von Peter Brandt

Am 18. Januar 1918 versammelten sich im St. Petersburger Taurischen Palais über siebenhundert frei gewählte Abgeordnete Russlands zur Eröffnung der Konstituierenden Versammlung. Bereits am nächsten Tag wurden sie von Roten Garden ausgesperrt; die Konstituante war aufgelöst.

Die unter der neuen, bolschewistischen Regierung durchgeführte allgemeine und gleiche Wahl, die erste ihrer Art und die letzte für mehr als acht Jahrzehnte, hatte zwei wesentliche Ergebnisse gezeitigt: erstens eine überwältigende Mehrheit für Parteien, die sich als einem zumindest langfristigen Ziel zum Sozialismus bekannten, wobei der Löwenanteil auf den gemäßigten Flügel der »Sozialrevolutionäre«, eine besonders in der Agrarbevölkerung verankerte Gruppierung, entfiel; zweitens die Beschränkung der Bolschewiki auf ein knappes Viertel der Stimmen, zusammen mit den verbündeten Linken Sozialrevolutionären auf knapp ein Drittel – nicht unerheblich und unvergleichlich mehr als einige Monate früher erreicht worden wäre, aber doch eine eindeutige Minderheitsposition.

Die Delegierten der Konstituierenden Versammlung beugten sich bei ihrem Zusammentritt nicht den bolschewistischen Machthabern, sämtliche gesetzlichen Maßregeln der Regierung der »Volkskommissare« pauschal abzusegnen und dann abzudanken. Doch anders als erhofft erhob sich das Volk nicht zum Schutz seiner Vertreter. Die Proteste gegen die Auflösung der Konstituante blieben recht begrenzt.

Und dennoch war diese Episode der erste tiefe Einschnitt jener Etappe der Russischen Revolution, die, nach dem nach altem russischen Kalender am 25. Oktober (= 7. November) 1917 erfolgten Sturz der Provisorischen Regierung, als Oktoberrevolution bezeichnet wird.

Für sich allein genommen mag man den Umsturz in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg als (ziemlich friedlichen) Staatsstreich bezeichnen. Betrachtet man den Vorgang als Glied in einer ununterbrochenen Kette sozialer und politischer Revolutionsereignisse seit dem spontanen Februar- bzw. Märzaufstand gegen den Zarismus, dann wird offenbar, wie irreführend die Putschthese ist. Nicht viel besser steht es mit der einseitigen Hervorhebung staatlicher und privater Zuwendungen aus dem kaiserlichen Deutschland an die bolschewistische Partei (die es tatsächlich gab) als einem angeblich wesentlichen Faktor.

Die tragische Entartung der Russischen Revolution – bis hin zur Staatssklaverei und zum Menschen vertilgenden Staatsterrorismus unter der persönlichen Diktatur Stalins – hat Ursachen, die tief in den Strukturen und der Entwicklungsdynamik der russischen Gesellschaft während der Jahrzehnte um 1900 angesiedelt sind: Die Bemühungen der zaristischen Selbstherrschaft, im eigenen Interesse eine wirtschaftliche und, nach der ersten Revolution 1905/06, auch politische Modernisierung des rückständigen Landes durchzuführen und dabei unter Kontrolle zu behalten, war bereits gescheitert, als das Riesenreich im Sommer 1914 im Krieg, der dann zum Ersten Weltkrieg wurde, gegen Deutschland und Österreich-Ungarn antrat.

Es erwies sich bald, dass das alte Regime weder militärisch standhalten noch die Versorgung gewährleisten konnte. Trotz anfänglich vorherrschender Kriegsbejahung seitens der meisten politischen Parteien verbreiterte sich eher noch der tiefe Graben zwischen dem Zarismus und der bürgerlich-liberalen ›Gesellschaft‹ in den Städten. Daneben artikulierte sich mit den Forderungen zur Verbesserung ihrer Lebenslage eine zahlenmäßig kleine, aber teilweise hoch konzentrierte industrielle Arbeiterklasse, die in einem doppelten Gegensatz zur repressiven Zarenherrschaft und zu den Kapitaleignern stand. Ferner ist der Unabhängigkeitsdrang der unterdrückten Randvölker zu nennen. Vor allem lastete indessen die seit Jahrzehnten ungelöste Agrarfrage auf Russland; die große Mehrheit der Erwerbsbevölkerung bestand aus pachtabhängigen und kleinen Bauern.

Die Februarrevolution – und nicht erst die Oktoberrevolution – war zugleich die Initialzündung für soziale Protestbewegungen und Friedensforderungen, vor allem seitens der Arbeiterschaft, in allen kriegführenden, sogar in etlichen neutralen Ländern, und für einen jahrelangen Aufschwung der Arbeiterbewegung aller Richtungen im Ringen um Demokratisierung und sozialen Fortschritt. In Russland selbst wuchsen die sozialistischen Parteien binnen kurzem zu großen, lebendigen, in sich differenzierten Formationen, die sich bei allen Unterschieden übereinstimmend als Kräfte der »revolutionären Demokratie« verstanden. Deren Vertretungs- und Kampforgane waren die Sowjets (= Räte) der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich zum bestehenden, jetzt von einer liberalen, dann liberal-sozialistischen Regierung geleiteten Staatsapparat in der Position einer – halb kooperierenden, halb konkurrierenden – Doppelherrschaft befanden.

Gegenüber den Menschewiki und vor allem den Sozialrevolutionären befanden sich die Bolschewiki zunächst deutlich in der Minorität. Anders als die meisten Aktivisten der Partei propagierte W. I. Lenin, als er im April 1917 aus dem Exil zurückkehrte, einen Kurs strikter Abgrenzung sowie »Entlarvung« der anderen sozialistischen Parteien und setzte diesen rigoros in der bolschewistischen Führung durch. Dabei traf er sich konzeptionell mit L. D. Trotzki, dem späteren Organisator des Oktoberumsturzes und des roten Sieges im Bürgerkrieg, der erst jetzt zu den Bolschewiki stieß. Entsprechend deren weitgehend übereinstimmenden Einschätzung konnten die »Aufgaben der bürgerlichen Revolution«, vor allem die Agrarumwälzung, in Russland nicht gelöst werden, ohne dass eine »Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der armen Bauernschaft« sogleich auch schon zu sozialistischen Maßnahmen überginge. Dass man sich diese Diktatur anders vorstellte als sie dann realisiert wurde, ist offenkundig. Und ohne die annähernde Gewissheit der beiden und anderer bolschewistischer Führer, über Russland die Weltrevolution auslösen zu können (und damit auch das Weltkriegsgemetzel zu beenden), hätte die Politik der Partei höchstwahrscheinlich anders ausgesehen.

Lenins Konfrontationsstrategie konnte nur bestimmend werden, weil weder die bürgerlichen Liberalen gewillt noch die gemäßigten Sozialisten imstande waren, die Hauptforderungen der sich angesichts dessen stetig radikalisierenden Volksmassen zu erfüllen: v.a. den schnellen Friedensschluss, notfalls als Separatfrieden, und die Zuteilung des Landes an diejenigen, die es bebauten. Dazu die »Arbeiterkontrolle über die Produktion« und eben auch die von der Provisorischen Regierung verzögerte Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung, einer Konstituante. Der Aufstieg der Bolschewiki und ihrer engeren Verbündeten zur Mehrheitsrichtung in den Sowjets und dann zur Machteroberung im Staat erfolgte bei ihrer wachsenden Anhängerschaft in der Erwartung, die Repräsentanten der kommenden Ordnung würden mit ihrer Therapie die Errungenschaften des Februar sichern statt beseitigen, die – das war keine Hirngespinst – von der militärischen Konterrevolution bedroht seien. Die Bolschewiki ihrerseits zögerten nicht, sich die Forderungen der Arbeiter und Soldaten, aber auch der Bauern, die das Land ohnehin von sich aus in Besitz nahmen, ungeachtet früherer Vorbehalte, zu Eigen zu machen. Die Unterstützung aus der Bevölkerung für die Liberalen und, mehr noch, für die gemäßigten Sozialisten verfiel zusehends und spätestens Anfang November lag die Macht tatsächlich auf der Straße. Die Bolschewiki mussten sie nur noch aufheben.

Zweifellos gab es ein Spannungsverhältnis zwischen dem rätedemokratischen Prinzip der Sowjets und dem parlamentarisch-demokratischen Prinzip der Konstituante. Denkbar war eine Verbindung nur bei gleicher politischer Ausrichtung beider Institutionen, sprich: bei einer Koalisierungsregierung aller sozialistischen Parteien, wie sie an der Basis auch der bolschewistischen Partei – und sogar bis in ihre Führungsinstanzen hinein – vielfach verlangt wurde. Die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in der Konstituante und im zweiten (November 1917) wie dritten (Januar 1918) ›Allrussischen Sowjetkongress‹ machten eine solche Koalition nicht nur rechnerisch möglich, sondern legten sie in gewisser Weise auch nahe, als sich die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre dazu durchrangen, die zentralen Entscheidungen der bolschewistischen Regierung der Volksbeauftragten vom November 1917, namentlich bezüglich des Waffenstillstands und der Landaufteilung, zu akzeptieren.

Die bewusste, durch die Auflösung der Konstituierenden Versammlung nachdrücklich demonstrierte Entscheidung Lenins und seiner engeren Mitstreiter, den Weg der Verständigung innerhalb des Lagers der revolutionären Demokratie nicht zu beschreiten, trug wesentlich zur Eskalation des unvermeidlichen Streits der Klassen und Ideologien bei, bis hin zu dem auf beiden Seiten hart und grausam geführten, offenen Bürgerkrieg (mit 9-10 Millionen Todesopfern), zu politischer Unterdrückung und Verfolgung, Erstickung des Sowjetpluralismus und jeder eigenständigen Äußerungsmöglichkeit der Werktätigen, letztlich auch der innerbolschewistischen Diskussion. Die Etablierung der Parteidiktatur als »Diktatur einer Handvoll Politiker« (Rosa Luxemburg) und des »Roten Terrors«, die ihre Rechtfertigungen immer wieder aus den tatsächlichen und vermeintlichen Zwängen des Bürgerkriegs zogen, entfernten den Sowjetkommunismus schon in seinem Frühstadium objektiv weit von den traditionellen Zielen und Werten der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas, nicht nur in ihrer reformistischen Variante.

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