Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

Theodor W. Adorno

von Christoph Jünke

I

Anders als noch vor zehn bis fünfzehn Jahren weithin behauptet, wurde die letzte Dekade keine gute Zeit für linke Politik und für die Linke im weitesten Sinne des Wortes. Die weltökonomische Krise von 2008ff. sollte einmal mehr im neoliberalen Sinne gelöst werden, das heißt: zu Lasten der nationalen wie der globalen Peripherien, zu Lasten der Prekären und Ausgegrenzten, der Lohnarbeiter*innen- und Mittel-Klassen, zu Lasten aber auch der natürlichen, ökologischen Grundlagen menschlicher Vergesellschaftung. Und einmal mehr sollte diese Krisenlösungsstrategie den Grund legen für neue soziale Verwerfungen und für den sie begleitenden Aufschwung einer auf Spaltung und Rassismus setzenden Rechten, während die globalen Klima- und Umweltkatastrophen bislang nur für eine kleine jugendgenerationelle Revolte reichten. Viele der neuen globalen Turbulenzen und Verwerfungen, der Islamismus und die arabische Rebellion, der Aufstieg und Fall der lateinamerikanischen Linken, die autoritäre Formierung Russlands und Osteuropas, aber auch die Integrations- und Legitimationskrise der Europäischen Union von der Osterweiterung über die Eurofinanz- zur Migrationskrise, vom türkischen Erdoganregime über die Ukraine 2014 bis zu Syriza 2015 und zum Brexit 2016, waren begleitet auch von weitreichenden linken Hoffnungen (von Hugo Chavez und Alexis Tsipras bis Jeremy Corbyn und Bernie Sanders) und endeten in politischer Katerstimmung.

Auch die deutsche Linkspartei, in ihren Anfängen mit großen Hoffnungen gerade auch von jenseits der deutschen Grenzen beobachtet und belegt, folgte einem Entwicklungspfad, dem schon ihre Vorgängerin, die ostdeutsche PDS, folgte: einem langsamen, aber konstanten, von inneren Zerwürfnissen und Blockaden begleiteten wahl- und parteipolitischen Niedergang. Und dies schon bevor die neuen Systemkrisen der letzten zweieinhalb Jahre, die Pandemiepolitik und der russische Raub- und Zerstörungskrieg gegen die Ukraine, aufzeigten, wie vollkommen disparat und politikunfähig sich die Linke in ihrer Gänze erwies.

Kein Zufall deswegen, dass sich in den letzten Jahren, als Folge und Begleiterscheinung dieser nachhaltigen weltökonomischen und weltpolitischen Erosions- und Transformationsprozesse und ihrer politischen Konjunkturen und Logiken, einmal mehr eine Diskussion ins Zentrum gesellschaftspolitischer Leidenschaften drängte, die auf den ersten Blick nur wenig zu tun hat mit solch ›großer Politik‹. »Diskussionen über Identität gewinnen immer dann an Bedeutung, wenn diese zu einem Problem wird«, schrieb Karin Priester (2003, S.271) vor zwanzig Jahren. Und dies gilt nicht zuletzt für die Linke im weitesten Sinne des Wortes, die einmal mehr in einer strukturellen Krise gefangen scheint. Anstatt jedoch, möchte man meinen, die kritisch-selbstkritische Diskussion der eigenen politischen Theorie und Praxis mit Leidenschaft in den affektiven Mittelpunkt der eigenen Gruppen- und Gesellschaftskultur zu stellen, beherrschen Fragen der formalen Sprach- und Repräsentationspolitik, des ›Gendern‹, ›Triggern‹ und der ›Wokeness‹ die ›Spielwiesen der Betroffenheit‹ und ihre wechselseitigen diskursiven Erregungskriege. Und doch gilt es, beides angemessen zusammenzudenken und zu fragen, was diese Diskurslagen über den Zustand unserer Gesellschaft und unserer Linken auszusagen vermögen. (Der Beitrag nimmt Argumente und Passagen wieder auf, die ich ausführlich in Jünke 2022 behandelt habe. Dort auch zusätzliche Literaturhinweise.)

Das erste, was bei einem solchen Blick auf die jüngste identitätspolitische Debatte auffällt, ist ihre bemerkenswerte Geschichts- und Theorielosigkeit. Kaum etwas ist wirklich neu an diesen neuesten identitätspolitischen Debatten. Bereits in den 1990er Jahren ging es auch bei uns um die Politik der Sprache und Diskurse, um Moral und Moralismus in der Politik, um Minderheitenrechte, ihre Sichtbarmachung und Politisierung, um Formen positiver Diskriminierung, um Quotenregelungen und affirmative action. Bereits damals ging es um Formen von Rassismus und Antirassismus, von Sexismus und Postkolonialismus, oder um das Verständnis unterschiedlicher Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme und ihre Dialektik. Gendergaga war damals nicht das Gendersternchen, sondern das Binnen-I, und ›MeToo‹ hatte ihre Vorläuferin in der ›Date-Rape‹-Debatte. Auch ›Whiteness‹-kritisch diskutierte man schon in den Neunzigern, fragte gleichermaßen, ob das Zigeunerschnitzel oder die Mohrenküsse auch weiterhin so genannt werden dürften, und bekannte sich mal als mutiger PC-Gegner und mal als deren empörungswillige(r) Verteidiger(in). Schon damals gab es die Verhinderung von Vortragsveranstaltungen vermeintlich Unkorrekter ebenso wie Denk- und Sprachverbote. Man sprach auch bereits von ›Hate-Speech‹, ›Hate-Crime‹ und vom Backlash der Kulturkrieger. Selbst das Schlagwort von den ›Lifestyle-Linken‹ war schon geprägt. Neu und anders ist dagegen, dass diese Diskussionen auf einem heute viel größeren gesellschaftspolitischen Terrain und mit viel mehr Öffentlichkeit verhandelt werden, dass wir es hierbei nicht mehr mit den Debatten kleiner (herrschender wie oppositioneller) Eliten zu tun haben. Heute beherrscht das Thema die Print-, Online- und TV-Medien, hat die Politik, Kultur und Wissenschaft umfassend erreicht und ist zudem tief eingedrungen in den privaten Arbeits- und Freizeit-Alltag. Kaum jemand, der/die/das keine Meinung dazu hat und nicht allzeit bereit wäre, diese in den diskursiven Erregungsring zu werfen. Was allerdings fast gänzlich fehlt in unseren neuesten ›wechselseitigen Erregungskämpfen‹ und ›moralischen Stahlgewittern‹, auch in den explizit linken Interventionen, das ist die Erinnerung an die alten Debatten der 1990er Jahre, deren Personen, Thesen und Erkenntnisse heute nicht einmal mehr als historische Bezugsgröße auftauchen.

Verblüffend ist nicht nur, wie geschichtslos die jüngste Welle identitätspolitischer Diskussion daherkommt, sondern auch wie bemerkenswert theorielos. Obwohl Identitäten und Identitätspolitik in aller Munde und Medien sind, weiß eigentlich niemand so genau, was der gesellschaftstheoretische Begriff der Identität eigentlich bezeichnet, wie individuelle und kollektive Identitätsprozesse vonstattengehen, und was das Ganze mit der großen und der kleinen Politik zu tun hat. Der Begriff der Identität, erfahren wir bspw. im extra angehängten Glossar eines der kompetentesten Über- und Einblicke in die neuere Debatte, sei ein zentraler Teil der Identitätspolitik, die wiederum »von der eigenen Identität (vor allem als Minderheit)« ausgehe und auf die eigene Unterdrückung fokussiere, um Gesellschaft und Politik zu verstehen und politische oder gesellschaftliche Veränderung zu verlangen (Feddersen/Gessler 2021, S.235). Klingt erhellend, ist es aber nicht.

Schon der Kurzschluss zwischen dem Begriff der Identität und der vermeintlich daraus abzuleitenden Identitätspolitik ist verräterisch – mehr noch die immer wiederkehrende Behauptung, dass Identitätspolitik vor allem eine Sache von Minderheiten, ja sogar irgendwie wesentlich links sei. Faktisch und explizit verstehen die meisten heutigen Autor*innen unter Identitätspolitik die Antidiskriminierungspolitik ethnischer, kultureller, biologischer und sexueller Minderheiten. Doch ist dies weder die ganze Wahrheit, noch eine besonders trennscharfe, denn Identitätspolitik ist weder an sich noch vorrangig links. Sie kann vielmehr links oder rechts sein, konservativ oder progressiv, liberal oder reaktionär. Und sie kann von Minderheiten ebenso betrieben werden wie von Mehrheiten, von Herrschenden genauso wie von Beherrschten. Identitätspolitische Ansätze sind vielmehr, analytisch und historisch betrachtet, Teil des liberaldemokratischen Aushandlungskampfes, Teil des gesellschaftspolitischen Kampfes für oder gegen Diskriminierung, für oder gegen Teilhabe, Partizipation und Repräsentanz. Dass dieser Antidiskriminierungsbüro und Teilhabekampf die historische Bühne als ein wesentlich demokratischer, sozusagen radikal-bürgerlicher betreten hat, und dass es vor allem die im weitesten Sinne des Wortes Linken waren, die diese demokratischen ›Minderheiten‹-Rechte im 19. und 20. Jahrhundert erstritten haben, bedeutet nicht, dass dies per se so war und/oder sein muss – sondern nur, dass es anderthalb Jahrhunderte lang v.a. die Sozialist*innen und Radikaldemokrat*innen waren, die den Kampf für die bürgerlich-demokratische Emanzipation vorantrieben.

II

Als ein wesentlich sozialpsychologischer Begriff bezeichnet der gesellschaftstheoretische Identitätsbegriff eine psychische Struktur, »die Orientierungshilfen anbietet, indem sie die Kategorien des Eigenen und des Fremden in ein Verhältnis zueinander bringt« (Erdheim 1993, S.163). Als Suche nach Selbsterkenntnis und Selbstpositionierung in einem gesellschaftlich gegebenen, d.h. historisch entstandenen Verhältnis von Raum, Zeit und menschlicher Praxis (Handlungsfähigkeit/Agency) entwickelt sich die zunächst individuelle Arbeit an der personalen Identität in einer entwicklungspsychologisch zunehmend wechselseitigen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft und ist schon dadurch ein strukturell ambivalenter Prozess, bei dem sich Spannungen und Widersprüche in mal eher harmonischen, mal mehr antagonistischen Formen historisch bilden, ausleben und auch verändern können. Wirklich operationalisierbar, d.h. angemessen zu handhaben, ist dieser auf das wechselseitige Verhältnis von Subjekt und Objekt zielende Begriff der Identität (ob als individuelle oder kollektive Identität) deswegen nur im Sinne einer dialektischen Logik, »nur in dialektischem Zusammenhang«, wie der marxistisch beeinflusste Modernitätsforscher Göran Therborn (2000, S.237) zurecht betont hat. Und der Imperativ solch dialektischen Denkens und Forschens ist bekanntlich (bekanntlich?) die Historisierung, die Dialektik des historisch Konkreten.

Auch wenn es den Tatbestand einer Dialektik von Eigenem und Fremden bereits solange gibt, wie es das Gattungswesen Menschen gibt, so bekam ›Identität‹ ein dynamisches Eigenleben erst, als ihre Ausprägungen mit dem Durchbruch in die bürgerlich-kapitalistische Moderne zu einem zunehmenden gesellschaftspolitischen Problem wurden. Erst mit dem Aufkommen der modernen kapitalistischen Produktions- und Austauschweise und dem historischen Siegeszug des individualistischen Liberalismus lassen sich gesellschaftliche Prozesse stark voranschreitender Auflösung einstmals starrer, auf politisch-persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen beruhender, kollektiver Identitäten feststellen. Und dieser Prozess sozialer Auflösung und Fragmentierung hat sich in dem mit dem 20. Jahrhundert aufkommenden Zeitalter der permanenten Kriege, Revolutionen und Epochenbrüche nochmals beschleunigt, so dass die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machtvoll aufkommende Gemeinschaft der Soziologen und Psychologen zurecht betonen konnte, dass das am Modell traditioneller Gesellschaften gewonnene starre Identitätskonzept nun nicht mehr tragfähig sei. In den sich im aufkommenden Neokapitalismus der 1950er Jahre sogar noch weiter zuspitzenden politisch-ökonomischen und kulturellen Transformationsprozessen wurde die sozialpsychologische Ich-Leistung zur Aufgabe und zum Kompass im Meer gesellschaftlicher Veränderung in Permanenz.

Die schon damals, Mitte des 20. Jahrhunderts, zu konstatierende Erosions- und Verfallskrise linker wie rechter Alternativideologien, sprich: des kollektivistischen Sozialismus wie des antimodernistisch-ständischen Konservatismus, tat dabei ihr eigenes, dass sich zunehmend eigenständigere Formen einer Politik des Kulturellen und Besonderen entfalteten, die nicht mehr wie zuvor eingebunden waren in solch große, sich universalistisch verstehende Alternativbewegungen und Erzählungen. Ob in den befreiungsnationalistischen Kämpfen für eine Entkolonialisierung der ›Dritten Welt‹ oder in den neuen politischen, sozialen und kulturellen Kämpfen der ›Neuen Linken‹: Die von ihnen in diesen fünfziger und sechziger Jahren in Gang gesetzten Kämpfe waren gleichermaßen Produkt wie Motor der veränderten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse politischer, ökonomischer und kultureller (und dies heißt auch religiöser und geschlechtlicher) Art.

Immerhin versuchte die Neue Linke (in ihren politisch-intellektuell stärksten Vertreter*innen) noch, die alten universalistisch-sozialistischen Emanzipationsversprechen auf neue, lose Form weiter zu verfolgen, indem sie sich mit den an sich nichtsozialistischen lebensreformerischen, bürgerrechtlichen und antikolonial-antiimperialistischen Bewegungen zu verbünden und alte wie neue sozialen Bewegungen in einem neuen politischen Projekt, in einer neuen Bewegung der Bewegungen, zumindest programmatisch zu bündeln versuchte. Entsprechend machte erst das in den ›roten Siebzigern‹ zu konstatierende Scheitern dieser sozialistisch gesinnten Strömungen der Neuen Linken den Weg frei für jene neuen sozialen Bewegungen der ›bunten Achtziger‹, in deren Kontext es schließlich zur Formulierung auch linker identitätspolitischer Positionen kam. Man nahm ›Abschied vom Proletariat‹, verstand sich zunehmend als Postmarxist und entdeckte die ›Zivilgesellschaft‹ für sich. In solch neuem Pluralismus setzte man vor allem auf Subjektivität, individuellen Lebensstil und Identität und stellte die Differenz über die Einheit. Linke Politik müsse, hieß es, die Pluralität der Repressions- und Herrschaftsmethoden und die daraus resultierende Vielfalt emanzipatorischer Kämpfe ernst nehmen und widerspiegeln, die alte Idee des klassenkämpferischen Sozialismus durch neue radikale Demokratieformen ersetzen. Gleichzeitig galten die Aufklärung und das Fortschrittsdenken als mit dem herrschenden System hoffnungslos verwoben, dasselbe einmal mehr und nun endgültig als allmächtig, alternativlos und einer grundsätzlichen Veränderung nicht mehr zugänglich. Mit dem Abschied von den einstmals ›großen Erzählungen‹ wurde das vom System Bedrängte und Ausgeschlossene, das Minoritäre und Marginale gesucht und verteidigt. So blieb diesen Linken einzig die Subversion, das Herausarbeiten der negativen Wahrheit der Moderne und die Feier von Differenz und Pluralität. Als solcherart Bewusstseinsreform wurde linke Politik – nicht immer, aber immer mehr – zur Strategie und Taktik von Diskursen. Man wähnte sich fortan weniger rechts oder links als vielmehr ›vorn‹ und ›postmodern‹.

Doch auch in der ›Neuen Rechten‹ des globalen Nordens war es in den Siebzigern und Achtzigern zu einer Hinwendung zu Formen der Politisierung des Kulturellen und Besonderen gekommen. Ein trotzig restaurierter Sexismus hatte sich mit einem kulturalistisch verbrämten Neorassismus (›Ethnopluralismus‹) und einem sich neoliberal gebärdenden Standort-Nationalismus vermischt – während der Befreiungsnationalismus der ›Dritten Welt‹ seine einstmals linken und linksliberalen Eierschalen abwarf und sich im Kampf gegen die neoimperialistische Geopolitik des globalen Nordens zunehmend religiös-fundamentalistisch gab. In politischer und kultureller Opposition gegen den hegemonial vorherrschenden individualistischen Liberalismus betonte dieser neue Fundamentalismus die ihm eigenen, partikularen Gruppen-Identitäten und setzte dabei auf den Ausschluss der jeweils anderen, auf die in der Regel repressive Ausgrenzung des als fremd Empfundenen und Bezeichneten. Man bot den Menschen vermeintlich alte und stabile Identitäten an, »imagined communities« (Benedict Anderson), die sich von den traditionellen Identitäten des liberalen Bürgertums (›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹) und der sozialistischen Arbeiterbewegung (›Solidarität‹ und ›Internationalismus‹) vor allem dadurch unterscheiden, dass sie auf deren universalistischen Anspruch verzichten: Freiheit, Gleichheit und Solidarität galten nun vor allem für die eigene Bezugsgruppe.

Als Artikulationsmedien sozialer und politischer Konflikte politisierten solch fundamentalistische Ideologien und Bewegungen jedoch nicht nur ihre kulturellen Differenzen. Sie schrieben diese damit auch auf neue Weise fest und instrumentalisierten sie in machtpolitischer Absicht. Mag es anfänglich auch ›nur‹ um ein Bewusstsein der Differenz, um die auf eine verbesserte gesellschaftliche Position abzielende höhere Anerkennung und Stärkung des eigenen Gruppen-Einflusses gegangen sein, so ist eine solche ›Politisierung des Kulturellen‹, eine solche ›Politik der Anerkennung des Besonderen‹ von Beginn an politisch ambivalent. Als Antwort auf die Ausgrenzungs- und Ausschlusspraktiken einer dominanten ›Kultur‹ kann die Politisierung der eigenen Identität (national wie global) als Schutz vor der herrschenden Mehrheit, als Quelle von Selbstbewusstsein wie auch als Vorbedingung politischer Selbstorganisation und Selbstbehauptung dienen. Das heißt: Menschen werden sich ihrer sozialen, kulturellen, nationalen oder politischen Besonderheit, der damit oftmals verbundenen Ungerechtigkeit sowie den Möglichkeiten von Gegenwehr bewusst. Doch bestätigt eine solche Politisierung die vorherrschenden Ausgrenzungs- und Ausschlusspraktiken mindestens auf Zeit, d.h. solange diese Politisierung nicht eingebettet ist in übergreifende Emanzipationsstrategien einer Veränderung des Status Quo. So werden gerade jene Essentialisierungen und Naturalisierungen durch die Hintertür wieder in den gesellschaftlichen Alltag hineingeholt, die man durch die Vordertür eigentlich zu verabschieden gedachte.

Wo das Recht auf Differenz zur Kultur der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr als ein Recht auf Gleichheit und Gleichbehandlung eingeklagt wird, sondern als ein Recht auf die bevorzugte Andersbehandlung, auf positive Diskriminierung, wo sich also die Mittel und Wege zum neuen Zweck verabsolutieren, da verfestigen sich diese Naturalisierungen. Und die bereits im individuellen Identitätsbildungsprozess immanente Dialektik zwischen der Entdeckung und Erschaffung des Selbst und der sie begleitenden Erfahrung des Anderen wird dann entsprechend antagonistisch aufgeladen und ›politisiert‹. Als politische Mobilisierungsstrategie einer Anerkennung des Besonderen tendiert deswegen Identitätspolitik im gesellschaftlichen Raum handfester Interessens- und Klassenauseinandersetzungen (national wie international) zu einem oppositionellen, separatistischen Partikularismus und schottet sich, entweder freiwillig gewollt oder aufgrund einer repressiv vorherrschenden Mehrheitskultur dazu gezwungen, von dieser Dominanzkultur ab – und trägt damit nicht zur Überwindung vorherrschender Verhältnisse bei, sondern zu ihrer Aufrechterhaltung und Verfestigung.

Und dies gilt eben auch für die damals aufkommenden Formen linker Identitätspolitik. Denn was im globalen Westen der achtziger Jahre noch eine heterogene Spielwiese vielfältiger Ansätze und Experimente war, gewann in den Neunzigern, mit der sich schnell und tiefgreifend vollziehenden Implosion des alten, maroden Ostblocksozialismus, eine neue, zusätzliche Qualität. Mit dem sogenannten ›Ende der Geschichte‹ fand auch die endgültig marginalisierte Rest-Linke ihre politische Identität nicht mehr über ein positiv zu erringendes universalistisches Ziel, sondern einzig noch als bloße ›Kraft der Negation‹, d.h. negativ abwehrend gegen die sie bedrohenden herrschenden Politikformen. Was bisher offensiver Ausgangspunkt sozialistischen Denkens und Handelns war, die Selbstzuordnung zu einem entsprechend politischen und sozialen Kollektiv, wurde nun zum defensiven Zielpunkt, zum Schutzort gegen die vermeintlich herrschende Mehrheit – der identitätspolitische Postmodernismus trat seinen politisch-intellektuellen Siegeszug auch auf der Linken an.

III

Diese Entwicklung ist natürlich nicht ohne Kritik von Seiten linker Sozialist*innen und Marxist*innen geblieben. Bereits Mitte der Achtziger hatte bspw. die damals auch in Westdeutschland viel gelesene sozialistische Feministin Anja Meulenbelt linke identitätspolitische Ansätze (wie das US-amerikanische Combahee River Collective) kritisiert. Ein solcher Separatismus, so Meulenbelt, verabsolutiere ein vorübergehendes Mittel zum Ziel, schließe dabei alle nicht-identitären Verbündeten aus und führe zu neuen gesellschaftlichen Gettos:

»Anders als es manchmal die feministische Rhetorik glauben machen will, führt der erfolgreiche Separatismus keineswegs zu einer Gefährdung der bestehenden Ordnung, er lässt die vorgefundenen Machtverhältnisse vollkommen intakt. Daneben haben wir feststellen können, dass ein konsequenter Separatismus Menschen mit doppelter Loyalität ausgrenzt. Und davon gibt es viele. (…) Wenn wir nicht wollen, dass Identitätspolitik auf die Dauer in einer Zersplitterung versandet, ein Grüppchen jüdischer Lesben aus der Arbeiterklasse neben einem Grüppchen Heterofrauen mit Kindern aus der Mittelschicht, dann müssen wir notgedrungen über die Mauern unserer eigenen Identität hinausblicken und erkennen, dass es neben allen Unterschieden viele Gemeinsamkeiten und gemeinsame Anliegen gibt, für die es sich zu arbeiten lohnt. (…) Keinem schwarzen Menschen wäre geholfen, wenn Weiße sich für die fahlrosa Haut, mit der sie geboren worden sind, schämen würden. Keiner Feministin geht es letztlich besser, wenn Männer anfangen, sich für ihr Mannsein zu schämen. (…) Wir würden in eine neue Art biologischen Denkens verfallen, wenn wir davon ausgingen, einen Männerkörper oder neue helle Hautfarbe zu haben sei an sich falsch, und die Normen lediglich umkehrten.« (Meulenbelt 1986, S.275ff. & 282)

Ende der achtziger Jahre vertiefte dann die angelsächsische Historikerin und politische Theoretikerin Ellen Meiksins Wood (neben anderen gewichtigen Denker*innen – zur Kritik des Postmarxismus und Postmodernismus vgl. die einschlägigen Arbeiten von Ellen Meiksins Wood und Norman Geras, von David Harvey, Alex Callinicos und Terry Eagleton) die Kritik der postmodernen Feier von ›Differenz‹ und ›Pluralismus‹. Solches Denken, so Wood, sei unfähig und unwillig,

»sich mit der allumfassenden Totalität des Kapitalismus als eines sozialen Systems auseinanderzusetzen, dessen Grundlage eine Klassenausbeutung ist, die alle ›Identitäten‹ und gesellschaftliche Verhältnisse formt« (Wood 1995, S.263). Der Postmodernismus betrachte die Realität durch die ideologische Brille des konsumgesellschaftlichen Warenfetischismus und verschleiere so »die diesen Phänomenen zugrundeliegende systemische Einheit, die tief greifende und umfassend homogene Geschlossenheit der diese Vielfalt hervorbringenden Imperative. (…) Der Kapitalismus als eine besondere Sozialform gerät so aus dem Blick und wird unter einer Unzahl von Fragmenten und der ›Differenz‹ begraben. (…) Anstatt der universalistischen Ziele des Sozialismus und der zusammenführenden Politik des Kampfes gegen Klassenausbeutung haben wir dann eine Pluralität von im Wesentlichen unzusammenhängenden partikularen Kämpfen, die in der Unterwerfung unter den Kapitalismus endet.« (Ebd., S.264 – die deutsche Übersetzung wurde hier nach dem Original korrigiert)

Doch solch explizit politischer Marxismus hatte es nicht nur im Westdeutschland der Achtziger schwer, sondern auch im neuen Gesamtdeutschland der Neunziger, wo sich, neben den postautonomen und poststrukturalistischen Verfallsformen Kritischer Frankfurter Theorie und neben den reformistisch-revisionistischen Zerfallsformen eines ostdeutschen Marxismus-Leninismus, eine aus enttäuschten Alt- und Ex-Linken bildende neue zynische Intelligenz vielfältiger Couleur entfaltete, die – gleichsam als neue »kritische Kritik« (Marx) – das Kind mit dem Bade ausschüttete und, in trauter Gemeinsamkeit mit dem liberalkonservativen Feuilleton und mit sozialdemokratischen Vordenkern, auf den vermeintlich deutsch-völkischen ›Identitätswahn‹ der jungen politischen Linken einzuprügeln begann.

Einer der einflussreichsten Verteidiger des zu Beginn der neunziger Jahre aus den USA in die deutsche Provinz hinüberwehenden neuen identitätspolitischen Trends war dagegen der damals noch politisch-journalistisch stark engagierte Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen. In seinen zahlreichen Artikeln und Aufsätzen, und in seinem 1996 veröffentlichten Buch Politische Korrekturen, versuchte Diederichsen, diese Diskurse für eine Erneuerung der offensichtlich darniederliegenden linken Theorie und Praxis fruchtbar zu machen. Anders als den konservativen US-Puritanern und ihrem medialen Kampf gegen die Political Correctness ginge es den linkspolitischen US-Identitätsaktivist*innen weder um Denk- und Sprachverbote noch um konservativen Tugendterror, als vielmehr um »identitätspolitische Einflussnahmen auf Lehrinhalte, symbolpolitische Strategien der Selbstermächtigung und feministisches Insistieren auf der Politizität des Privaten« (Diederichsen 1996, S.13). Dass solch Identitätspolitik an einem bestimmten Punkt immer auch »in einen konservativen Lobbyismus, wenn nicht Schlimmeres umschlagen kann«, wusste ihr Verteidiger schon damals: Entscheidend für ihr weiteres Schicksal sei deswegen, »ob Modelle der Verknüpfung oppositioneller Politiken und Praktiken zur Verfügung stehen« (ebd., S.54f.). Und seinem alten Sexbeat-Credo gemäß hoffte er auch weiterhin auf die gleichsam subkulturell-permanente Revolution des Weiter, weiter, weiter.

Distanzierter in der Form, aber vergleichbar in der Sache, intervenierte damals, neben manchen anderen, auch der Altmarxist Wolfgang Fritz Haug. Seit jeher gehe »alle Politik mit Sprachpolitik oder auch ›Sprachregelungen‹ einher. Aber sie bleibt Politik nur, solange sie sich nicht darauf reduziert, sich jedenfalls nicht davon dominieren lässt« (Haug 1998, S.89). In der falschen Gesellschaft gebe es nun einmal keine richtige Repräsentation. Politische Korrektheit ermögliche zwar politisch-diskursive Raumgewinne, neige aber allzu leicht auch dazu, sich auf administrative Sprachregelungen und statische Sprachordnungen einzulassen: „(O)hne den Rock des Citoyen als des politischen Bürgers ist weder Hemd noch Haut der je eigenen Identität(en) sicher. Der Sinn der politischen Emanzipation, sagte schon der junge Marx gegen Bruno Bauer, ist nicht, dass die Juden ihre jüdische Identität aufgeben müssen, um der Bürgerrechte teilhaftig zu werden, sondern dass Zustände geschaffen werden, in denen sie (gleich) wie alle andern am Gemeinwesen mitwirken können und als Juden in Ruhe gelassen werden.« Solange aber die Linke die Lektion der Differenz nicht gelernt habe, könne sie einer partizipativen Zivilgesellschaft auch keinen solidarisch-sozialen Boden bereiten. Umgekehrt habe jedoch die »Differenz« auch »keine andere Chance, den gesellschaftlichen Gewaltbedingungen zu entkommen, als Verhältnisse universeller Zivilität. Die universelle Zivilgesellschaft oder der plurale Universalismus sind Orientierungen, in denen sich wahrhaft Liberale und Linke treffen können. Sie aus politischer Richtigkeit zu richtiger Politik zu führen, wäre die Renaissance der Linken.« (Ebenda, S.110 – ausführlicher zu den Diskussionen der 1980er und 1990er Jahre vgl. Jünke 2002 & 2022)

IV

Solche Hoffnungen auf Verknüpfungsmodelle linksoppositioneller und identitätspolitischer Praxen und Politiken sollten sich nicht erfüllen. Der historische Bruch der ›dunklen neunziger‹ Jahre ging tiefer und war nachhaltiger. Während sich die alte, von Identitätsdiffusion und Identitätszerfall umfassend betroffene westdeutsche Linke weitgehend zerstreute und transformierte, setzte die überwiegend ostdeutsch gebliebene Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) auch weiterhin vor allem auf ihren identitätspolitischen Kampf um die Anerkennung ostdeutscher Biografien und ihr Ankommen in der neuen Berliner Republik – was in einen stetigen Erosionsprozess führte. Dass die PDS damals nicht gänzlich zerfallen ist, verdankte sie der erneuten Zuspitzung des hegemonialen Neoliberalismus, diesmal in den Farben ›rot‹ und ›grün‹, und seines nun auch militärischen Ein- und Aufmarsches in die neuen Kampfzonen der bewaffneten Globalisierung. Eine linke Abspaltung von der Sozialdemokratie spülte viele erfahrene westdeutsche Parteifunktionäre und Gewerkschaftskader in die neue Linkspartei, während sich auch eine neue Generation von Jung-Aktivisten und Jung-Akademiker*innen an sie und ihre Themen und Töpfe band. Ein moderner, kapitalismuskritischer Sozialismus schien wieder ›in‹ und gab sich zunehmend rosa und ›bindestrich-deutsch‹. Doch auch dieser neuen politischen Formation gelang es nicht, die wahlpropagandistisch beschworene neue soziale Idee, deren Zeit gekommen sei, auch wirklich politisch kollektiv durchzubuchstabieren. Während die Linkspartei also abermals in Agonie verfiel (nicht nur, aber auch nicht zuletzt, weil sie keine gemeinsame Antwort auf die neuen europäischen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen finden konnte), ergriff die zweite und dritte Generation von Einwandererkindern (vor allem jene, die nun besser ausgebildet in gesellschaftlich höherwertigen Berufen arbeiteten) das Wort, thematisierte ihre anhaltende Diskriminierung und Ausgrenzung und verwahrte sich gegen einen undifferenzierten Anti-Islamismus und andere Rassismen, während die alten und neuen Konservativen inner- und außerhalb des Establishments einmal mehr Front machten gegen solch Multikulturalismus und Political Correctness.

Doch was wie die bloße Rückkehr zu den alten identitätspolitischen Diskussionen der Neunziger aussieht, ist gerade weil sich das Rad der Geschichte weitergedreht hat und gerade weil die heutigen Diskussionen auf einem breiteren, nun gesamtgesellschaftlichen Terrain vonstattengehen, durchaus mehr. Schon Mitte der neunziger Jahre hatte Diederichsen (1996, S.48) beschrieben, dass die an sich heterogenen Formen linker US-amerikanischer Identitätspolitik vor allem Formen einer Campus- und Kulturpolitik seien, die oft nur das eine gemeinsam hätten, »sich von altlinker Opposition zu unterscheiden, manchmal zum Nachteil erhaltenswerter linker Selbstverständlichkeiten«. Zwanzig Jahre später beschreiben Feddersen/Gessler versiert, wie die Identitätspolitik als ein spezifisches Kind der US-amerikanischen Geistes- und Kulturwissenschaften aus der Campus- und Kulturpolitik in den breiteren Medien- und Politbetrieb und in die Welt der Unternehmen und der Politik übergriffen und auf ihrem Weg einen neuen Konformismus beförderten.

Hatten Diederichsens Genossen Tom Holert und Mark Terkessidis (1996, S.5ff.) schon Mitte der Neunziger vor dem neuen ›Mainstream der Minderheiten‹ gewarnt und betont, dass diese neue Jugend- und Popkultur vom sich verändernden warenförmigen Kulturkapitalismus nicht einfach kooptiert worden sei. Vielmehr trug sie zu diesen Veränderungen, auf eine vergleichbare Weise wie andere neue soziale Bewegungen, geradezu maßgeblich mit bei. Ein Vierteljahrhundert später hatten solche Thesen ihren subkulturellen Entstehungsort verlassen und waren eingegangen in den gesellschaftswissenschaftlichen Mainstream. Der neue, wesentlich mit Kulturalisierungen arbeitende Wissens- und Kulturkapitalismus, so bspw. Andreas Reckwitz jüngst, funktioniere wie eine Gesellschaft der Singularitäten, in der die gesellschaftliche Logik des Allgemeinen von einer affektbeladenen sozialen Logik des Besonderen und Einzigartigen abgelöst worden sei. Und dies führe zu immanenten, mit polarisierenden Auf- und Abwertungen des Anderen arbeitenden »Tendenzen einer Kultivierung partikularer (Neo-)Gemeinschaften«, die dem vorherrschenden Liberalismus strukturell eingeschrieben seien und gleichsam dessen radikale Individualisierung anzeigen, während »eine neue, urbane Mittelklasse von hochqualifizierten, an Selbstentfaltung und individuellem Prestige orientierten Akademikern zum neuen Leitmilieu der Gesellschaft« werde (Reckwitz 2019, S.266 & 19).

Wenn also Feddersen/Gessler in ihrem kompetenten und engagierten Überblick über die heutigen identitätspolitischen Debatten betonen, dass Identitätspolitik nichts anderes sei als Antidiskriminierungspolitik ethnisch-kultureller und biologisch-sexueller Minderheiten – und diese Behauptung findet sich in fast sämtlichen der heute auf dem Medienmarkt sich bewegenden Bücher und Beiträge –, dann ist dies so nicht richtig. Identitätspolitik findet ihren historischen und gesellschaftlichen Ursprung zwar im demokratischen Kampf gegen anhaltende Diskriminierungen. Doch für den alten Kampf um eine wirklich partizipative Demokratie hätte man keinen neuen Begriff gebraucht. Das was heute als Identitätspolitik gesellschaftlich verhandelt und nicht selten (und nicht zuletzt von Feddersen/Gessler) als ›identitätspolitischer Furor‹ mal beklagt und mal verteidigt wird, ist vielmehr eine spezifisch postmoderne Verfallsform von Antidiskriminierungspolitik. Denn die alte Idee einer zeitlich vorübergehenden positiven Diskriminierung hat sich mit dem Verlust der sie universalistisch einbettenden Zielidee verselbstständigt. Und wo es im politisch-diskursiven Raum nicht mehr darauf ankommt, was jemand sagt, sondern vor allem darum, wer etwas wie sagt, und wo das Recht auf Differenz zur Kultur der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr als ein Recht auf Gleichheit und Gleichbehandlung, sondern als ein Recht auf die bevorzugte Andersbehandlung eingeklagt wird, da bricht sich ein auf strategischen Essentialisierungen beruhender positionaler Fundamentalismus Bahn, der die wechselseitige Wahrnehmung des Eigenen und Anderen antagonistisch auflädt und in machtpolitische Interessen kanalisiert. Die zwangsläufige Begleiterscheinung eines solch positionalen Fundamentalismus sind dann (rechts wie links, oben wie unten) puritanische Konformismen und eine in den gesellschaftlichen Alltag eindringende Absage- und Verbotskultur (Cancel Culture) mit ihren »Redeunterlassungs- beziehungsweise Schweigeopportunitätsfiguren« (Feddersen/Gessler) und ihren politisch-religiösen Bußritualen und Sektierereien.

Es sind diese fundamentalistischen Formen und Methoden einer identitätspolitischen Korrektheit (in der Tat eine Form des zu beklagenden Tugendterrors – ein Tugendterror jedoch, der seinen historischen Ursprung nicht, wie die Liberalen und Konservativen sagen, in der sozialistischen Linken findet, sondern in der bürgerlichen Linken, im Radikaldemokratismus eines gewissen Maximilien de Robespierre), um die es in den heutigen Diskussionen eigentlich geht und gehen sollte – denn sie unterhöhlen nicht nur die vorhandenen, ohnehin schon schwachen Formen gesellschaftlichen Zusammenhalts (dies die konservative Kritik), sondern sie vertiefen auch und mehr noch (dies die linke Kritik) die ohnehin schon nachhaltige Spaltung und Entfremdung der linksoppositionellen Kulturen voneinander.

V

Die seit einigen Jahren erneut an Fahrt aufnehmende gesellschaftspolitische Debatte über Identitäten und Identitätspolitik wird allerdings im heutigen Deutschland noch fast durchgängig als wechselseitige Erregungsdebatte innerhalb des vorherrschenden Liberalismus geführt und ist als solche der Ausdruck eines fortschreitenden Gesellschaftszerfalls und des daraus erwachsenden bürgerlichen Krisenbewusstseins. Greifen die Konservativliberalen die angeblich ›linke Identitätspolitik‹ als bedrohlichen gesellschaftlichen Verfall an, weil sie ihre Herrschaft absichern und konservieren wollen, verteidigen die Linksliberalen die von ihnen durchaus nicht weniger kritisch betrachtete Identitätspolitik, weil sie die liberaldemokratische Gesellschaft im Sinne ihres besseren Erhalts reformieren wollen und wissen, dass die Konservativen den ›linken identitätspolitischen‹ Sack prügeln, weil sie den linksliberalen Antidiskriminierungs- und Demokratisierungs-Esel meinen.

Durchgängig und in sich konsistent verstehen bspw. die beiden taz-Journalisten Feddersen und Gessler – und sie stehen hier einmal mehr repräsentativ für den linksliberalen Mainstream der Debatte – unter dem von ihnen demonstrativ reklamierten ›Linkssein‹ keine gesellschaftskritische, gar anti-systemische, d.h. antikapitalistisch-sozialistische Linke (so etwas halten sie für grundsätzlich veraltet), sondern eine wesentlich systemkonforme, bürgerlich-demokratische Linke. Sozialisten, Marxisten und Anarchisten sucht man bei ihnen vergebens und die Klassenfrage ist ihnen eine Frage nach sozialer Gerechtigkeit, nach bloßer Chancengleichheit. Sie rufen nicht zur Infragestellung unserer klassengesellschaftlichen Gesellschaftsform auf, sondern zu deren sanfter, bunter Reform. Und so wie das ›Linkssein‹ in der konservativen US-amerikanischen Kultur ein bloßes Synonym ist für jenen am Rande des Establishments sich bewegenden sozialen und demokratischen Liberalismus, sind auch die »Linken« Feddersen/Gessler nicht mehr (aber auch nicht weniger) als selbstbewusste Vertreter eines solchen sozialen und demokratischen Liberalismus. Dass sie – und alle anderen – in ihrem Linkssein auf einen (über vereinzelte Personen oder Kleinstgruppen hinausgehenden) marxistisch orientierten und sozialistisch gesinnten Antikapitalismus keinerlei diskursive Rücksicht mehr nehmen müssen, verdeutlicht auf erschreckende Weise, wie umfassend wir bereits, trotz postkommunistischer Linkspartei, in einer nachhaltig ›amerikanisierten‹ deutschen Gesellschaft leben, die links vom Mainstream einzig noch den linken Liberalismus kennt.

Ihren Gegenpol in der publizistischen Debatte bilden dann auch keine sozialistischen Linken mehr, sondern jener konservative Liberalismus, der das Schreckbild eines modernen, angeblich linken Kulturkampfes an die Wand malt und mit dem alten Schlachtruf ›Hannibal ante portas‹ nach dem Knüppel des Staates ruft. Der im niedersächsischen Innenministerium arbeitende ›Extremismusforscher‹ Udo Baron (2021) bspw. warnt vor den radikalen Identitätslinken und ihrem »Rückschritt in voraufklärerische Zeiten« (eine »hochgradig intolerante Strömung der extremen Linken mit Auswirkungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft«) und beschwört dabei »auch die wehrhafte Demokratie«, um »sowohl Rechts-, aber auch Linksidentitäre mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates zu bekämpfen«. Wer genau diese von ihm ausgerufenen neuen linken Verfassungsfeinde eigentlich sind, das vermag Baron natürlich nicht zu sagen. Selbst ihm zufolge zielt die ›Identitätslinke‹ vor allem auf demokratische Anliegen, »auf die Gleichstellung und Emanzipation von Gruppen, die wegen ihrer geschlechtlichen, kulturellen oder religiösen Identität als benachteiligt gelten« (wogegen ja nichts zu sagen wäre). Nichts desto trotz bedeute dies in der Praxis »das systematische Ausblenden, Ausgrenzen und Diffamieren unliebsamer Positionen und Personen« – eine Praxis also, mit der die von ihm vertretene wehrhafte Demokratie ja eigentlich keine Probleme haben dürfte…

Nun gibt es zweifelsohne viel identitätspolitischen Unsinn, auch politisch gefährlichen, in unserer Welt gesellschaftspolitischer Diskurse und Taten, eine organisierte linke Strömung der Identitätspolitik jedoch dürfte dabei schwerlich auszumachen sein. Und nicht wenige jener, die sich als Linke explizit identitätspolitisch engagieren, tun dies bereits mit starken Selbstzweifeln und Bauchschmerzen, weil sie verstanden haben, dass sich da etwas verselbstständigt hat. Man wolle, betonen bspw. die Herausgeber*innen eines sozial, ethnisch und politisch vielfältig zusammengesetzten, ebenso reichhaltigen wie anregenden Sammelbandes (der nun bereits in dritter Auflage vorliegt und sogar von der Bundeszentrale für politische Bildung nachgedruckt wurde), hinter die Kernanliegen progressiver, emanzipatorischer Identitätspolitiken nicht zurückfallen: »Und doch. Wie aus manchen Schüler*innen von Karl Marx ‚Vulgärmarxist*innen’ wurden, so erleben wir momentan die Verbreitung einer vulgären Identitätspolitik mit fundamentalistischen Zügen.« Entsprechend wenden sich diese Identitätsforscher*innen und Identitätspolitiker*innen explizit gegen »die selbstgerechte Abschottung einerseits und das Abkanzeln, Rügen oder gleich Niederkrähen von Gegner*innen andererseits« (Eva Berendsen u.a. 2021, S.8ff.).

Das mag nicht ausreichen für eine wirkliche Selbstkritik der postmodernen Linken (Haug), aber immerhin. Soviel Sensibilität und Selbstkritik sucht man vergeblich bei jenem Autorenduo Lea Susemichel und Jens Kastner, das sich mit seinem Buch Identitätspolitiken (2018) und seinen zahlreichen, darauffolgenden Aufsätzen und Artikeln zu einem der Referenzpunkte der jüngsten Aufmerksamkeitsökonomie auch auf der Linken gemacht haben. Ihr einführender Überblick über historische und aktuelle Vordenker*innen einer vermeintlich spezifisch linken Identitätspolitik kommt allerdings über einen ebenso groben wie verzerrenden popkulturellen Durchmarsch durch die linke Theorie und Praxis nicht hinaus, hat mehr mit dem alten postmodernen Zitatpop zu tun als mit ernsthafter, systematischer politischer Theorie und Praxis. Getragen wird es von dem geschichts- und theorielosen Missverständnis, dass Identitätspolitik von links eigentlich nichts anderes sei als bloße Antidiskriminierungs- und Anerkennungspolitik, und dass diese Form der Identitätspolitik etwas ganz Altes und ganz Gutes, etwas zutiefst Emanzipatives und Entwicklungsfähiges sei. Anstatt die erst im letzten halben Jahrhundert aufgekommene und als historisch-spezifische entsprechend identifizierbare Strömung der Sozial- und Ideengeschichte zu historisieren, bedienen sie eine zeitlose politische Ontologie, in der alle Katzen graue Identitätspolitikerinnen sind. Ambivalenzen und Dilemmata der Identitätspolitik gebe es zwar (sie benennen sie sogar recht versiert), aber eigentlich würden diese von den meisten linken Kritikern nur aus eigenem, zumeist männlichen Machtinteresse aufgebauscht, so dass man sie offensichtlich auch nicht weiter zu verfolgen braucht. Systematisch werden bei ihnen liberale und sozialistische Kritiker*innen in einen gemeinsamen Topf geworfen und verabscheut, systematisch werden vorhandene sozialistisch-marxistische Kritiken des Queerfeminismus und des Postkolonialismus, des Postmodernismus und der Anerkennungspolitik, des black exceptionalism wie der Black Lives Matter-Bewegung entweder verschwiegen oder heruntergespielt und denunziert. Jeglicher Dialektik entleert, wird auch bei ihnen der identitätspolitisch verabsolutierte Kampf gegen die Binarität zum binären Kampf des vermeintlich Neuen und Radikalen gegen alles vermeintlich Alt-Linke, die von ihnen eingeforderte radikale Solidarität zur Solidarität einzig der Radikalen.

Nicht ohne Ironie ist vor solchem Hintergrund die Tatsache zu bemerken, dass der in der Bundesrepublik wohl prominenteste linke Kritiker von Identitätspolitiken eine Frau ist: Sahra Wagenknecht. Die in den etablierten Medien gern gesehene, in ihren eigenen Reihen dagegen heftig umstrittene Frontfrau der Linkspartei hat im letzten Jahr eine wellenschlagende Abrechnung mit dem linken Identitarismus vorgelegt, den auch sie, wie ein Großteil des deutschen Konservatismus, für ursächlich schuld am Verlust jeder politischen Diskussionskultur hält. Einmal mehr macht sie ihrem eigenen „Linkskonservatismus“ (Wagenknecht über sich selbst!) alle Ehre und mischt mit viel Esprit und Eloquenz einen ebenso umfangreichen wie oftmals erfrischenden linken Rundumschlag gegen die ökonomischen, politischen und kulturellen Verwerfungen unserer neoliberalen Welt mit seitenlangen Invektiven gegen die »Sittlichkeitswächter« und »Triggerwärter« der »Lifestyle-Linken«, die sie zwar für »weder links noch liberal« hält, aber nichts desto trotz unablässig des Linksliberalismus bezichtigt.

Mit dialektischen Ambivalenzen jedenfalls kann auch die in ihrer Jugend sich hegel-marxistisch gebende Intellektuelle nicht umgehen. Identitätspolitik betreiben ihr zufolge nur »immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten«, denen es »um individuelle Merkmale« und »Marotten« und »Tamtam« geht (Wagenknecht 2021, S.102 & 109). Dieser identitätspolitische Linksliberalismus bringe »angebliche [sic] Minderheiteninteressen fortlaufend in Gegensatz zu denen der Mehrheit« und halte »Angehörige von Minderheiten dazu an, sich von der Mehrheit zu separieren und unter sich zu bleiben« (ebd., S.114). In der Tat ein wirkliches Problem der Identitätspolitik, doch für die linke Politikerin wird damit keine eigene politische Aufgabe, sondern ein schlichtes Ausschlusskriterium benannt, denn im unmittelbaren Anschlusssatz behauptet sie, dass dieser Tatbestand »(n)achvollziehbarer Weise bei der Mehrheit irgendwann zu dem Gefühl (führt), die eigenen Interessen ihrerseits gegen die der Minderheiten behaupten zu müssen«. Das mag ja nachvollziehbar sein, aber ist es auch politisch richtig (d.h. political correct)?? Darüber verliert sie kein Wort! Das ist nicht politische Aufklärung, sondern bloße politische Polemik, ein polemisch verzerrender und polarisierender Stil, der weder Spannungen noch Widersprüche kennt. Doch gerade solche, der Identitätspolitik strukturell eingeschriebenen Ambivalenzen machen die zu diskutierende Sache so kompliziert – und ohne ihre Berücksichtigung verkommt auch die linke Kritik der Identitätspolitik zum rechten Stammtisch, dessen Sprache Wagenknecht tatsächlich fast durchgängig spricht.

Auf je eigene Weise weigern sich Susemichel/Kastner und Wagenknecht, eine auf eigenständigen theoriepolitischen Füßen ruhende Position zu identitätspolitischen Strömungen und Tendenzen zu erarbeiten. Beide teilen die der bürgerlichen Gesellschaftsform eigene Geschichts- und Theorielosigkeit, beide missverstehen die Identitätspolitik als bloße, linke Antidiskriminierungspolitik, beide verbleiben in einem schlichten Dafür oder Dagegen, gleichsam im binären Entweder-Oder, wo es um Ambivalenzen und ihre historische Dialektik zu gehen hätte. (Ausführlicher kritisiert habe ich die beiden Werke in Jünke 2022.)

Anders dagegen der ehemalige Linksparteichef Bernd Riexinger, der vor Jahren sein Konzept einer »verbindenden Klassenpolitik« in die politisch-strategische Debatte warf (und mittlerweile von seiner eigenen Parteibürokratie gestürzt worden ist). Man könne und dürfe, schrieb er 2018 in seiner Programmschrift für eine »neue Klassenpolitik«, nicht blind sein für die Identitäten der jeweiligen Mitglieder der modernen Arbeiterklasse. Vielmehr müsse man sich um die Frage des Zusammenhangs von Identitäts- und Klassenpolitik, um die Frage einer Verschränkung von Klasse, Geschlecht und Rassismus politisch und intellektuell kümmern: »Die Aufgabe der Linken ist es nicht, den Einsatz für Minderheiten gegen die Klassenfrage auszuspielen, sondern Emanzipationskämpfe der Menschen zu unterstützen und in der gesellschaftlichen Debatte die Grenze des Liberalismus deutlich zu machen.« (Riexinger 2018, S.89) Riexinger versuchte also, dort anzuknüpfen, wo die sozialistisch-marxistische Linke der Achtziger und Neunziger schon einmal gewesen ist.

In den Neunzigern plädierte bspw. auch der als Politikwissenschaftler im Nordosten der USA tätige, schwarze sozialistische Aktivist und Kolumnist Adolph Reed Jr. für ein vergleichbares Programm einer an den Arbeitsverhältnissen (auch den nicht vorhandenen) und ihren Identitäten ansetzenden, breit übergreifenden Veränderungsperspektive. Doch schon an der Milleniumsgrenze musste Reed die weitreichende Abkehr der linken politischen Intelligenzija von der Klassenpolitik registrieren. Hatte er zunächst noch betont, dass man solcherart Kultur- und Identitätspolitik weder historisch noch logisch von der sozialistisch gesinnten Klassenpolitik trennen könne, stellte er nun fest, dass die identitätspolitische Trennung dieser beiden Politiken auch eine Form von Klassenpolitik sei. Denn wo solche Identitätspolitik die kulturellen und ethnischen Differenzen verabsolutiere, verunmögliche sie jede breit übergreifende und solidarische Organisationsfähigkeit und verwandele sich in die bloß selbstdarstellerische Schein- und Symbolpolitik einer selbstgerechten Mittelschicht:

»Weiße müssen ihren Antirassismus demonstrieren, Heterosexuelle ihren Widerstand gegen Homophobie unter Beweis stellen. Männer müssen ihren Antisexismus, jede nicht-weiße Gruppe ihre Wertschätzung und ihren Respekt für die Perspektiven der anderen überzeugend unter Beweis stellen – und all dies, noch bevor strategische Überlegungen möglicher Interessensgemeinsamkeiten angestellt werden können.« Wo also eine solche Politisierung der Differenzen den solidarisch übergreifenden Klassenkampf ablehne, sei sie kein neuer Typ sozialer Bewegung, sondern ein »Anzeichen der Demoralisierung und Niederlage, der historischen Amnesie und beschränkten Klassenlage von Teilen der Linken« (Reed 2000, S. xxiii & xxvi).

In den folgenden beiden Jahrzehnten entwickelte sich Reed – von der politisch-historisch und politisch-generationell mehrfach gebrochenen und geradezu national bornierten deutschen Linken nicht zur Kenntnis genommen – zu einem ebenso versierten wie Schule machenden sozialistischen Kritiker ›linker Identitätspolitik‹ (ausführlicher dargestellt habe ich die aus den USA kommende, explizit marxistisch-sozialistische Kritik des in ›linke Identitätspolitik‹ gekleideten ethnischen Liberalismus, die ein eigenes Thema wert wäre, in Jünke 2022). Eine auch nur ansatzweise vergleichbare Analyse und/oder Kritik der spezifisch identitätspolitischen Fallstricke und Irrwege suchen wir dagegen bei Riexinger und seiner Schule vergebens. Eine »Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit«, lesen wir bei einem anderen Autor dieser Schule, »müsste spannungsreich verbinden, was sich nicht aufeinander reduzieren lässt (…). Klassen- und Identitätspolitik nicht als Entweder-Oder, sondern als Sowohl-als-auch.« (Goes 2019, S.16) Der Rest ist Schweigen – und grau ist alle Theorie…

Dass die Kritik der ›linken‹ identitätspolitischen Korrektheit auf der deutschen Linken und in ihrer Linkspartei keine angemessene intellektuelle Heimstatt gefunden hat, mögen die einen den politisch-historischen Provinzialisierungs- und Verspätungsprozessen des linken deutschen Geistes und ihrer Verhaftung in altsozialdemokratischen und postkommunistischen Gedankenwelten zuschreiben, die anderen der Tatsache, dass die staatlich finanzierte Linkspartei und ihre Rosa Luxemburg Stiftung mit ihrer spezifischen Mischung aus politischer Modernisierungsorientierung und gutbezahlten E13-Stellen (mit Rentenanspruchsperspektive) einen stark wirkenden Sog gerade auf die neue, akademisch gebildete und dem linken Identitarismus zuneigende ›Lifestyle‹-Linke ausübte. Dass die längst fällige innerlinke Kritik identitätspolitischer Korrektheiten unter solchen Bedingungen v.a. von der aus dem ostdeutschen Stalinismus in den westdeutschen Sozialdemokratismus intellektuell gewanderten und dort sich linkskonservativ einrichtenden Wagenknecht artikuliert wird, trägt schon tragische, weil kontraproduktive Züge. Und doch ist dies nur die andere Seite einer Partei, in der ein Gregor Gysi nach den wahlpolitischen Zusammenbrüchen des Jahres 2022 nichts Besseres zu verkünden wusste, als dass man sich nun doch wieder auf seine Ostidentität besinnen sollte.

VI

»Identitätspolitik, in welcher Variante sie auch auftritt, wirkt trennend und nicht vereinigend. Ob sie aber bedrohlich wirkt oder nicht auch produktiv, hängt von den Interaktionsbeziehungen ab. In ihrer Ambivalenz ist sie das getreue Abbild des Zwiespalts des Liberalismus selbst.« (Priester 2003, S.289)

Dieser heute mehr denn je vorherrschende Liberalismus hat jedoch alle macht- und herrschaftstechnischen Erfahrungen, eine ›verbindende Klassenpolitik‹ zu bekämpfen und zu tabuisieren. Und er ist sich hierin weitgehend einig mit den oppositionellen Identitätspolitiken jener jungen Hipster der Diversität, die einen Gutteil ihrer Identität gerade aus der Illusion ziehen, sie seien das neue historische Subjekt, das die verrottete Alt-Linke, die ›alten weißen Männer‹ mit ihren patriarchal-repressiven Traditionen, zu ersetzen habe. Die der Identitätspolitik immanenten Ambivalenzen wirken unerbittlich und eine »neutrale Instanz«, so Bernd Stegemann (2021, S.138) treffend, würde »empfehlen, Identitätspolitik selten oder nie in der Öffentlichkeit zu verwenden. Doch gerade eine solche universalistische Instanz wird in der postmodernen Logik der Identitätspolitik vehement abgelehnt.«

Konnte Identitätspolitik also noch vor dreißig Jahren als der Versuch einer Reformation linker emanzipativer Politik verstanden werden, so fällt dieser Optimismus heute mehr als schwer. Einmal mehr hat sich die Geschichte als komplizierter erwiesen und andere Wege eingeschlagen. Keiner Arbeiterklassenfrau ist heute noch geholfen, wenn die Führungspositionen der Mittelklasse weiblicher werden oder Teile der akademischen Mittelklasse ihre Privilegien checken. Keinem abhängig Beschäftigten oder alten weißen Mann hilft es, wenn er sich, ohne näheres Ansehen seiner Person, von Jungradikalen als ewiger Rassist und Deutscher beschimpfen lassen muss. Und wohl jede(r) deutsche(r) Linke(r) hat (sofern er/sie älter ist als 35) bereits mehrfach Erfahrungen gemacht mit von identitätspolitisch Agierenden gesprengten linken Diskussions- und Organisationszusammenhängen. Aufs historisch und politisch Ganze gesehen haben sich diese Formen separatistischer Identitätspolitiken zuerst als Formen des Abschieds von traditionell linker Politik erwiesen und danach auch noch als karrierestrategisch eingesetzte Konformitätsstrategien einer akademischen Mittelschicht.

Einem theoretisch aufgeklärten historischen Blick sind also Identitätspolitiken (als Antidiskriminierungs- und Demokratisierungs-Kämpfe) etwas der bürgerlichen Gesellschaftsform strukturell Immanentes und verweisen auf die klassischen Aushandlungsprozesse und -probleme einer liberaldemokratischen Gesellschaftsform, die sich (als vermeintliche Krönung der menschlichen Geschichte) zwar harmonisch, d.h. harmoniefähig wähnt, aber gerade dies in der historischen Realität nie war, nicht ist und auch nie sein wird. Auch beim zeitgenössisch-modernen Liberalismus haben wir es noch immer mit der Ideologie einer hierarchisch verfassten Gesellschaftsform von Klassen und Schichten zu tun – ein Sachverhalt, über den die meisten schlicht hinweg denken. Historische Identitätspolitik ist, so betrachtet, zuallererst demokratische Politik, Politik um Sichtbarkeit, Teilhabe und Partizipation. Sie ist aber weder per se noch in erster Linie spezifisch ›links‹ – sofern man links hier nicht als bloß vagen Relativitätsbegriff nimmt, sondern als einen analytischen Begriff der politischen Sozial- und Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Als historisch spezifische politische Ideenströmung dagegen ist die ihrer alten universellen Einbettungen (Demokratismus, Sozialismus, Konservatismus) entwachsene, auf eine Politik der Differenz, auf positionalen Fundamentalismus und Abschottung setzende Identitätspolitik ein Produkt erst des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts, ein integraler Teil des neoliberalen Postmodernismus – und mit den alten Universalismen, auch dem sozialistischen Antikapitalismus, nur schwerlich zu verbinden. Das heißt natürlich nicht, dass die Linken nichts mit der Identitätspolitik zu tun hätten. Aus ihren Verfallsformen ist sie wesentlich mit entstanden. Die historische Linke der letzten beiden Jahrhunderte hat einen Gutteil ihrer politischen Energie und Identität gerade aus den Kämpfen um demokratische Sichtbarkeit, Teilhabe und Partizipation gezogen (und sich dabei ausgiebig auch identitätspolitischer Mittel bedient). Als sozialistische Linke (ob in ihrer klassisch sozialdemokratischen, in ihrer kommunistischen, linkssozialistischen oder anarchistischen Form) war sie aber eben immer auch mehr, weil sie aufgrund ihrer spezifischen Kapitalismus- und Liberalismuskritik der Ansicht war, dass es nicht nur genüge, sich im Sinne einer bloßen Chancengleichheit in bürgerlich-demokratischen Verhältnissen gleichsam repräsentativ gleichberechtigt einzurichten, sondern dass es aufgrund der strukturellen Klassenwidersprüche und Klasseninteressen einer bürgerlich-demokratisch organisierten, hierarchischen Gesellschaftsordnung notwendig sein werde, sich mithilfe des Klassenkampfes eine grundlegend neuartige Gesellschaftsform zu erstreiten, eine gemeinwirtschaftliche und radikaldemokratische ›Assoziation der freien Individuen‹, in der dann wirklich alle frei, gleich und solidarisch sein können (denn das Ende der Diskriminierung wäre eben nicht auch das Ende der Ausbeutung von Armen und Arbeiter*innen).

Eine Linke, die den gesellschaftspolitischen Kampf nicht nur gegen die autoritären Auswüchse des Kapitalismus, sondern auch gegen dessen liberalen Wesenskern weiterhin zu ihrer Hauptaufgabe machen wollte (und so auch ihre politische Identität definieren würde), hätte deswegen nicht auf Identitäten zu setzen, sondern auf Interessen. Das heißt nicht, dass sie sich der innergesellschaftlichen Differenzen und deren Identitäten und Identitätspolitiken nicht bewusst zu sein bräuchte, wohl aber, dass sie sich mit diesen nicht zu begnügen hätte. Eine solch sozialistische Linke hätte wenig Grund zu einer prinzipiellen Distanzierung von Identitätspolitiken. Sie hätte aber auch guten Grund – mehr Grund denn je! –, sich vor solcher Identitätspolitik zu hüten, nicht selbst identitätspolitisch zu agieren und die Kritik der identitätspolitischen Sektierereien und Fundamentalismen nicht den Rechten zu überlassen. Eine solche Linke hätte die komplizierte Dialektik von demokratischem und sozialistischem Kampf neu zu lernen – und der wehrhaften Demokratie des autoritären Liberalismus eine streitbare Demokratie der radikaldemokratischen Meinungs- und Diskussionskultur entgegenzusetzen, die mit den positionalen Fundamentalismen der Identitätspolitik nicht zu vereinbaren ist.

Postskriptum

Dieser Aufsatz nimmt Argumente und Passagen wieder auf, die ich ausführlich in Jünke 2022 behandelt habe. Er wurde im Herbst 2022, auf Anforderung und Drängen einer namhaften Zeitschrift der akademischen Linken geschrieben, die es jedoch umgehend ablehnte, ihn zu veröffentlichen. Auch der Versuch, den Beitrag bei insgesamt fünf weiteren Zeitschriften (der unterschiedlichsten linken Strömungen) zu publizieren, scheiterte – u.a. mit der freimütigen Erklärung: Auch wenn uns das Manuskript zur Identitätspolitik im Wesentlichen gefalle, könnte es gut sein, dass es viel Kritik hervorrufe und man eine Diskussion begleiten müsste. (...) Dies weiche leider zu sehr von dem umfangreichen Arbeitsprogramm ab, welches man sich für dieses Jahr auferlegt habe.

Zitierte Literatur

Baron, Udo: »Linke Identitätspolitik und offene Gesellschaft«, in: Politische Studien 498/2021, S.60-67
Berendsen, Eva u.a. (Hg.): Trigger-Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen (2019), dritte, mit einem neuen Nachwort versehene Auflage: Berlin 2021
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Diederichsen, Diedrich: Politische Korrekturen, Köln 1996
Eagleton, Terry: Die Illusionen der Postmoderne, Stuttgart/Weimar 1997
Erdheim, Mario: »Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität«, in: Mechthild Jansen/Ulrike Prokop: Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit, Frankfurt/M. 1993, S.163-182
Feddersen, Jan/Gessler, Philipp: Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale, Berlin 2021
Geras, Norman: Discourses of Extremity. Radical Ethics & Post-Marxist Extravagances, London 1990
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Haug, Wolfgang Fritz: Politisch richtig oder richtig politisch. Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus, Hamburg/Berlin 1998
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995
Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1996
Jameson, Fredric: Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns (1981), Reinbek bei Hamburg 1988
Jünke, Christoph: »Politische Identitäten. Zur Kritik der linken Identitätskritik« (2002), in ders.: Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert, Hamburg 2014, S.233-253
Jünke, Christoph: »Identität und/oder Politik. Ein Streifzug durch die neuere identitätspolitische Debatte nebst Anmerkungen zur Theorie und Geschichte eines überholten Konzeptes«, in Gerhard Hanloser (Hrsg.): Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen, Wien 2022, S.11-66
Meulenbelt, Anja: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus (1986), Reinbek bei Hamburg 1993
Priester, Karin: Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003
Reed Jr., Adolph L.: Class Notes. Posing As Politics and other thoughts on the American Scene, New York 2000
Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019
Riexinger, Bernd: Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, Hamburg 2018
Stegemann, Bernd: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Stuttgart 2021
Susemichel, Lea/Kastner, Jens: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken; Münster 2018
Therborn, Göran: Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt/M. 2000
Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt/M. 2021
Wood, Ellen Meiksins: The Retreat from Class. A New ›True‹ Socialism (1986), London 1998
Wood, Ellen Meiksins: Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus (1995), Köln 2010
Wood, Ellen Meiksins/Foster, John Bellamy (Hg.): In Defence of History. Marxism and the Postmodern Agenda, New York 1997 [einige dieser Beiträge erschienen auf Deutsch als Beilage »Bibliothek der 90er Jahre« zur Kölner Sozialistischen Zeitung (SoZ): Zur Verteidigung der Geschichte. Marxismus und die postmoderne Tagesordnung, Juni 1996)

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