von Gunter Weißgerber

Am 8. Oktober 1992 starb mit Willy Brandt ein wahrhaft großer Deutscher, Europäer und Sozialdemokrat. Diese Aufzählungsabfolge ist mir wichtig, verantwortungsvollen Politikern muss immer das Wohlergehen des gesamten Landes wichtiger sein, denn das Wohlergehen der eigenen Partei. Je näher beides zusammenkommt, desto besser ist es auch für die eigene Partei. Eingedenk des Wissens, vier Jahre sind die Parteien am Zuge, am Wahlabend ist es die Wahlbevölkerung – wie eine unauflösbare Schicksalsgemeinschaft halt so funktioniert.

Willy Brandt gehört seit meiner Kindheit zur Familie. Mein Elternhaus war sehr politisch in Widerspruch zu den Verhältnissen in der Zone/DDR. Als Kind bekam ich den standhaften Regierenden Frontstadt-Bürgermeister des freien Teils von Berlin in den Unterhaltungen der Älteren aber auch in den Nachrichten- und Diskussionssendungen der ARD und des Deutschlandfunks mit. Der Empfang war zwar sehr oft unter aller Kanone, anfangs waren die Antennen noch unter dem Dach, um nicht aufzufallen (Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre holte die FDJ die Antennen runter), doch konnte dies die Festigung eines sehr positiven Willy-Brandt-Bildes in meiner Umgebung und bei mir nicht verhindern. Im Gegenteil. Die tägliche Unfreiheit stärkte den Wunsch nach Freiheit und damit auch den Wunsch nach Willy Brandt und seiner SPD.

Am 13. August 1961 wollten meine Eltern mit meinem Bruder und mir über Berlin flüchten. Der Mauerbau kam ihnen an dem schändlichen Tag zuvor. Willy Brandts Auftreten infolge dieser dramatischen Ereignisse, seine klaren Ansagen gegen Moskaus Handlanger in Pankow, später das Passierscheinabkommen, die Große Koalition mit dem Außenminister Brandt, der Besuch des Bundeskanzlers Brandt in Erfurt, dessen Kniefall in Warschau, seine neue Ostpolitik, »Mehr Demokratie wagen!«, und dann ab 1989 der Willy Brandt, der wie der junge Willy Brandt, nur um Jahrzehnte reifer, mit dem Blick eines sehr weisen Mannes die richtigen Dinge zur richtigen Zeit mit seinem tollen Satz »Wir sind jetzt in einer Situation, wo zusammenwächst, was zusammengehört« auf der richtigen Seite sagte und tat – der Mann war wunderbar! Mit ihm statt des ollen Lafontaine wären unsere Klatschen in den Wahlen des Jahres 1990 nicht so herb ausgefallen.

Die persönliche Krönung für mich dabei war der Umstand, dass ich den Mann, den schon mein Vater bewunderte, als ostdeutscher Sozialdemokrat nicht nur wie ein Wunder nach 1989 kennen lernen durfte. Nein! Ich stand mit ihm sogar gemeinsam auf einer Wahlkampftribüne in Görlitz am 24. November 1990, an meinem 35. Geburtstag. Christian Müller MdB a.D., Willy Brandt und ich sprachen zu den vielen Menschen. So was war kurz vorher nicht zu denken gewesen. Das Leben hat durchaus auch wunderbare Sachen in petto.

Willy Brandt fiel es dann in der Bundestagsfraktion nach dem 2.12. 1990 sichtlich schwer, mit dem Versagen Lafontaines nicht noch deutlicher als es ohnehin durchgesickert war, abzurechnen. Mir, auch vielen anderen gegenüber, machte er jedenfalls keinen Hehl aus seiner großen Enttäuschung. Die Generation Brandt, Schmidt, Renger war 1989/90 auf Augenhöhe mit den Ereignissen. Die führenden Enkel verharrten im Sandkasten der parlamentarischen ›Du-bist-doof‹-Spiele.

Meine damalige Fassungslosigkeit war grenzenlos. Die SPD war 1990 nicht in der Lage, die Ernte ihrer eigenen Saat Ostpolitik und Doppelte Nulllösung selbst einzufahren. Was nicht an Willy Brandt lag.

Manchmal stelle auch ich mir die Frage, wie würde Willy Brandt heute entscheiden oder Entscheidungen reifen lassen? Hätte er, wie Frau Merkel es 2015 tat, ohne den Bundestag die Dublin-Regelungen eigenmächtig außer Kraft gesetzt? Vorstellen kann ich mir das nicht. Wer wie er Leib und Leben für die Demokratie und ihre Institutionen eingesetzt hatte, der ignoriert diese nicht einfach mal so. Der Bundestag wurde schon oft zu Sondersitzungen zusammengerufen. Dies angesichts der möglichen Folgen für das Grundvertrauen der eigenen Bevölkerung in die Institutionen der Demokratie nicht sofort und unverzüglich zu beantragen – Willy Brandt wäre das nicht eingefallen.

Hätte sich Willy Brandt auch um die drängendsten Fragen des letzten Bundestagwahlkampfes herum gemogelt? Diese Vorstellung gelingt mir nicht.

Würde er zuerst in Moskau anrufen, wenn es um Probleme der souveränen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion geht? Obwohl Russland nicht mehr und nicht weniger ebenfalls nur ein Nachfolgestaat der Sowjetunion ist? Ich bin überzeugt, er würde zuerst in den betreffenden Hauptstädten anrufen, ehe er selbstverständlich mit allen Nachbar-Hauptstädten, auch mit Moskau, konferieren würde. So wie sich das völkerrechtlich gehört. Willy Brandt achtete das Völkerrecht.

Stark in Erinnerung ist mir noch die Gedenkveranstaltung zu Ehren von Julius Lebers 100. Geburtstag am 16. November 1991 in der Berliner Gethsemanekirche. Richtig! In der Ostberliner Kirche der Friedlichen Revolution 1989 (Ob die heutige SPD auf so eine unsozialistische Idee vor dem Hintergrund ihrer Linksaußenliebesbeziehung käme?) ehrte die SPD Julius Leber und präsentierte sich mit Willy Brandt, Helmut Schmidt sowie dem Parteivorsitzendem Björn Engholm beeindruckend.

In den Stunden vor ihren Reden besprachen Brandt und Schmidt ihren gegenseitigen Umgang nach dem Ableben eines von beiden. Sie versprachen sich, das Erbe und Andenken des jeweilig anderen wie ihr eigenes zu achten. Schmidt hielt sich nach dem 8. Oktober 1992 daran. Brandt hätte sich ebenso daran gehalten. Bei allen Unterschieden, beide wussten, zusammen waren sie einfach besser. Mich hatte das beeindruckt.

Am 9. Oktober 1992 schrieb ich an den Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube:

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erlitt am 8. Oktober 1992 einen überaus schmerzlichen Verlust. Willy Brandt, die Idenditätsfigur schlechthin für die SPD und die Mehrheit der Deutschen, starb nach schwerer Krankheit in seinem Haus in Unkel.
Mit uns Deutschen trauern viele Menschen aller Nationen um einen zutiefst humanistischen Streiter für den Konsens zwischen den VöIkern. Wir Deutschen verdanken Willy Brandt vor allem die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen sowie die Ostpolitik, welche einen erheblichen Anteil an der späteren staatlichen Einheit unseres Landes hat.
Die Nationen der Erde werden zudem den glaubhaften Ausgleichspolitiker zwischen Nord und Süd vermissen.
In Anbetracht der historischen Größe Willy Brandts bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Überlegungen in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Leipzig hinsichtlich einer möglichen Namensgebung eines Platzes oder einer Straße zu tragen. …

Seit dem 18. Dezember 1993, dem 80. Geburtstag Willy Brandts, gibt es in Leipzig einen Willy-Brandt-Platz.

Für die heutige SPD habe ich noch einen heißen Tipp von Willy Brandt. Bezüglich hinderlicher ideologischer Vorräte sagte er 1955:

Ich möchte nicht von Ballast abwerfen reden. Aber der Kapitän entledigt sich toter Ladung, wenn er dadurch lebendiges Gut erhalten kann. … Die Zeit der Postkutsche ist vergangen. Das Gesicht der Partei muss vor dem Gericht der Epoche bestehen können…Die SPD müsse sich von einer Partei der Nein-Sager zu einer Partei entwickeln, die ihre Forderungen positiv vertrete. (Peter Koch, Willy Brandt. Eine politische Biographie, Bergisch-Gladbach 1989, Seite 232)

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