Über Meinungsforscher und Journalisten

von Detlef Lehnert

 Zur Wahldemoskopie der professionellen Meinungsforscher gibt es richtige und weniger zutreffende Kritik. Ganz richtig ist der Einwand gegen ein Übermaß an ›Sonntagsfragen‹ während des Alltags einer vierjährigen Legislaturperiode. Die Frage, welcher Partei man am nächsten Sonntag zum Bundestag die Stimme geben würde, wenn das Parlament tatsächlich z.B. erst in zwei oder drei Jahren turnusmäßig neu gewählt wird, macht wenig Sinn.

Der Prognosewert ist stets nur minimal, weil sich die wahlentscheidende Konstellation in längeren Zeiträumen erheblich ändern kann. Die Umfrage-Inflation liefert wesentlich nur pseudo-objektive Argumente für die auftraggebende Presse, die so auf bloße Momentaufnahmen des Höhen- oder Sturzflugs einzelner Parteien ihre Schlagzeilen zu stützen vermag.

Anders liegt der Fall unmittelbar vor einer Bundestagswahl. Die Institute geben auch dann (allen, die es wissen möchten) die nicht geringe Fehlertoleranz an, die häufig dazu führt, dass bei engen Mehrheitsverhältnissen keine einzelne Umfrage hinreichend sichere Daten bietet. Dem ist aber durch Mittelwertbildung abzuhelfen, die vor dem Internet-Zeitalter noch aufwendiger war, zumal Konkurrenz zwischen Instituten und den sie beauftragenden Presseorganen die für das Wahlpublikum wünschenswerte Zusammenschau behinderte. Inzwischen gibt es aber z.B. die Online-Plattform »Wahlrecht.de«, die sich – durchaus problematisch – zwar auch durch als solche erkennbare punktuelle Wahlwerbung finanziert, deren Zahlenwerk aber offenbar korrekt aus Originalquellen übernommen wird. Ohne mit Statistiklehre langweilen zu wollen, wird auch Laien einleuchten, dass Abweichungen mit geringerer Wahrscheinlichkeit in mehreren Umfragen rein zufällig stets in die gleiche Richtung erfolgen werden. Gerade unmittelbar vor Wahlen möchten sich Institute durch letztlich zutreffende Daten für künftige Aufträge empfehlen. Sie werden sich also hüten, ähnlich wie eher zuweilen bei Sachfragen – durch Art der Fragestellung – mit bloßen Zahlen auch Meinungsbeeinflussung zu betreiben; denn nach Auszählung sind die Ergebnisse in schlichten Prozentangaben nicht mehr zweifelhaft.

1.   Umfragedaten und Wahlergebnisse 1998 bis 2009

Wenn auf Daten unmittelbar vor Bundestagswahlen zurückgegriffen wird, ergibt sich summarisch dieses: 1998 unterschätzte der Mittelwert von fünf Umfrageinstituten die realen Ergebnisse aller Parteien (inkl. Sammelrubrik »Sonstige«) mit einer Ausnahme jeweils nur um 0,3% bis 0,8%. Man traf also deren Ziffern, absolut wie im Verhältnis zueinander, erstaunlich genau. Die Ausnahme waren zuvor ermittelte 37,7% anstelle von real 35,1% der CDU/CSU. Die erkennbare Wechselstimmung nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl lief offenbar noch bis zum Wahltag, verteilte sich aber recht gleichmäßig (auch mit 0,8% auf dessen Koalitionspartner FDP, die Abweichung unter 2% mildernd). 2002 entsprach der Mittelwert von sechs Instituten dann insgesamt so präzise wie selten dem Ergebnis: Die Abweichungen bis max. 1,3% bewegten sich im Bereich der statistischen Varianz. Wenn man in die Ziffern etwas mehr hineinlesen will als es die Fehlerquote streng genommen zulässt, brachten die Möllemann-Irritationen der FDP wohl noch ca. 1% Anteil an die CDU/CSU zurück, während die SPD an die Grünen abgegebene Zweitstimmen im Zeichen der Irak-Krieg-Ablehnung aus dem Potenzial von PDS und Sonstigen kompensierte.

Allein die Bundestagswahl 2005 hat diesen sechs Umfrageinstituten den Ruf eingebracht, allesamt gründlich daneben liegen zu können – und zwar im Falle der CDU/CSU drastisch: mit nur 35,2% im Wahlergebnis gegenüber noch 41,6% bei den Meinungsforschern. Dass solche Umfragen einen Demobilisierungseffekt erzeugt haben könnten, ist unwahrscheinlich, weil die von der Union angestrebte Koalition mit der FDP lediglich hauchdünn mit 48,7% zu 48,3% führte. Fast die Hälfte der spektakulären Abweichung war ohnehin lagerintern aus dem letztlich in der Wahlurne 2,7% höheren Zweitstimmen-Ergebnis der FDP zu erklären. Die verbleibenden 3,7% Differenz verteilten sich fast exakt gleichmäßig auf die übrigen Parteien. Dies wurde überwiegend so erklärt: Von den sich etwa zwei Wochen vor dem Wahltag bekennenden CDU/CSU-Anhänger wollten manche letztlich doch nicht eine Bundeskanzlerin Merkel mit »dem Heidelberger Professor« (Kirchhof) als Steuernivellierer sowie z.B. einer Kopfpauschale im Gesundheitswesen – und wählten dann anders oder gar nicht.

Die Abweichungen 2009 waren hingegen ziemlich unspektakulär. Ein Mittelwert der sechs Institute zeigte eine schwarz-gelbe Mehrheit mit 48,1% zu 47,2% der (mandatsgewinnenden) künftigen Oppositionsparteien. Reale 48,4% für die schwarz-gelbe Koalition konnten dann nicht mehr überraschen. Lediglich das mit 23,0% gegenüber einem Umfragemittel von 25,0% um 2% schwächere Ergebnis der SPD deutete auf einen zusätzlichen Demobilisierungs- und Absplitterungseffekt hin.

2.   Umfragedaten und Wahlergebnis 2013

Für den Vergleich 2013 stehen nur fünf Institute zur Verfügung, weil die ARD mit Infratest dimap sich entschieden hat, so wie sämtliche Anbieter bis 2009 keine Umfragen mehr in der letzten Woche vor der Wahl zu veröffentlichen. Die geänderte Praxis der anderen Institute wird u.a. mit der niedersächsischen Landtagswahl Anfang 2013 begründet, wo auch die zuletzt veröffentlichten Ergebnisse nur einen ganz knappen Einzug der FDP andeuteten, während es tatsächlich 9,9% geworden sind. Da wurden dann offenbar Stützstimmen-Entscheidungen auf der Basis von Daten getroffen, die in jenen Tagen vor der Wahl von den nicht mehr veröffentlichten Ergebnissen der Institute schon überholt waren. Auch die nun im Mittel per 11.9. erhobenen Daten von Infratest zeigen in einem Falle solchen Nachzügler-Effekt: Der ohnehin dort niedrigere Wert für die (eurogegnerische) AfD mit 2,5% stieg bei der Mehrzahl anderer Institute in der Folgewoche um 1% an. Die im (ungewichteten) Mittel per 17.9. durchgeführten Befragungen der verbleibenden fünf Institute ergeben im Abgleich mit den Wahltags-Nachbefragungen der TV-Sender und dem vorläufigen amtlichen Endergebnis folgende (Durchschnitts-)Werte:

Parteien Letzte Umfragen Wahltag ARD Wahltag ZDF Endergebnis
CDU/CSU 39,3 % 42,0 % 42,5 % 41,5 %
SPD 26,8 % 26,0 % 26,5 % 25,7 %
Grüne 9,0 % 8,0 % 8,0 % 8,4 %
FDP 5,6 % 4,7 % 4,5 % 4,8 %
Linke 8,9 % 8,5 % 8,5 % 8,6 %
AfD 4,3 % 4,9 % 4,8 % 4,7 %
Sonstige 6,1 % 5,9 % 5,2 % 6,3 %

Zum gelisteten Mittel der letzten Umfragen von fünf Instituten ist anzumerken, dass zwei davon keine Daten für die »Piraten« ausgewiesen haben und diese ca. 2% insofern in »Sonstigen« enthalten sind. Mit zusammen 44,9% der schwarz-gelben Regierungskoalition gegenüber 44,7% der bislang im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien ließen die letzten Umfragen keine verlässliche Prognose zu. Auch der AfD-Anteil von 4,3% konnte wegen der steigenden Tendenz nicht bereits als sicheres Indiz des Scheiterns an der 5%-Hürde gelten.

Die 2013 näher zum Wahltag erfolgende Befragung und Veröffentlichung hat die mittlere Fehlerquote nur geringfügig verringert, aber zwei Tendenzen klarer erfasst: Die Verluste der Grünen und die Annäherung der AfD an die 5%-Hürde haben sich bis zum Wahltag fortgesetzt. Die AfD ist nun im Vorwissen um das enge Ergebnis gescheitert, und der gut informierte Teil einer potenziellen Grünen-Anhängerschaft wollte offenbar den Negativtrend nicht stoppen. Insgesamt fällt nur die Abweichung der CDU/CSU um 2,1% nach oben deutlicher auf. Sie verteilt sich jenseits der AfD/Sonstigen recht gleichmäßig auf die Mitbewerber. In Verbindung mit Zuwachs der CDU/CSU von deutlich über 1 Mio. Stimmen aus Nichtwählern von 2009 (gemäß Wählerstrom-Analyse von Infratest) spricht das für bessere Ausschöpfung des erreichbaren Potenzials. Die Nachwahlbefragung insbesondere der ARD war mit Abweichungen zwischen 0,1% und 0,5% einmal mehr punktgenauer als frühe Hochrechnungen, die von offenbar nicht hinreichend kontrollierbaren Regionaleffekten der Auszählfolge verzerrt werden.

Eine befremdliche Zugabe leistete ein noch am Wahltag über die Agenturen AFP und dpa verbreitetes und z.B. auf der Startseite von T-Online (v. 22.09.2013) auffällig platziertes Ergebnis eines Votings beim Privatsender Pro Sieben. Dort wurde mit 4,9% FDP, aber 15,6% für die Linkspartei (CDU/CSU 35%, SPD 28,8%, Grüne 6,2%, Sonstige also 9,5% inkl. AfD) ein klassisches Szenario für Stützstimmen-Impulse zugunsten der FDP präsentiert. Zwar nannte die Agenturmeldung diese Zahlen »nicht repräsentativ«, fügte aber hinzu: »Doch nach Angaben des Senders lagen die Ergebnisse der ›TV Total‹-Wahl zum Teil näher am tatsächlichen Ergebnis der Bundestagswahl als die Umfragen großer Meinungsforschungsinstitute.« Da fehlte zumindest der Hinweis, dass nicht repräsentative Daten nur zufällig einmal genauer sein können als zu (fast) gleicher Zeit repräsentativ erhobene der erwähnten Institute. Es ist geradewegs eine Ironie des medialen Schicksals, dass allein die FDP-Ziffern nahezu exakt so eintrafen, während der Rest sich erwartungsgemäß als bloßes TV-Spielchen zu Quotenzwecken erwies.

3.  Wahlbeeinflussung aus den Printmedien

DER SPIEGEL präsentierte eine mit Titelblatt Wie Nichtwähler die Demokratie verspielen wirkungsvoll aufgemachte Wahlausgabe Nr. 38 vom 16.9.2013. Dort wurde im Inhaltsverzeichnis (S. 8) mit entsprechendem Foto der SPD-Kanzlerkandidat vorgestellt als »Mann fürs Grobe: Peer Steinbrück reckt den Mittelfinger, er ist unbeherrscht, aggressiv und narzistisch« (ein Schmähwort des Folgesatzes hier wegzulassend, da es im Normalleben eher zu einer Beleidigungsklage – oder einem Mittelfinger – als zu sachlicher Diskussion führen könnte). Der etwas subtiler Ansichten eines Clowns (S. 30) überschriebene Artikel rechtfertigt derlei Stil mit vermeintlicher Balance der Berichterstattung zu Steinbrück: »Nimmt man die überregionalen Printmedien, ist das Meinungsbild ausgewogen. Pluralität ist gewahrt, eine skeptische ›FAZ‹, eine wohlwollende ›Süddeutsche Zeitung‹, eine freundliche ›Zeit‹ ein kritischer SPIEGEL« (S. 35). Da werden ganz nebenbei die überregionalen Printmedien aus dem Burda-Konzern (wie der SPIEGEL-Konkurrent FOCUS) und dem Springer-Konzern verschwiegen, die von ›Welt‹ bis ›Bild‹ das Weltbild letztlich in ähnlicher Grundrichtung beeinflussen. Eine ›Bild‹-Sonderausgabe vom 21.9.2013 mit »41 Mio. Zeitungen GRATIS« und großen Fotos der Kanzlerin und des Herausforderers auf S. 2/3 als Teil der gewollten Personalisierung, die nach Umfragen primär der Amtsinhaberin nützen konnte, war zuletzt auch kaum mehr zu übersehen. Dort wurden außerdem zu Erstwählerbildern polarisierte Klischees geliefert (S. 10/11): Am oberen Ende der Skala will z.B. ein junger „Unternehmer“ die FDP und der „Einser-Abiturient“ die CSU wählen, hingegen ein „Arbeitsloser Punk“ Piraten/Linke und ein „Häftling“ („sitzt wegen Drogenbesitz, Einbruch und Körperverletzung“) die Grünen – womit klargestellt ist, welche Partei die Stimmungsmache der Boulevardpresse auf einer nach unten offenen Stigmatisierungsskala diesmal vor allem treffen sollte.

Der Autor des erwähnten SPIEGEL-Artikels, Dirk Kurbjuweit, liefert in gleicher Ausgabe seines Wochenmagazins das passende Selbstbild des »postmodernen Menschen«, der Parteiprogramme um das eigene Ich kreisen lässt und ein übergreifendes Richtungsprofil scheut: »Ich finde die ökologische Grundorientierung der Grünen gut, halte ein bedingungsloses Grundeinkommen aber für Unsinn. Ich stimme dem Plan der SPD zu, eine Bürgerversicherung einführen zu wollen, bin jedoch gegen einen flächendeckenden Mindestlohn. Den brachenspezifischen Mindestlohn à la CDU finde ich richtig, aber nicht das Betreuungsgeld.« Als Höchststrafe für solche Flexibilität spuckte das Wahl-O-Mat genannte Webspielzeug für Erwachsene dann wohlbemerkt die Wahlempfehlung AfD aus. Dies weist aber der sich zum »fanatischen Europäer« erklärende und den Euro als »große Errungenschaft« würdigende SPIEGEL-Autor natürlich ganz klar von sich (S. 18). Das Ergebnis ist sicher keine Empfehlung für diesen Wahl-O-Mat. Es spricht aber dafür, dass mit Ausnahme der einen dissidenten Anti-Euro-Position diese neue Partei verbal überwiegend in eine diffuse »bürgerliche Mitte« einzudringen versuchte. Nicht alle Zeitgenossen sind »postmodern« und Europa-»fanatisch«, so dass tatsächlich die AfD eher von wirtschaftsliberalen und nationalkonservativen Aktivisten geprägt sein wird. Das mag vielleicht zu denken geben, auch Profilunschärfe in diversen Programmen kritischer zu betrachten und sich nicht primär in deren verfließenden Konturen journalistisch zu spiegeln.

Als zweites Beispiel sei Die Zeit Nr. 39 vom 19.9.2013 herangezogen, die mit der Titelzeile Die Macht meines Kreuzes. Warum die Bundestagswahl jetzt erst richtig spannend wird ebenfalls Teilnahme motivierend daherkommt. Der Leitartikel von Bernd Ulrich (S. 2) beschreibt nach Defiziten des Wahlkampfs zuletzt auch ein Dilemma des um eigene Festlegungen herumsteuernden Journalismus: »Wohl dem, der eine Überzeugung hat. Denn der kann einfach nach Gesinnung wählen.« Dann folgt aber neben dem Hinweis, wie schwierig bei der Umfragesituation diesmal »taktisch wählen« sein musste, ein kleiner wegweisender Zeigefinger: »Oder ist am Ende doch wieder alles ganz einfach: Schwarz-Gelb oder nicht Schwarz-Gelb, punktum.« Das entspricht der klaren Logik parlamentarischer Demokratien, einer der sich zur Wiederwahl stellenden Regierungsparteien entweder die Stimme zu geben – oder einer Oppositionspartei, damit ein Regierungswechsel stattfindet, und sei es auch nur in der Koalitionsbildung. Schließlich wird zur Prüfung dieser Grundfrage noch »die Bilanz der schwarz-gelben Koalition auf der kommenden Seite empfohlen«.

Diese Bilanz ist aber bereits in den hervorgehobenen Kopfzeilen ganz im Stil der neuen Unübersichtlichkeit formuliert: »Bürgerlich solide ist die schwarz-gelbe Regierung nicht gerade gewesen. Bei wirtschaftlichen Reformen und internationalen Einsätzen ist sie sogar links von Schröder gelandet.« Auch wenn dieser ZEIT-Autor Matthias Geis sicher nicht allen jenen mit ›unsolidem‹ bzw. nach ›links‹ nachgebendem Eindruck vom Kabinett Merkel nun die AfD empfehlen will, die mit vielen Professoren (diesmal nicht aus Heidelberg) irgendwie ›bürgerlich‹ erscheinen mag, bleiben Lesende bei solcher Darstellung ratlos zurück. Die Klage über »Reformresistenz« in der Bevölkerung und den »Pazifismus der Mehrheit« bewegt sich bei aller Kritik an der Regierung im richtungspolitisch luftleeren Raum, da »Rot-Grün heute von seiner eigenen Regierungspolitik nichts mehr wissen« wolle (S. 3). Ironischerweise dementieren im ZEIT-Wahlblog von Experten textanalytisch gewonnene Wahlprogramm-Profile der bisherigen Bundestagsparteien einige gängige Behauptungen (ZEIT-online v. 10.07.2013): Auf einer zweidimensionalen Skala veranschaulicht liegen die wirtschafts- wie auch gesellschaftspolitischen Positionen der SPD 2013 ganz so wie 2009 in der Mitte des ökonomischen ›links/rechts‹- und gesellschaftlichen ›progressiv/konservativ‹-Spektrums, während Grüne und insbesondere Linke sich noch ein Stück weiter in eine links-progressive Ecke bewegt haben. Hingegen hat sich die Union keineswegs näher zur SPD hin orientiert: der Abstand erscheint dort auch weiterhin in gemäßigt konservativ-wirtschaftsliberaler Richtung etwas größer als zwischen SPD und Grünen.

4.  Wahlempfehlungen aus Politik-Blogs

Da inzwischen nicht allein Printmedien an der Meinungsbildung beteiligt sind, können auch noch Wahlaufrufe aus Politik-Blogs in den Blick genommen werden. Ja, ich wähle Merkel bekundet der aus gelegentlicher TV-Präsenz und seiner Beratertätigkeit für den Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber 2002 bekannte Michael Spreng in seinem Blog (v. 19.09.2013). In dem gesamten Artikel kommen weder CDU noch CSU oder Ersatzwörter wie Union oder Christdemokraten vor. Dieser Medienprofi weiß eben, dass allein der Name Merkel besser wirkt, als mit den Parteien auch den Blick auf das gesamte Kabinett und die Parteizentralen freizulegen. Hingegen wird explizit gegen die SPD, die Grünen, die Linkspartei, die FDP und die AfD Stellung bezogen. Auch die Merkel-Bilanz fällt kritisch aus hinsichtlich des »Einschläferungswahlkampfes« und »ihrer Unfähigkeit, einen Zukunftsentwurf zu formulieren«. Ein gewisser Knick in der Logik, der von zahlreichen Kommentaren im Blog auch erkannt wird, folgt aus dem Zusatz, Angela Merkel nur »als Kanzlerin einer großen Koalition« zu wünschen. »Wenn es wieder zu Schwarz-Gelb käme, würde ich mich ärgern«. Aber schon bei 0,2% mehr FDP wäre genau das eingetreten, zumal Spreng darlegte, er gehe davon aus, dass die „FDP deutlich stärker wird als prognostiziert« (v. 06.09.2013). Es ginge beim Wählen meist nur um das kleinere Übel, mit der positiven Ausnahme »1998 (Schröder) und 2002 (Stoiber)«. So schlüpft der Autor ins modische Gewand des Wechselwählers, obwohl er außerhalb von Wahlkampfzeiten mit dem (zuletzt von ihm polemisch herunter geschriebenen) Kandidaten Steinbrück die Vorliebe für Klartext teilt: »1998 wählte ich zum ersten und bisher einzigen Mal bei einer Bundestagswahl mit der Zweitstimme SPD« (v. 29.04.2012). Dies gilt wohlbemerkt für einem seit 1969 wahlberechtigten Journalisten, also in nur einem von 13 möglichen Fällen. Hinter Kulissen des Jargons der Unübersichtlichkeit und der Wechselwähler-Attitüde gibt es offenbar beim Wahlkabinenkreuz immer noch die unsichtbare Hand des vorausgegangenen Wahlverhaltens (deshalb unterscheiden die veröffentlichten repräsentativen Umfragedaten der »Forschungsgruppe Wahlen« auch immer zwischen momentanen Stimmungsbildern und Projektionen, in die vorausgegangenes Wahlverhalten einfließt).

Auf den »Nachdenkseiten« – aus gegenläufiger Richtung – wird ebenso offen dargelegt: Warum ich am Sonntag die Linke wähle (v. 19.09.2013). Der Autor Jens Berger gibt sich als »ehemaliger SPD- und Grünen-Wähler« und polemischer Gegner von Kompromissen seitens der Linken zu erkennen: »So ist es durchaus zu vermuten, dass einigen Karrieristen in der Partei, die dem sogenannten ›Reformerflügel‹ angehören, das nötige Rückgrat fehlt und sie ihre Prinzipien über Bord werfen, wenn sie erst einmal an den Trögen der Macht angekommen sind«. Der Herausgeber dieser »Nachdenkseiten« Albrecht Müller, erfolgreicher Buchautor (Die Reformlüge, 2004) und einstmals SPD-Wahlkampfmanager, verbreitete sogar von ihm selbst etwas später wieder zurückgenommene Überlegungen zur Wahlenthaltung: »Also, ich muss gestehen, dass ich zum ersten Mal gut verstehe, dass Leute sagen, ich gehe nicht hin. Und vielleicht wäre es auch wichtig, wirklich eine solche Protestwahl dieser Art zu machen, zu sagen, wenn ich schon nicht die Linkspartei, die aus meiner Sicht auch die einzige ist, in Teilen, leider nicht mehr ganz, die eine Alternative wird, wenn ich die schon nicht wählen kann, dann wähle ich wenigstens auch die anderen nicht. Das wäre wirklich eine Art von Protest, den man überlegen müsste. Und darüber denke ich auch noch nach.« Die gleichzeitig formulierte Kritik an Rot-Grün, es »verweigern diese beiden Parteien die mögliche Zusammenarbeit mit der Linkspartei«, bleibt in ungeklärtem Spannungsverhältnis zu der Sorge, die Linke könnte in Regierungsverantwortung ähnliche Wege zu weitreichenden Kompromisse gehen (Deutschlandradio-online, 07.08.2013). Die absolut und relativ größte Abwanderung ins Nichtwählen gab es den Wählerstromanalysen von Infratest gemäß übrigens aus diversen Gründen tatsächlich bei der Linkspartei (Spiegel-online, 23.09.2013).

5.  Am Ende: Ein Online-Magazin

Auf ersten Blick pluralistischer erscheint der Online-›Cicero‹, obwohl er zum Großverlag Ringier gehört, der auch den ›Blick‹ (die Bild-Zeitung der Schweiz) herausgibt. Wer die Rubrik ›Innenpolitik‹ in Wahltagsnähe (20.09.2013) aufsucht, findet dort auch z.B. die Überschrift Leihstimmen-Kampagne der FDP zündet nicht. Das ist auf empirische Daten aus repräsentativen Umfragen gestützt und erweist sich als zutreffende Einschätzung, die aber nicht schon das Scheitern an der 5%-Hürde behauptet. Zur Kanzlerin, hinter deren Beachtung über die CDU ohnehin weniger die Rede ist, wird unter den Überschriften Merkels Angst und Mutti ist die Beste weder unkritisch noch polemisch, eher zuweilen (auch freundlich-)ironisch berichtet und kommentiert. Gut einen Monat vor dem Wahltag ist sogar noch Jubeljournalismus – Medialer Hofknicks für Angela Merkel mit etlichen Beispielen vorwiegend aus dem TV-Bereich aufgespießt worden (Cicero-online, 15.08.2013).

Während dies aber primär den Hofberichterstattern und weniger der Amtsbonus-Inhaberin zur Last fällt, lassen am 20.09.2013 kurz vor dem Wahltag die Meinungsartikel zu SPD und Grünen kaum ein Klischee aus: Wie Sigmar Gabriel Rot-Rot-Grün vorbereitet lautet die eine Schlagzeile. Das stereotype Steinbrück-Bashing darf nicht fehlen, den finalen K.o. ins Auge fassend: »Der Kandidat taumelt durch seine Kandidatur«, die bekannteren Namen in seinem Kompetenzteam seien »Links, linker, superlinks«. Wider die ökonomische Vernunft, die andere Schlagzeile, seien auch schon ohne Linkspartei die Oppositionsziele: »Eine rot-grüne Koalition wäre der finanzielle Ruin für viele Bürger«. Unter solchem Kampagnen-Jornalismus fehlt eigentlich nur der Weblink zu einem Archiv der 1950er Jahre, als die Adenauer-CDU gegen die SPD noch mit Stichworten wie »Keine Experimente« und »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!« plakatierte. Stattdessen lautet der Link unter dem »Rot-Rot-Grün«-Artikel nun zeitgeistig: »Vom Fürstenfeind zur Kaviarlinken: 150 Jahre SPD«. Während angesichts eines solchen Journalismus offenbar ein neues Klaus Staeck-Plakat »Deutsche Arbeiter: Die SPD will den Spitzensteuersatz auf eure Kaviarbaguettes erhöhen!« fällig sein könnte, war in einer Wahlwerbung der 2012 siegreichen NRW-SPD nur eine Currywurst zu sehen (Blog der NRW-SPD, 23.04.2012). Vielleicht sollte diese Currywurst dem grünen Koalitionspartner mit besonders viel Mediensenf zum legendären »Veggie Day« serviert werden?


Quellen (soweit nicht im Text komplett zitiert):

T-Online:
- Linke in »TV-total«-Wahl bei über 15 Prozent, v. 22.09.2013.

ZEIT-Wahlblog:
- Marc Debus: Signifikante Verschiebungen? Die programmatischen Positionen der Bundestagsparteien zu den Wahlen 2009 und 2013 im Vergleich, v. 10.07.2013.

Politik-Blog »Sprengsatz«:
- Michael Spreng: Teure Wahl, v. 29.04.2012.
- ders.: Warum die Grünen abstürzen, v. 06.09.2013.

Deutschlandradio-Online:
- Rot-Rot-Grün als einzige Alternative. Ex-Wahlkampfmanager von Willy Brandt hat für die Stigmatisierung der Linken kein Verständnis. Albrecht Müller im Gespräch mit Jörg Degenhardt, v. 07.08.2013.

Spiegel-Online:
- Bundestagswahl 2013: So wählten die Deutschen, v. 23.09.2013.

Cicero-Online. Magazin für politische Kultur:
- Petra Sorge: Medialer Hofknicks für Angela Merkel, v. 15.08.2013.
- dies.: Merkels Angst, v. 20.09.2013.
- Christoph Seils/Thorsten Faas: Leihstimmen-Kampagne der FDP zündet nicht, v. 20.09.2013.
- Hugo Müller-Vogg: Mutti ist die Beste, v. 20.09.2013.
- Georg Löwisch/Christoph Schwennicke: Wie Sigmar Gabriel Rot-Rot-Grün vorbereitet, v. 20.09.2013.
- Wolfgang Kaden: Wider die ökonomische Vernunft, v. 20.09.2013.

Blog der NRW-SPD:
- Christian Soeder: Die Currywurst, v. 23.04.2012.

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