von Herbert Ammon

Im Mindener Kreis pflegen Veteranen der deutschen Jugendbewegung die Erinnerung an ihre ›bündischen‹ Wurzeln, insbesondere an die weithin vergessene Rolle bündischer Gruppen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In der Schriftenreihe dieses Kreises ist ein Heft erschienen, das – vor dem Hintergrund reichhaltiger Literatur zur Weißen Rose und oft einseitiger Deutungen ihres Vermächtnisses – Beachtung verdient.

Der Autor Fritz Schmidt hat in sorgfältiger Archivarbeit erneut die Lebensstationen des jungen Hans Scholl in der historischen Szenerie des ›Dritten Reiches‹ verfolgt. Den Ansatz der Studie, zu der Jürgen Reulecke als Fachhistoriker ein Geleitwort beigesteuert hat, verdeutlicht der zweite Untertitel: Hans Scholl im Umfeld von dj.1.11 und sein verschlungener Weg in den Widerstand.

Die ehedem legendäre dj.1.11 gründete in einer von Eberhard Koebel (1907-1955) inszenierten Abspaltung von der Deutschen Freischar. Der, wie viele, Jugendbewegte romantisch-nationalistisch orientierte – und vom Zen-Buddhismus faszinierte – Koebel (tusk), Verfasser einer ›Heldenfibel‹, changierte in den Weimarer Krisenjahren und nach der ›Machtergreifung‹ zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus. 1934 geriet er in die Fänge des Nazi-Regimes und konnte, nach zwei Suizidversuchen schwer verletzt, über Schweden nach England emigrieren. Von dort unterhielt er Kontakte zu früheren Gefolgsleuten.

Seit 1935 verfolgte die Gestapo auf Anweisung von Reinhard Heydrich die ›bündischen Umtriebe‹, wobei auch Sittlichkeitsvergehen gemäß Paragraph 175 ins Spiel gebracht wurden. In den von tusk inspirierten Freundeskreisen, die innerhalb und am Rande der HJ ihr ›autonomes‹ Gruppenleben kultivierten, treffen wir auf heute nahezu unbekannte Namen. Einer von ihnen – ohne spezifischen biografischen Bezug zu Hans Scholl – war der jüdische, 1933 nach Prag emigrierte Architekturstudent Helmut (›Helle‹) Hirsch (geboren 1916). Von Koebel ermutigt, suchte er den Kontakt zu dem von Prag aus operierenden früheren Hitler-Anhänger Otto Strasser, seit 1930 als Chef der ›Schwarzen Front‹ – und als Bruder des beim Röhm-Massaker 1934 ermordeten Gregor Strasser – ein Intimfeind des ›Führers‹. Hirsch ließ sich zu dem Versuch überreden, die Nürnberger Parteitagstribüne in die Luft zu sprengen. Bereits bei seiner Ankunft in Stuttgart verhaftet, wurde der amerkanische Staatsbürger Helmut Hirsch vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und – trotz Intervention der amerikanischen Botschaft – am 4. Juni 1937 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil ermordet.

Zu Koebels d.1.11- Adepten zählte anfangs auch Max von Neubeck, Fähnlein- und Jungzugführer in der Ulmer Hitlerjugend, in die Hans Scholl, bis dahin Mitglied im CVJM, am 1. Mai 1933 eintrat. Eine für alle Scholl-Geschwister biografisch bedeutsamere Rolle spielte sodann der literarisch ambitionierte Ernst Reden, der in Ulm seinen Militärdienst ableistete und mit dem emigrierten Koebel in Kontakt stand. Im Sommer 1935 wurde Reden erstmals wegen seiner »zersetzenden«, auf Hochverrat (!) hindeutenden Aktivitäten »außerhalb der Staatsjugend« (zit. 21f.) von der Gestapo verhört. Ab 1936 wurde sein Briefverkehr polizeilich überwacht.

Im November und Dezember 1937 wurden die Ulmer Freunde um Hans Scholl sowie Ernst Reden verhaftet. In dem Prozess vor dem Sondergericht Stuttgart am 2. Juni 1938 zielte die Anklage – unter Bezug auf die nach dem Reichstagsbrand von Hindenburg verfügte Notverordnung ›zum Schutz von Volk und Staat‹ – auf die ›Fortsetzung der bündischen Jugend u.a.‹. Hans Scholl und andere Mitangeklagte kamen mit unter eine Amnestie fallende Strafen frei davon. Redens Strafe von drei Monaten Gefängnis blieb indes rechtsgültig. Er galt als vorbestraft, was den Ausschluss aus Universität und Studium nach sich zog. Vergehen gegen Paragraphen 175 standen sowohl bei Hans Scholl als auch bei Ernst Reden auf der Anklageschrift. Während es sich bei Scholl, der sich alsbald in allerlei Liebesabenteuer stürzte, um jugendtypische Ersatzhandlungen handelte, fällt die Orientierung des empfindsamen, über Jahre um Inge Scholl werbenden Ernst Reden – »ein Zweifler und Suchender, der nach Gott und sich selber suchte, voller Sorge um Heimat und Vaterland« (29) – nicht ganz eindeutig aus. Laut Schmidt muss die Reden zugeschriebene Homosexualität ungeklärt bleiben. Nachdrücklich verteidigt er Reden – er starb nach einer Verwundung im August 1942 in einem Lazarett in der Ukraine – gegen den Vorwurf, ein »führertreuer Nationalsozialist« gewesen zu sein. (23)

Zu Recht schreibt Schmidt im Hinblick auf die von zeittypischem Erkenntnisinteresse – und einem Mangel an historischer Empathie – geprägten Arbeiten von Robert M. Zoske und Sönke Zankel, dass sie »die Realitäten im sogenannten Dritten Reich nicht einschätzen können.« (69) Zankels Arbeiten sind geprägt von ahistorischer Oberlehrerhaftigkeit bezüglich der bei Hans Scholl und Alexander Schmorell angeblich allzu lange mangelnden demokratischen Gesinnung. Zoske geht es entgegen aller Evidenz durchgängig um den Nachweis von Homosexualität bei Hans Scholl (sowie in seiner Sophie-Scholl-Biographie um latente lesbische Neigungen bei der jüngeren Schwester). Zur weiteren Widerlegung der »Obsessionen« des Theologen und früheren Pastors hat Autor Schmidt nach Erscheinen von Zoskes Scholl-Biografie (Flamme sein!, 2019) einen Aufsatz angefügt. (86-89).

In vielerlei weiteren Details vermittelt die Publikation jüngeren Nachgeborenen ein schärferes Bild von der zeitlich immer weiter entrückten, historisch komplexen Realität. Das gilt zum einen für »zwischenmenschliche Beziehungen, [die] am 30. Januar 1933 nicht an der Garderobe abgegeben [wurden].« (ibid.) Es gilt zum anderen für Repräsentanten des Regimes, etwa für Juristen wie Dr. Hermann Cuhorst, der als Vorsitzender des Stuttgarter Sondergerichts am 2.Juni 1938 gegenüber Hans Scholl – nicht aber gegenüber Ernst Reden – als ›Papa Gnädig‹ in Erscheinung trat. In den Kriegsjahren fällte er im Rahmen des 1941 dekretierten ›Polen- und Judenerlasses‹ gnadenlos Todesurteile, wurde nichtsdestoweniger 1944 von seinem Posten am Sondergericht abgelöst und in die Wehrmacht überstellt.

Was für den Weg Hans Scholls in den offenen Widerstand im Sommer 1942 letztlich bestimmend war, lässt Fritz Schmidt offen. Ungeachtet seiner Betonung des jugendbewegten Hintergrunds weist er die Vorstellung, die Erfahrungen mit Gestapo, Inhaftierung und Sondergericht hätten Hans Scholl zum Regimegegner gemacht, als unzutreffend zurück. (66) Immerhin spricht aus Scholls Bekenntnis »Noch nie war ich so Patriot im eigentlichen Sinn des Wortes« – in einem Brief vom 21. Oktober 1938 an seine Schwester Inge (zit. 68) – auch keine kritiklose Regimetreue, eher das Gegenteil. Jugendbewegt-romantische Sensibilität und elitäres Selbstbewusstsein, Empörung angesichts der Nazi-Verbrechen – über Judenmorde in Lettland erfuhren die Scholls von Hermann Heisch, dem Schwager Richard Scheringers, bereits im Sommer 1941 (69) – das in innige Freundschaft mündende Zusammentreffen mit Alexander Schmorell, eine durch die Begegnung mit Carl Muth und dem Renouveau catholique vertiefte christliche Glaubenshaltung – dies alles wirkte bei Hans Scholl zusammen.

Hinsichtlich der Frage, was die Freunde Schmorell und Scholl zu dem Schritt von der Anti-Haltung zum aktiven Widerstand bewegte, zitiert Fritz Schmidt einen anderen ›Weiße Rose‹-Forscher: »Die Antwort wissen wir nicht. Alles Gesagte ist weitgehend Meinung.« (Zit. 76) Es folgen Zitate, die die das Kriegsgrauen als ein maßgebliches Motiv in den Blick rücken. Der Autor der schmalen Schrift konstatiert bei Scholl ein »Umdenken« bezüglich des Elitegedankens und ein »Verblassen des Patriotismus, auf den er 1938 und später noch abgehoben hatte – aber letztlich war er es dann doch, ein deutscher Patriot.« (77)

Auf den Leser mögen die vielen Namen und das Beziehungsgeflecht der einstigen d.j.1.11 – darunter die Brüder Markus und Konrad Wolf, Söhne des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf – zuweilen verwirrend wirken. Eine straffere Gliederung des Materials sowie ein Namensregister hätten der Lesbarkeit des Textes gutgetan. Nichtsdestoweniger ist zu wünschen, dass die vorliegende Schrift eine breitere Leserschaft, gerade auch bei Zeithistorikern, finden sollte. Fritz Schmidt widerlegt unfundierte, aus der politischen Gegenwart abgeleitete Thesen über die charismatische Persönlichkeit Hans Scholls und öffnet den Blick für die Quellen seines Widerstands gegen das Verbrechensregime.

Literaturhinweise

https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/471-die-geschichtliche-tragik-der-rweissen-rosel-und-die-politische-moral-der-nachgeborenen (in: Globkult 21.02.2010)
https://www.iablis.de/iablis/themen/2019-formen-des-politischen/rezensionen-2019/535-eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl in: Iablis 18. Jahrg. 2019
https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1932-eckard-holler-auf-der-suche-nach-der-blauen-blume-die-gro%C3%9Fen-umwege-des-legendaeren-jugendfuehrers-eberhard-koebel in: Globkult 30.08.2020
https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/ in: The European 28.02.2021
https://www.academia.edu/44362548/Von_den_Quellen_des_Widerstands_der_Wei%C3%9Fen_Rose in: academia.edu, 2021
Eckard Holler: Die Ulmer »Trabanten«. Hans Scholl zwischen Hitlerjugend uns dj.1.11, in: Puls – Dokumentationsschrift der Jugendbewegung 22 / November 1999.

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