken‹ der bürgerlichen Freiheitsrechte« (1976, S.8). Wer also am gesellschaftlich Guten festhalten möchte, ist gehalten, die Dialektik von Demokratie und Sozialismus gleichsam neu zu erfinden.

Entsprechend aktuell bleibt auch Peter Brückners Haltung – das Denken des Ganzen, das Denken in Zusammenhängen. Den zwangsläufig partiell Handelnden ihren eigenen geschichtlichen Zusammenhang als Aufklärung und Selbstaufklärung, als Aufklärung und Aktion, anzubieten und damit beizutragen, das allseitige Gattungswesen Mensch auf allseitige Weise zu entfalten – das bleibt die ebenso selbstbewusste wie selbstlose Aufgabe des kritischen linken Intellektuellen und ist doch nicht zu haben ohne eigenes Engagement in politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen. Denn produktiv, so Brückner, kann diese Dialektik von Teilnahme und Widerstand nur werden, »wenn wir im Handgemenge mit der Wirklichkeit bleiben« (1979, S.58).

Der Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kongress »Sozialpsychologie des Kapitalismus heute. Zur Aktualität Peter Brückners« Anfang März in Berlin. Zusammen mit den anderen Beiträgen des Kongresses wird er Anfang 2013 in dem von Klaus-Jürgen Bruder u.a. herausgegebenen Tagungsband im Gießener Psychosozial-Verlag erscheinen.

Zitierte Literatur:

Perry Anderson (1992): Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993
Peter Brückner (1965/1972): Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Von den Widersprüchen des Wohlstands, Berlin 1989
Peter Brückner (1967): »Die Transformation des demokratischen Bewusstseins«, in Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt/M. 1968, S.89-194
Peter Brückner (1968): »Die Geburt der Kritik aus dem Geiste des Gerüchts«, in ders.: Zerstörung des Gehorsams. Aufsätze zur politischen Psychologie, Berlin 1983, S.109-122
Peter Brückner (1970): »Provokation als organisierte Selbstfreigabe«, in ders.: Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegungen, Berlin 1983, S.11-78
Peter Brückner (1972/73): »Untersuchungsobjekt: Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin«, in Alfred Krovoza u.a. (Hrsg.): Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt/M. 1981, S.297-321
Peter Brückner (1973): Kritik an der Linken. Zur Situation der Linken in der BRD, Erlangen 1973
Peter Brückner (1976): Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin 1984
Peter Brückner (1978): Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1984
Peter Brückner (1979): »Zwischen den Stühlen«, in: Hermann L. Gremliza/Heinrich Hannover (Hrsg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er, Hamburg 1980, S.57-67
Peter Brückner (1980a): Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980
Peter Brückner (1980b): »Über linke Moral«, in ders.: Vom unversöhnlichen Frieden, Berlin 1984, S.7-9
Peter Brückner (1982): Psychologie und Geschichte. Vorlesungen im »Club Voltaire« 1980/81, Berlin 1982
Peter Brückner (1984): Vom unversöhnlichen Frieden. Aufsätze zur politischen Kultur und Moral, Berlin 1984
Peter Cardorff (1980): Studien über Rationalismus und Irrationalismus in der sozialistischen Bewegung. Über den Zugang zum sozialistischen Handeln, Hamburg 1980
Terry Eagleton (1996): Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay, Stuttgart/Weimar 1997
Terry Eagleton (2000): Was ist Kultur? Eine Einführung, München 2001
Christoph Jünke (2007): Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute, Köln 2007
Henri Lefebvre (1962): Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt/M. 1978

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