von Ulrich Siebgeber

Es ist schon ein seltsames Gewese um dieses Ding, Bevölkerungspyramide genannt, das die Statistiker in die Köpfe der Leute praktiziert haben und das nun, koste es, was es wolle, dort seinen Schabernack treibt. Diese Pyramide ›spiegelt‹ nicht den hierarchischen Aufbau der Gesellschaft – die gibt es auch –, sondern den sogenannten Altersaufbau: was unten nachwächst, wächst, wie man annimmt oder annehmen sollte, dem Tode entgegen, nimmt also stetig, was immer das heißen soll, ab.

Ist der Sockel breit, nennt der wissenschaftliche Volksmund das eine Bevölkerungsexplosion, wird er schmal, schmäler, noch schmäler, nun, so haben wir, was immer das heißen soll, über kurz oder lang ein Problem. Aus der Pyramide wird ein Pilz, gruselig anzuschauen, ein offenbarer Giftpilz, bei dem ein lang und länger – und dünner, nicht dümmer – werdender Stengel von Nachwachsenden einen langsam, sehr langsam schrumpfenden Schirm aus ›älteren Mitbürgern‹ trägt. Hier kommt dann auch die magische Proportion ins Spiel, das berüchtigte 1:1 – beileibe kein Unentschieden, sondern die von ökonomisch denkenden Zeitgenossen weithin als unannehmbar empfundene Niederlage in einem noch keineswegs an dieser Gemütsgrenze endenden Heimspiel. Für jene, denen die Formel immer wieder neu zu sein scheint, sei es gesagt: sie bedeutet, dass ›in absehbarer Zukunft‹ 1 arbeitendes Glied der Gesellschaft 1 nicht mehr arbeitendes – und in der Regel auch nicht mehr arbeitsfähiges – zu finanzieren hat.

Das Giftgewächs kennen alle und sollte es sich hier und da nicht herumgesprochen haben, dass es existiert, so darf man diese Kreise getrost vergessen, denn sie sind nicht (ganz) bei Trost. Für das Herumsprechen sorgen alle paar Jahre wieder Bücher, die eine kurze, heftige Saison genießen, um rasch vom Tisch der Aufmerksamkeit zu verschwinden. Es sind, mit Verlaub, seltsame Bücher, deren Botschaft sich zügiger ausbreitet als ihr Inhalt, der daher auch den meisten unbekannt bleibt. Man erfährt aus ihnen, dass ›wir‹ uns ändern müssen, dass es aber nichts nützen wird, weil die Fakten nun einmal sind, wie sie sind. Also müssen andere sich ändern – in der Regel die Nachwachsenden, die jene seltsame Welt bevölkern werden, die sie sind oder zumindest darstellen, nach dem Motto: Seid bitte nicht so egoman wie wir, sonst bekommt ihr das, was wir so gut beherrschen, Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Staat, nicht mehr hin. Die Windelpopulation nimmt dergleichen zur Kenntnis, sie erhebt sich durch das Gewäsch ihrer Erzieher zur Reife eigener Anschauung wie jede vor ihr, was sollte sie sonst. Da, wie man weiß, eher die Alten noch hier und da ein gutes Buch in die Hand nehmen, gilt der Appell selbstredend auch ihnen – seid nicht so alt, wie ihr seid, lautet hier die Parole, seid einfach jung, das werdet ihr, in der Reife eurer Tage, doch hinbekommen. Und die Alten lächeln und schmunzeln und sind schon wieder jung, sie wissen, wie man das macht und schonen sich, Viagra-gestärkt, wo sie nur können, ehe das Heim und die Spritze sich ihrer erbarmen, auf dass sie immerdar jung bleiben.

Die giftige Frucht bleibt und sie will genossen werden. Sie drängt sich nicht auf, sie hat Zeit, nicht alle Zeit, sondern ihre, von der, wie gesagt, die Statistiken reden, die aber nicht, jedenfalls nicht unbedingt, die Lebenszeit derer ist, die sich über sie beugen, so dicht, dass sie sie nicht mehr fixieren können, sondern zwanghaft anderes in den Blick nehmen, um überhaupt mitzureden. Dieser Redezwang bei existierendem Zugzwang hat etwas Erheiterndes, er erinnert ans Volkstheater, auch wenn die, die da reden, vor lauter Repräsentanz nicht mehr laufen können, es sei denn, die peinlich berührte Institution, die sie repräsentieren, setzt sie schleunigst, vielleicht auch ein wenig überhastet, in die Freiheit des Andersdenkenden, die bekanntlich heilig ist. Ein Land, dessen Bevölkerung sich aus eigenem Antrieb nicht länger ausreichend reproduziert, ist, wie alle wissen, ein Einwanderungsland, es erwartet mit einer gewissen Hartnäckigkeit, dass die Einwanderung sein Problem löst. Nein, stop, es erwartet, dass die Einwanderer es lösen. Es nennt sie bei dieser Gelegenheit, damit sie ihre historische Sendung auch völlig begreifen, ›Migranten‹, als befänden wir uns wieder im Mittelalter und müssten schon Latein reden, um uns verständlich zu machen. Die Zuwanderer bleiben derweil, was immer sie waren, sie beten und arbeiten, wenn sie nicht arbeitslos sind, manche beten auch nicht, das geht niemanden etwas an, andere schlagen sich mit Göttern und Gören herum, die sie nicht mehr verstehen. Gören schlagen sich mit anderen Gören herum, die sie teils verstehen, teils missverstehen, teils nicht verstehen wollen. Auch diese werden erwachsen und setzen Gören in die Welt, die... das Prekariat... die Hartz IV-Falle... die Militanz... das jüdisch-christliche Herkommen... Ist das jetzt eine gesellschaftliche Diskussion? Aber sicher.

Nein, die Einwanderer lösen das Problem nicht, zahlenmäßig nicht und mental nicht und auch wirtschaftlich nicht, das sich die Bevölkerung da eingebrockt hat, und sie werden es auch dann nicht lösen, wenn man die Integrationsbudgets aufstockt und ansonsten auf alles einprügelt, was nicht fließend die Landessprache beherrscht. Dieses Einprügeln hat nur den Effekt, dass die Zugewanderten sich ihrer negativen Rolle in der Gesellschaft stärker bewusst werden – als Angstmacher, als Angstableiter, hier und da, wenn die Phantasie sich weit vorwagt, als künftige Herren des Geschehens und, wer weiß, des Landes oder einzelner seiner Teile. Währenddessen wächst der Pilz, seine Form verschiebt sich unaufhaltsam weiter ins Groteske, das ›Konfliktpotential‹ nimmt also zu, es kann gar nicht anders, es würde auch dann nicht haltmachen, wenn die Ingenieursbüros mit smarten Typen aus aller Herren Länder überbesetzt wären, es macht überhaupt nicht halt, es betrifft die Migration gar nicht, es sei denn als Sündenbock, es schiebt sie nur vor sich her. Denn, mit Verlaub gesagt, Schulklassen mit ›überwiegendem Migrantenanteil‹ wären überwiegend leer, wenn die Migrantenkinder nicht drin säßen. Es ist diese Leere in den Klassenzimmern, die den Pilzbeschauern und -kauern zu schaffen macht und der sie mit einer gewissen Leere in den Köpfen und Argumenten zu begegnen versuchen. Der militante Islam? Voilà, der Feind. Aber, ehrlich gesagt, die Leere bleibt. Sie wächst sogar: Weh dem, der Leeren birgt. Auch das – nur ein falsches Zitat mehr. Ohren, um ein Wort hineinzulegen, gibt es viele. Man weiß nicht genau, was mit Worten geschah, die einmal in Ohren lagen und dann daraus, jedenfalls bei oberflächlicher Sicht, verschwunden sind. Dieses Wort wird noch eine Weile darin liegen bleiben: der Pilz.

 

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