von Gerd Held

Um aus den Krisen der Gegenwart herauszufinden, wird eine Welt eigenverantwortlicher Länder gebraucht, die aus territorial begrenzten Nationalstaaten bestehen muss. Aber dies Grundelement ist keine sichere Errungenschaft, auch nicht in der ›Europäischen Union‹.

Im vorhergehenden Teil dieser Artikelserie wurde dargestellt, dass es im Nahen und Mittleren Osten mancherorts Neigungen zu imperialer Großraum-Politik gibt. Und es wurde dargestellt, dass es demgegenüber in Europa eine merkwürdige Hilflosigkeit und sogar Gedankennähe gibt – wenn in den Grenzziehungen nach der Niederlage des Osmanischen Reiches eine europäische ›Urschuld‹ für die heutigen Krisen in der Region behauptet wird. Man ist auf eine geradezu bizarre Weise unfähig, die Prinzipien der eigenen Staatlichkeit zu verteidigen. Das liegt daran, dass sich die tonangebenden Milieus in vielen Ländern auf einem geschichtlichen Weg wähnen, der Europa vom Nationalstaat wegführt.

Man kann den Weg, der in Europa zum Nationalstaat hinführte, gar nicht mehr korrekt in seinem räumlichen Wandel darstellen und den Fortschritt dieses Wandels verstehen. Eigentlich ging es ja um den ›Rückbau‹ der imperialen Großreiche. Diesen Rückbau zu einer territorialen Kompaktheit, ohne die eine flächendeckende Herrschaft von Recht und Demokratie gar nicht möglich gewesen wäre, haben viele Länder im 19. und 20. Jahrhundert durchmachen müssen. Sie haben ihn auch mental als einen Verlust von ›Größe‹ ertragen müssen. Denn dieser Verlust hatte zur Konsequenz, dass die Ansprüche der Weltgestaltung zurückgefahren werden mussten.

Aber das ist in unserer Gegenwart schon nicht mehr Stand der Dinge. Es gibt, unter neuen Vorzeichen, eine neue Konjunktur der grenzüberschreitenden Weltgestaltung, der übernationalen Programme und Institutionen. Und Europa ist nicht nur hilflos gegenüber regressiven Tendenzen im Nahen Osten, sondern es ist selber Träger solcher Tendenzen. Das schlägt sich insbesondere in der Entwicklung der Europäischen Union nieder. Sie entwickelt sich immer mehr von einer Allianz souveräner Nationalstaaten zu einem übernationalen Gebilde und Quasi-Staat. Die EU zeigt exemplarisch, wie die gute Verbindung von Nation und zurückhaltender Staatsräson ausgehebelt werden kann.

Wie die guten Nationalgrenzen auf einmal zu bösen Nationalgrenzen wurden

Es gibt eine bemerkenswerte Umwertung, die das Nationale im 20. Jahrhundert erfahren hat. Die Umwertung besteht darin, dass die territoriale Begrenztheit des Nationalstaats nun als Makel und nicht mehr als Vorzug angesehen wird. Sie gilt als Enge und Borniertheit und nicht mehr als dauerhafte räumliche Sicherung gegen Willkür und imperiale Neigungen. So hat eine Deutung die Oberhand gewonnen, die in der Begrenztheit und Kompaktheit des Nationalstaates nur noch den Nährboden für einen ›Nationalismus‹ sieht, der auf die Herabsetzung anderer Menschen und Länder gerichtet war.

Und – es ist kaum zu glauben – auf einmal erschienen übernationale Staatsgebilde als positiver Nährboden für Toleranz und soziales Miteinander. Großräumige Institutionen galten auf einmal im Vergleich zu den ›engherzigen‹ Nationalstaaten als Fortschritt. Man war bereit, ihnen die Zuständigkeit für alle möglichen, auch existenziellen Aufgaben anzuvertrauen. Die Erkenntnis, dass solche Großräumigkeit schwer demokratisch zu kontrollieren war, und zur Ausbreitung von Rücksichtslosigkeit und Willkür führen konnten, war vergessen. Das ganze Grundmotiv, das in früheren Jahrhunderten Schritt für Schritt zum Niedergang der Imperien geführt und dies zur Signatur der Moderne gemacht hatte, war verschwunden. Oder besser gesagt: Es wurde überlagert und ist heute weitgehend verschüttet.

Über das Wörtchen ›Herausforderungen‹

Das Über-Nationale tritt heute im positiven Gewand ›guter Ziele‹ auf – moralisch aufgehübschten als humanitäre und ökologische Weltgestaltung. Diese Ziele sind grenzüberschreitend im Doppelsinn von ›Offenheit‹ und ›Intervention‹. Man beschäftigt sich nicht mehr mit dem Aufwand zur Verwirklichung der Ziele, und interessiert sich deshalb auch nicht für die in einem bestimmten Land verfügbaren Aktiva – die Wertschöpfung seiner Betriebe und die Tragfähigkeit seiner Infrastrukturen. Stattdessen spricht man einfach von ›Herausforderungen‹ und kann dann ohne weiteres zu ›globalen Herausforderungen‹ hochschalten. Das Wörtchen ›Heraus‹ und das Wörtchen ›Forderungen‹ erledigen alles wie von selbst. Die Grenzen des Nationalstaates erscheinen dann nur noch als etwas Hinderliches und nicht mehr als Grundbedingung für eine redliche Bestimmung des Verhältnisses von Mitteln und Zielen. In den vergangenen Jahrzehnten konnte sich so Schritt für Schritt eine neue Neigung zur Großraum-Politik in der westlichen Welt festsetzen. Eines der sichtbarsten Resultate ist die Europäische Union mit ihrer wuchernden Kompetenz-Aneignung. Im Namen der ›guten Ziele‹ wurde das Ressentiment gegen alles Nationale zur gängigen Münze in einer – in Wahrheit sehr exklusiven – ›europäischen Öffentlichkeit‹. Die positive Kraft der institutionellen Dichte und der demokratischen Kompaktheit, mit denen der moderne Nationalstaat die imperialen Großreiche einst obsolet gemacht hatte, wurden so in ihrem Kern getroffen.

Der nationale Staat als Territorialstaat

Wer diesem Ressentiment gegen den Nationalstaat misstraut und ihm nicht folgen will, muss also die Vernunft-Grundlage des neuzeitlichen Staates rehabilitieren. Die Bedeutung des Territoriums für ein neuzeitliches Staatswesen muss besser verstanden werden. Der neuzeitliche Staat kann und muss nicht das ganze Leben organisieren, aber er muss in einem ganz neuen Umfang tragfähig sein. Er muss technische und soziale Infrastrukturen tragen, die das Land befähigen, Hunger, Unwissenheit, Krankheiten oder Umweltkatastrophen in Schach zu halten. Er muss die Voraussetzungen schaffen, dass Arbeit und Kapital produktiv sein können. Und natürlich: Er muss eine Polizei- und Militärmacht unterhalten, um die Gewalt einzuhegen und die Grenzen zu schützen. Für alle diese ›tragenden‹ Aufgaben, braucht der Staat eigene Bestände. Er muss ›stehender Staat‹ sein. Und er muss im ganzen Land flächendeckend präsent sein. Die Mittel dazu muss der Staat immer wieder neu aus der Wertschöpfung des Landes finanzieren können, ohne diese Wertschöpfung zu erschöpfen. Das alles führt dazu, dass die Politik ihre Entscheidungen befristet und korrigierbar treffen muss. Und es führt räumlich dazu, dass ein modernes Land einerseits eine gewisse Ausdehnung haben muss, aber sich auch nicht überdehnen darf, sondern territorial begrenzt sein muss.

Die territoriale Größe und Begrenzung des Staates hat also mit der Sachdimension der Politik zu tun. Sie ist nicht allein vom Wissen und Willen der Menschen abhängig. Sie muss Bedingungen folgen, die die Menschen sich nicht aussuchen können. Die Souveränität eines modernen Staates ist daher immer ein paradoxes Gebäude: Selbstbehauptung geht nur zusammen mit Selbstanpassung. Deshalb sind territorial begrenzte Nationalstaaten ein Gebot der Vernunft.

Über das Nationale im Nationalstaat

Der Nationalstaat wird hier territorial definiert und damit ein sachlicher Rahmen konstituiert, in dem das politische Handeln bilanzpflichtig und verantwortlich ist. Das Gelingen eines Staates wird nicht an eine bestimmte ethnische (›völkische‹) Trägerschaft gebunden, auch nicht an die Trägerschaft einer bestimmten sozialen Klasse (›Arbeiter- und Bauernstaat‹). Solche identitären Definitionen wollen etwas garantieren, was der Staat und die Staatsbürger erst noch erbringen müssen und immer wieder neu erbringen müssen. Der moderne Staat muss sich unter veränderten Bedingungen immer wieder selbst behaupten. Seine Souveränität ist eine Souveränität auf Bewährung. So ist das Nationale im modernen Nationalstaat zugleich konservativ und freiheitlich – und in einem weiten Sinn bürgerlich.

Aber das Nationale darf auch nicht in eine beliebige Allgemeinheit ›der Menschen‹ aufgelöst werden. Der Staat kann nur verantwortlich sein, wenn seine Staatsbürgerschaft ein bestimmter, begrenzter Personenkreis ist, zu dem es keinen Zugang nach Belieben gibt. Die Verfassung eines Landes ist auch nicht nur eine Liste individueller Grundrechte, sondern die Verfassung eines Gemeinwesens – und als solche der Handlungsfähigkeit dieses Gemeinwesens verpflichtet, sonst wäre Politik eine bloße ›Bürgerbegleitung‹. Sie würde in alle Richtungen wuchern, die gemeinsamen Güter und Bestände des Landes vernachlässigen, und am Ende den Staat auflösen. Wir hätten nur noch eine Politik ohne Staat und eine Entstaatlichung der Verfassung.

Die postnationale Auflösung des Staates in ›Öffentlichkeit‹

Es ist in der Politik unserer Gegenwart üblich geworden, bei sachlich umstrittenen Entscheidungen den Satz Wir haben unsere Politik schlecht kommuniziert in die Mikrophone zu sprechen. Damit bekundet der Sprechende, dass er sich nicht näher auf das sachlich Kritikwürdige einer Entscheidung einlassen will, sondern hier ein Weiter-So praktizieren will. Aber er will die Dinge besser darstellen. Er will sie in den Rahmen einer besseren Erzählung stellen. In unseren postnationalen Zeiten gibt es eine immens gewachsene Sphäre, in der in diesem Sinne Politik nicht gemacht, sondern ›kommuniziert‹ wird. In dieser sachfernen Sphäre des Politischen Handelns blühen die ›Narrative‹. Hier fällt es leicht, mit einer gewissen Willkür, genannt ›erzählerische Freiheit‹, ein rosiges oder ein böses Bild der Dinge zu malen. Es ist ein Bild, in dem die hier geschilderte tägliche Tragaufgabe, die ein Staatswesen erfüllen muss, gar nicht vorkommt. Es ist im Grunde eine Politik ohne Staat, und sie kennt keine territoriale Begrenzung. Sie entzieht sich ständig der Aufgabe, die globalen Ziele ins Verhältnis zu den begrenzten Mittel des eigenen Landes zu setzen. Sie entzieht sich jeder Bilanz, die ja eine nationale Bilanz sein müsste. Für den diffusen Raum, in den sich die Politik hier auflöst, gibt es einen Ausdruck, der eigentlich sehr treffend ist: ›Öffentlichkeit‹.

Ein neuer Typ von Krisen

Natürlich kann diese Flucht ins Offene nicht unendlich weitergehen. So ist es kein Zufall, dass es in Deutschland an zwei Stellen brennt, an denen der Verzicht auf die Grenzen eines Nationalstaates für unhaltbare Zustände gesorgt hat: Zum einen ist es die Massenmigration, die direkt mit der Öffnung der Territorialgrenzen verbunden ist. Zum anderen ist es die Überschuldung des Staates, die in dreister Verletzung der Grenzen, die von der Verfassung für die Aufstellung des Bundeshaushalts vorgegeben sind, durchgesetzt wurde. Es wäre verfrüht, angesichts dieser Krisen nun schon auf eine staatspolitische Wende in Deutschland zu hoffen. Aber immerhin: Wir haben schon einen neuen Typ von Krisen. Die Macht der großen Erzählungen hat ihren Zenit überschritten.

Es geht um Stabilisierung

Damit kommen wir zurück zum Beginn dieser Artikelserie. Sie befasste sich mit einer Situation im Nahen und Mittleren Osten, in der in vielen Ländern wichtige Errungenschaften in Gefahr sind und eine Stabilisierung über eine große Lösung der ›Palästina-Frage‹ nicht zu erwarten ist. Deshalb muss das Interesse sich eher auf eine Stabilisierung der bestehenden Staatenwelt richten. Und zwar sowohl durch die Verteidigung des Staates Israel, als auch durch Respekt und Anerkennung für die islamischen Staaten der Region. Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Keineswegs. Die deutsche und europäische Politik (und noch mehr die mediale Öffentlichkeit) waren eher damit beschäftigt, die Konflikte in Israel und die Kritik an der Regierung Netanyahu zu vertiefen. Und ebenso waren sie damit beschäftigt, alle möglichen Anklagen gegen islamische Staaten zu vertiefen und bereitwillig jedwede Verdächtigungen gegen bestehende Regierungen zu übernehmen. Und sind die deutsche und europäische Politik überhaupt glaubwürdige Verfechter des Nationalstaats, wenn es um Krisenlösungen geht? Nein, sie neigen nach wie vor eher über-nationalen Institutionen und Normen zu. Auf internationaler Bühne ist auch längst aufgefallen, dass die deutsche ›Weltpolitik‹ einerseits besonders gerne überall den mahnenden Zeigefinger hebt, sich aber nirgendwo die Hände schmutzig machen will. Und dass sie auch nur recht teure Produkte und Handelsabkommen anzubieten hat.

Umso wichtiger ist es, geduldig die Möglichkeiten und Kosten einer Kurskorrektur redlich darzustellen und zu erörtern.

(2. Teil) (1. Teil)

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