von Heinz Theisen

Das doppelt überdehnte Europa braucht Selbstbegrenzung und Selbstbehauptung

Die westliche Politik, sich offensiv in die Angelegenheiten des Orients einzumischen und umgekehrt in Europa auf schützende Grenzen zu verzichten, hat zu einer doppelten Überdehnung nach außen und innen geführt.

Von den Interventionen in Afghanistan, im Irak und in Libyen bis zu Lockangeboten an die Ukraine hatte der Westen zu Destabilisierungen beigetragen, sich heillos in unlösbare Konflikte verstrickt, die vormalige Sicherheitspartnerschaft mit Russland ruiniert und den Kampf der Islamisten gegen den Westen angefeuert. Mit den Flüchtlingsströmen, aber auch mit dem Terrorismus fallen die von den USA angeführten Interventionen in den Nahen Osten in ihren Folgen auf Europa zurück.

Zu allen Problemen ist Deutschland auch noch ideologisch zwiegespalten, die politischen Lager von ›Links‹ und ›Rechts‹ erleben eine Wiederauferstehung. Aber es handelt sich bei ihren Begriffen um Wiedergänger, die in den Köpfen rumgeistern, ohne das sie noch zu begreifen helfen. Mehr Sinn für Realitäten finden wir bei ›einfachen Menschen‹, die aus ihrer Lebenswelt um die Grenzen des Möglichen und die Notwendigkeit von Gegenseitigkeiten wissen. Ihre Ängste und Proteste werden in endloser Monotonie als ›rechtspopulistisch‹ entlarvt. Ob die angeblich ›geschürten‹ Ängste berechtigt sind oder nicht, wird dabei nicht thematisiert. Die einst von den Linken verklärte ›Zivilgesellschaft‹ mutierte zum ›Pack‹, sobald sich ihr Engagement auf eigene Interessen richtet. Die universalistischen Eliten diffamieren in eigener Sache. Sollten die Kritiker einer unbegrenzt offenen Gesellschaft Recht haben, ist es um die Legitimität ihrer Macht geschehen.

Mit der gescheiterten Unipolarität des Westens werden auch Denkfiguren von der Universalität der Demokratie, vom interkulturellen Regenbogen und von der allseitigen Integrierbarkeit als Illusionen erkennbar. Gerade angesichts der wirtschaftlichen und technischen Globalisierungsprozesse würden politische Grenzen umso mehr gebraucht. Die permanente Entgrenzung verliert an Akzeptanz. Ein europäisches Land nach dem anderen setzt auf neue Grenzkontrollen, mit denen zumindest eine Differenzierung zwischen Schutzsuchenden und potentiellen Gefährdern erreicht wird.

Die Grenzen der Grenzenlosigkeit Europas

Das Scheitern des Westens jenseits seiner Grenzen spricht nicht gegen westliche Werte, aber gegen unsere Fähigkeit, diese Werte zu universalisieren. Wenn die Grenzen des Möglichen gegenüber der Universalität des Wünschbaren keine Rolle spielen, bringt dies den Westen früher oder später in Gegnerschaft zu den vielen Mächten, die unseren Werten nicht gerecht werden. Der Westen erweist sich hierbei als lernunfähig. Sendungsbewusstsein und Lernbereitschaft schließen sich gegenseitig aus. (Siehe hierzu: Xuewu Gu, Die große Mauer in den Köpfen. China, der Westen und die Suche nach Verständigung, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014, S.120f. Gu verweist darauf, dass es bei der Antithese Primat des Individuums/Primat des Kollektivs, mehr Menschenpflichten als Grundlage für eine stabile Staatsordnung oder mehr Menschenrechte als Grundlage für eine freie Gesellschaft, um einen Paradigmenstreit darüber geht, was der Mensch ist und sein sollte, eine Frage, die kaum absolut und damit universell zu klären sein dürfte.) Aus Lernprozessen über die Grenzen der Kulturen könnten Einsichten über die Grenzen sowohl des politischen Universalismus des Westens als auch des religiösen Universalismus des Islams erwachsen.

Die globalen Entgrenzungen des materiellen und des ideellen Wettbewerbs haben zwischenstaatliche, innergesellschaftliche und sogar zwischenmenschliche Entfesselungen zur Voraussetzung. Sie treiben unablässige Innovationszwänge hervor, welche Traditionen und kulturelle Übereinkünfte beseitigen und soziale Ungleichheiten innerhalb der Staaten verstärken. Die Totalität des Wettbewerbs relativiert Ideologien, Kulturen und schließlich selbst staatliche Institutionen.

Mit der Wiederkehr der Kulturen außerhalb der westlichen Welt und mit dem Verlangen nach neuen Begrenzungen in Europa mehren sich die Anzeichen, dass die permanente Entgrenzung an Akzeptanz verliert. Deren Befürworter flüchten sich vor Kritik in die Moralisierung des Problems. Statt ›richtig und falsch‹ werden ›gut und böse‹ zu den entscheidenden Maßstäben, so dass die Ideologie der wünschenswerten Grenzenlosigkeit trotz aller schon erkennbaren Defizite in der Debatte dominant bleibt. Es wäre aber diskussionsbedürftig, ob eine gesinnungsethische Moral, die die Kontexte und Folgen ihres Handelns ausblendet, noch verantwortbar ist.

Der deutsche Abschied vom Nationalstaat und seinen Grenzen kam verfrüht. Es sind nicht zuletzt seine Erfolge, welche Migranten anziehen. Es hat keine Notwendigkeit zu einer überstürzten Schwächung des Nationalstaates gegeben, dem wir Entwicklungen zur Demokratie, Gleichberechtigung und sozialen Sicherheit verdanken. (Michael Lind, Wider den Kosmopolitismus, in: NovoArgumente Juli 2015) Nationen – so Paul Collier – sind legitime moralische Einheiten, die ihren ärmeren Bürgern Rechte verleihen. Deren Interessen bleiben vom ›globalen Nutzen‹ der Zuwanderungsgewinne oft unberührt. (Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2014 S.31f.) Da die anderen europäischen Nationen diesen deutschen Sonderweg nicht mitgehen, haben wir uns zu allen Problemen auch noch in Europa isoliert.

Auch der Primat der Politik über die Ökonomie setzt einen handlungsfähigen Nationalstaat voraus. Es hätte der Dialektik der Globalisierung entsprochen, wenn dem globalen wirtschaftlichen Wettbewerb schützende politische Grenzen gegenübergestellt geblieben wären. Staat kommt von ›Status‹, er steht synonym für Stabilität, für das, was sich nicht verändern soll. Der Staat sollte das Standbein sein, welches das Spielbein grenzüberschreitender Kräfte ausgleicht und stabilisiert.

Flexible Grenzen für die Europäische Union

Aus den erkannten Grenzen der Grenzenlosigkeit ergäbe sich im Umkehrschluss die Therapie: Der Westen und zumal das offene Europa müssen zunächst den seinerseits universalistischen Islamismus eindämmen, dann ihr eigenes Streben nach politischer Universalität gegen eine Koexistenz der Kulturen eintauschen und sich schließlich selbst funktionsfähige Grenzen geben, an denen unterschieden wird, wer und wie viele hineinkommen.

Schwellen wären gewiss besser als Zäune und Mauern, die wie in der spanischen Enklave Ceuta nur eine Ultima Ratio sein sollten. Die erste Schwelle läge in der Abschaffung von Migrationsanreizen, die zweite in einer Differenzierung der Flüchtlinge in Aufnahmezentren, die dritte in einer konsequenteren Rückführung, die vierte in einer besseren Sicherung der EU-Außengrenzen und die fünfte in Flüchtlingshilfe für ›Pufferstatten‹ wie Türkei, Libanon und Jordanien. Die letzte Schwelle wäre die militärische Sicherung. In Australien wurde die Grenzsicherung der Marine übertragen, woraufhin die Zahl der Schleuserboote von 2013 bis 2014 von zweitausend auf eines zurückging.

Neue Grenzen wären daher nicht nur im physischen, sondern auch im organisatorischen und sogar im ideellen Sinne gefordert. Die Grenzen zwischen Funktionssystemen sind zur Verhinderung einer ökonomischen Kolonialisierung der Lebenswelt oft noch wichtiger als zwischen den Staaten. Der Binnenmarkt kann für alle, Währungsunion und Politische Union nur für wenige gelten, eine Sozialunion darf es nicht geben, solange die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu unterschiedlich sind.

Wichtigste gesamteuropäische Aufgabe wäre eine gemeinsame Grenz- und Asylpolitik. Schengen erlaubt die zeitweilige Wiedereinführung von nationalen Grenzen. Wann, wenn nicht jetzt? Doch auch das wird nicht reichen. Angesichts des Andrangs von Flüchtlingen und der Bedrohung durch Dschihadisten kann keine politische Ebene die Grenzsicherung mehr alleine leisten. Nationalstaaten und EU müssten sich gegenseitig ergänzen. Die meisten europäischen Nationalstaaten sind auch für die globalen Migrationsprozesse zu klein, aber ohne starke Nationalstaaten kann es auch keine erfolgreiche inter- oder supranationale Kooperation geben.

In Zukunft soll Frontex in die Rolle einer operativ arbeitenden Grenzschutzbehörde hineinwachsen. Neben einer Aufstockung des eigenen Personalbestandes auf 1000 sollen zusätzlich mindestens 1500 Grenzbeamte aus den Mitgliedstaaten als schnelle Eingreiftruppe auch gegen den Widerstand des Nationalstaats eingesetzt werden können. Wenn ein Mitgliedstaat überfordert ist, soll Frontex federführend für den Grenzschutz zuständig sein. Damit würde die Souveränität von Staaten in einem wesentlichen Punkt eingeschränkt. Aber auch diese Zahlen, die zudem nur Planungen sind, dürften für die Größe und Offenheit Europas angesichts des weiter drohenden Ansturm nicht ausreichen. Damit drohen die Konflikte des zerfallenden Nahen Osten ungehindert nach Europa zu kommen. (Heinz Theisen, Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation, Reinbek 2015) Wahrscheinlicher ist, wie es sich jetzt selbst in Skandinavien andeutet, die Rückkehr zu den Grenzen des Nationalstaates, die mit einer weitgehenden faktischen Auflösung der Europäischen Union einherginge.

Die Grenzfrage wird zu einer Überlebensfrage der Union. Im Mehrebenensystem der EU wird die gegenseitige Ergänzung nur gelingen, sofern sie einer konsensfähigen Strategie folgt. Aus der Strategie ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ könnten die jeweiligen Aufgaben einsichtiger werden. Da sich die ideellen Gemeinsamkeiten der Europäischen Union als wenig belastbar erwiesen haben, ist es umso dringender, nüchterne Gegenseitigkeiten einzufordern, etwa finanzielle Hilfe an Griechenland an dessen Beiträge zur Grenzsicherung zu binden.

Das Prinzip Gegenseitigkeit

Die Goldenen Regeln des Prinzips Gegenseitigkeit werden von Menschen aller Kulturen verstanden, sofern ihre Verletzungen sanktioniert werden. Nach den Anschlägen von Paris will die französische Regierung die Ausweisung von Gewalthetzern und sogar Verfassungsänderungen für eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft auf den Weg bringen. Solche Pläne wären vor dem terroristischen Massenmord in Paris als ›rechts‹ aus der Debatte verbannt worden.

Die Kritik an der wirtschaftlichen Globalisierung gilt als ›links‹, die an der an der mangelnden Behauptung des Staatsgebiets als ›rechts‹. Auch die Verteidigung unserer Leitkultur firmiert als ›rechts‹, obwohl es sich um eine liberale Kultur der Freiheit und um eine soziale Kultur der Gleichberechtigung handelt. Den notwendigen Gegenseitigkeiten stehen diese alten Einseitigkeiten der politischen Ideologien im Wege. Linke wie Rechte, Neokonservative, Neoliberale und idealistische Universalisten sind je auf ihre Weise an den Überdehnungs-, Entgrenzungs- und Verstrickungsproblemen Europas beteiligt. Solange sie ihrer jeweiligen materiellen oder ideellen Globalisierungs- bzw. Universalisierungsideologie verhaftet sind, bleiben sie alle Teil des Problems.

Zur asymmetrischen Gegenseitigkeit der Kulturen gehört auch, dass schwächer entwickelte Kulturen nicht ihre Selbstverantwortung ablegen. Geradezu absurd wird das Missverhältnis zwischen Starken und Schwachen, wenn Bundeswehrsoldaten im Kosovo, in Afghanistan und neuerdings in Syrien sich um eine Neuordnung der Verhältnisse mühen und deren junge Männer bei uns um Asyl nachsuchen.

Im Zusammenprall der Kulturen geht es weniger um die Gemeinsamkeiten von Universalität und Integration als um Koexistenz und Gegenseitigkeiten des Inkompatiblen. Für eine dementsprechende Einwanderungssteuerung bedürfte es eines Gesetzes, in dem die wichtigsten Gegenseitigkeiten, Chancen und Bedingungen, Rechte und Pflichten beider Seiten transparent geregelt sind. Mit den definierten Bedingungen für eine Aufnahme würde der Ehrgeiz junger Menschen von der illegalen Flucht in die Erfüllung dieser Voraussetzungen gelenkt und könnte das Geld für Schlepper in die Berufsausbildung investiert werden.

In ihren globalen ökonomischen und kulturellen Kontexten zeigt sich die Begrenztheit der alten Ideologien. Da sie in der heutigen Globalität und Komplexität allenfalls ausschnitthaft Recht haben, müssen sie sich gegenseitig ergänzen. Wer die soziale Ordnung des Westens bewahren will, ist sowohl ›links‹ als auch ›rechts‹, wer die freiheitliche Ordnung bewahren will, ist sowohl ›liberal‹ als auch ›konservativ‹. Ohne eine neue Offenheit für die Dialektik der Realität lassen sich weder die sozialen noch die liberalen Errungenschaften unserer Kultur verteidigen.

(Eine sehr viel kürzere Version des Beitrags erschien am 8. 1. 2016 im Tagespiegel.)

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