von Herbert Ammon

I.

Dass Russland, in den 1990er Jahren im Chaos versunken, unter Wladimir Putin wieder in seine Rolle als Großmacht, genauer: als mit allerlei dirty tricks operierender global player zurückgekehrt ist, steht außer Zweifel. Als erstes kommen dabei – außer dem vergessenen Tschetschenienkrieg – der – vom damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili ausgelöste – Krieg gegen Georgien 2008, der seit vier Jahren andauernde Krieg in der östlichen Ukraine sowie die Annexion der Krim (2014) in den Sinn.

Auf den genannten Schauplätzen erscheint Putin als Aggressor und Verletzer des Völkerrechts. Was indes – vor dem Hintergrund des jüngsten westlichen Raketenschlags gegen Assads mutmaßliche Chemiewaffenlager (oder Giftgasproduktionsstätten) – die Lage in Syrien betrifft, so verdanken die dortigen Christen ihr Überleben niemand anderem als den Russen als Machtstütze des ›säkularen‹ Assad-Regimes – ein selten erwähnter Aspekt des betrüblichen Geschehens in Nahost.

In der Publizistik weniger wahrgenommen wird – Ausdruck der wiedergewonnenen Machtposition Russlands – die forcierte Modernisierung seiner Streitkräfte. Wer meint, all den genannten Fakten müsse allein aus realpolitischen Gründen Rechnung getragen werden, mehr noch, für die Zukunft Europas sei ein verträgliches Einvernehmen mit der eurasischen Großmacht unverzichtbar, stellt sich außerhalb des herrschenden Wertekonsensus. Er wird dem Lager der ›Putin-Versteher‹ zugerechnet. Unter derlei Verdacht geraten, ist man dann doch erleichtert, wenn Merkels neuer Außenminister Heiko Maas, eben noch mit forschen Worte gegen Putin auf die Bühne der Außenpolitik getreten, plötzlich erkennt, dass Frieden in Syrien – nicht auch anderswo? - nicht ohne Russland zu erlangen sei.

Die moralische Weltsicht vereinfacht die Komplexität der Dinge und verhüllt die weniger moralischen Überlegungen und Eigeninteressen ihrer Protagonisten. Während man allerorts Putins Russland - wie zu Zeiten des Kalten Krieges die Sowjetunion – wieder als Feind wahrnimmt, steht jetzt womöglich der für 2018/19 projektierte Bau der zweiten durch die Ostsee nach Deutschland führenden Gaspipeline in Frage (siehe FAZ v. der für 15.04.2018 http://www.faz.net/aktuell/politik/merkels-sinneswandel-im-fall-der-gasleitung-nord-stream-2-15540994.html). Moral ist nicht zufällig liiert mit Geopolitik. »Denn der Bau von Nord Stream 2 würde Deutschland zum Energiezentrum Europas machen und damit die politischen Einflussmöglichkeiten Deutschlands in Europa enorm stärken«, heißt es in den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/thema/nord-stream-2/)

II.

Im folgenden geht es nicht um ein Werturteil über Putin und dessen Politik, sondern – vordergründig betrachtet – um ein ›neutrales‹ Thema. Es geht um die Frage nach der Wirksamkeit und den ökonomischen Folgen der anno 2014 vom Westen als Reaktion auf den Ukraine-Krieg und die Krima-Annexion gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen.

Die Berichte über über die Entwicklung der russischen Wirtschaft ergeben ein zwiespältiges Bild. Als Beleg dafür, dass die Sanktionen ›erstmals‹ schmerzhafte Wirkung zeigen, führt ein Artikel in der FAZ (v. 14.04.2018, S.24) den Einbruch auf dem russischen Aktienmarkt, den fallenden Rubelkurs sowie die amerikanischen Sanktionen gegen den privaten russischen Aluminiumkonzern Rusal an. Dann heißt es aber weiter, der Konzern sei »für Moskau nicht von strategischer Bedeutung«. Hinter den Sanktionen gegen Rusal seien – zielgerecht im Sinne von Trumps Protektionismus – »industriepolitische Motive [zu] vermuten«, da nunmehr die amerikanischen Aktien für Aluminiumprodukte boomten. In einem anderen Artikel erfährt man, dass laut Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft die US-Sanktionen den Betrieb deutscher Aluminiumhütten gefährden und Produktionsausfälle in weiterverarbeitenden Betrieben nach sich ziehen könnten. Der mögliche Gesamtschaden für die deutsche Wirtschaft liege in dreistelliger Millionenhöhe. Umgekehrt sei der Schaden für die russische Wirtschaft zu verkraften, da die exportorientierte russische Gas- und Ölproduktion vom fallenden Rubelkurs profitiere. Über die Exporteinnahmen der staatlichen Energiekonzerne fließe durch entsprechende Steuersätze ein Teil direkt in Putins Staatskasse. Die Sanktionen erweisen sich überdies als politisch kontraproduktiv. Die Bevölkerung ist zwar zwar von verteuerten Importen – bislang kommen noch ein Viertel der Lebensmittel und ein Drittel sonstiger Konsumgüter aus dem Ausland – betroffen, doch der Druck von außen hat die Popularität Putins – siehe die hohe Zustimmung bei den Präsidentschaftswahlen am 18. März 2018 –nur noch gesteigert. (Siehe: »Unangenehme Überraschung aus Amerika«, in: FAZ v. 17.04.2018, S.15.)

Eine erhellende Analyse der russischen Wirtschaft im Zeichen westlicher Sanktionen bietet ein Aufsatz im Wirtschaftsmagazin Capital (Nils Kreimeier: »Russia First«, in: Capital 03/2018, S. 24-35). Die Sanktionen haben den Russen nur vorübergehend – ablesbar am Absinken des BIP im Jahr 2015 auf nahezu drei Prozent – geschadet, danach in nahezu allen Sektoren genützt. Der Rückgang der Importe kam insbesondere der lange vernachlässigten Agrarproduktion zugute. 2017 verkündete Viktor Jewtuchow, Vizeminister für Handel und Industrie, das Land sei bei Milch, Zucker, Mehl und Eiern fast zu 100 Prozent unabhängig von Importen (S.26). Die russischen Gegensanktionen – das Verbot von Agrarimporten aus dem Westen – beflügele die heimische Landwirtschaft. Inzwischen hat Russland die USA in der Weizenproduktion überholt. Nicht ganz stimmig scheint dabei die Information, dass Russland mit einer Bevölkerung von 143 Millionen (gegenüber den USA mit 328 Millionen) gleichwohl noch eine geringe Menge Getreide importieren muss (S.32).

Bei einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum von 1,8 Prozent im Jahr 2017 sticht insbesondere die Expansion bei dem russischen Suchmaschinenkonzern Yandex hervor. Auf dem russischen Markt ist Google deutlich zurückgedrängt worden. Ähnlich soll ein von der staatlich kontrollierten Bank Sberbak und Yandex gegründetes Joint Venture den amerikanischen Online-Handelsplattformen von Google und Amazon Paroli bieten. Parallel dazu etablieren sich eigene soziale Netzwerke mit Firmennamen wie Vkontakte und Odnoklassiki.

Zum Missfallen neoliberaler Marktpuristen hat der Staat unter Putin wieder eine wirtschaftliche Führungsrolle übernommen. Was die von liberalen Ökonomen – mit mancherlei guten Gründen – bezweifelte Effizienz staatlicher Unternehmen betrifft, so nötigten gerade die westlichen Strafmaßnahmen die staatlichen Energiekonzerne zu höherer Produktivität – eine Steigerung der Produktion um sieben Prozent auf 700 000 Barrel Öl pro Tag – und zur Senkung der Produktionskosten. Die sinkenden Ölpreise auf dem Weltmarkt wurden dadurch aufgefangen. Gleichzeitig legte sich der Staat – ungeachtet der Militärausgaben – strengere Haushaltsdisziplin und die Absenkung des Budgetdefizits (auf 0,8 Prozent im Jahr 2018) auf.

Der Staat übt einerseits Druck auf inländische Betriebe aus, ausländische Produkte durch russische Waren zu ersetzen, was speziell bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zum Tragen kommt. Ausländische Unternehmen, die Maschinen und Autos in Russland verkaufen wollen, werden gedrängt, Produktionsstätten in Russland zu errichten. Mit Erfolg: 2017 stiegen die ausländischen Investitionen in den ersten drei Quartalen auf knapp 25 Mrd. Dollar. Davon betrugen allein die deutschen Netto-Direktinvestitionen an die 1,6 Mrd. Euro (S.26, 29).

III.

Angesichts dieser Fakten zieht der Ire Chris Weafer, Gründer einer Beratungsfirma, folgendes Resümee: »Die Sanktionen haben dem Land gutgetan. Ohne sie wäre die Wirtschaft in ein viel tieferes Loch gefallen.« (Zit. S. 29)

Noch immer trösten sich westliche Kritiker und Politiker mit der Feststellung, dass die staatslastige Wirtschaftsleistung Russlands trotz aller Anstrengungen mit 1 469,34 Mrd. Dollar im Jahr 2017 immer noch geringer ist als das BIP Italiens, Kanadas oder Südkoreas. Hinsichtlich des realen, im militärischen Bereich offenkundig längst wieder ebenbürtigen Machtpotentials des Reiches zwischen Brest-Litwosk und Wladiwostok besagt diese Größe nicht viel. Folglich geht es – wie zu Zeiten der europäischen Pentarchie – um das ›richtige‹, kulturell und historisch gesamteuropäisch zu definierende Verhältnis des Westens zu Russland. So unangenehm die simple Weisheit in manchen Ohren klingen mag: Frieden in Europa ist nicht gegen, sondern nur mit der östlichen Großmacht zu erreichen und zu erhalten. Diese Maxime gilt nicht zuletzt für die Beziehungen des in EU-Europa nicht immer ungeliebten, seinen Wohlstand auf Exporte gründenden Deutschlands zum mächtigen eurasischen Nachbarn.

Unabhängig von derlei grundlegenden Fragen zur Zukunft Russlands und Europas bergen die Betrachtungen zur aktuellen Wirtschaftslage Russlands eine in neoliberalen Zeiten vergessene, wirtschaftstheoretische Lehre. Zur Gründungszeit des Preußischen Zollvereins, der die nationale Einigung Deutschlands (unter preußischer Ägide) vorwegnahm, propagierte der Liberale Friedrich List (1789-1845) – nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen in den jungen USA – die Einführung von ›Erziehungszöllen‹ – de facto Schutzzöllen – als Voraussetzung für die industrielle Entwicklung eines Landes und dessen Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt.

Entgegen der reinen Lehre sind – insbesondere in einem ressourcenreichen Land – protektionistische Maßnahmen offenbar nicht durchwegs von Übel. Auch Wirtschaftssanktionen oder Strafzölle können ihr politisches Ziel verfehlen. Die Konsolidierung der russischen Wirtschaft unter Putin – und dessen ungehindert imperiale Politik – demonstrieren derzeit das Gegenteil.

 

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