18.05.2020

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Kollege Michael Kretschmer,

öffentliche Kritik bekommt man frei Haus, Zuspruch ist dagegen meist Fehlanzeige. Sie wissen das, ich weiß das. Deshalb schreibe ich ihnen und möchte, dass es bekannt wird.

Sie scheinen ein Grundverständnis von Politik zu besitzen, welches ohne die Kommunikation zwischen auf Zeit Regierenden und ihrem Souverän nicht auskommt. Selbst wenn der Souverän seine Beziehung zum Staat infrage oder gar einstellt, muss der Staat, das sind in dem Fall auch Sie als Ministerpräsident, die Kommunikation selbst unter erschwerten Bedingungen suchen. Geschieht das nicht, kann das Gemeinwesen einpacken. Es delegitimiert sich sozusagen selbst.

Ich freue mich, dass Sie Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Kommunikation zwischen auf Zeit Gewählten und Wahlvolk durch ihr Verhalten öffentlich bezeugen. Das machen längst nicht alle ihre Kolleginnen und Kollegen. Ob aus Angst, die Diskussion nicht bestehen zu können oder aus Überheblichkeit, wer weiß das so genau. Schlecht ist es in jedem Fall.

Nie darf einem Demokraten so etwas wie ›Man sollte ihnen keine Träne nachweinen‹ herausrutschen, wie es der Diktator Honecker am 1. Oktober 1989 formulierte! Ein anderer Souverän steht ersatzweise nicht zur Verfügung.

Ich kenne Sie seit vielen Jahren und habe ihr Engagement, ihr Dranbleiben über unsere Parteigrenzen hinweg, ich bin nach dreißig Jahren wieder Sozialdemokrat ohne Parteibuch, immer geschätzt. Auch ihre offenkundige emotionale Verwurzelung in der ostdeutschen Freiheitsbewegung spürte ich immer. Bleiben Sie bitte bei diesen Qualitäten und lassen Sie sich nicht verfremden. Authentizität wird langfristig honoriert. Sie geben zu Hoffnung Anlass. Bitte enttäuschen Sie diese nicht.

Der konkrete Hintergrund meines Briefes ist ihre jüngste Diskussion mit vielen Kritikern der Corona-Restriktionen. Ähnlich wie Sigmar Gabriel, der im Januar 2015 in der Landeszentrale für Politische Bildung in Dresden das Zuhören in einer Pegida-Diskussionsveranstaltung nicht scheute, gingen Sie am letzten Wochenende ebenfalls wie selbstverständlich unter die Leute. Hut ab!

Sigmar Gabriel tat das damals im Wissen kommender so fundamentaler wie falscher Kritik. Er tat es dennoch. Das war gut und richtig. Innerhalb Pegida war das Staunen groß und eine eiserne Front erodierte. Sigmar Gabriel hatte damals den Schlüssel in der Hand, zumindest viele Pegida-Anhänger mit dem Gemeinwesen wieder in Kommunikation zu bringen. Heiko Maas, Ralph Stegner und die SPD-Generalsekretärin Fahimi schlugen es ihm im gemeinsamen Konzert mit den großen Medien der Republik, die alles, nur nicht die Probleme der Leute kannten, wieder aus der Hand – eine vertane Chance. Der Rest ist schlechte Geschichte. Nach dem Pegida-Aufschwung kamen der AfD- und auf der Gegenseite der Antifa-Aufschwung. Beide Aufschwünge sind ohne den 2013er SPD-Parteitagsbeschluss über den sinnfreien und die Bevölkerung bis heute spaltenden ›Kampf gegen rechts‹ unter Einbeziehung der Linksaußenpartei nicht denkbar. Gegen rechts (und gegen links) ist realiter nur mit guter Standortpolitik zu kämpfen. Das Niederschreien von Folgen, deren Ursachen man selbst trickreich legte, ist erbärmlich und wirkt kontraproduktiv. Das Wahlvolk ist nicht verpflichtet, falscher Politik zu folgen.

Leider werden durch diese schieflagige Politik beide Aufschwünge bundesweit ebenso schieflagig betrachtet und behandelt. Was wiederum die Stimmung im Lande aufheizt.

Auch das Wissen um diese Zusammenhänge setze ich bei ihnen voraus. Am Beispiel Angelika Barbe ist das aktuell gut zu diskutieren. Wäre sie mit Antifa-Parolen und mit Steinen bewaffnet durch Berlin (liegt nicht in Sachsen und damit nicht in ihrem Mitverantwortungsbereich) gezogen – statt gewaltsamen Abführens wären ihr öffentliche Blumen zugedacht worden. So stand sie aber für Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht regierungskritisch ohne Steinbewaffnung und wurde auf eine Art, die an Ostberlin 1989 erinnert, aus dem Verkehr gezogen.

Die DDR war eine Diktatur, die Bundesrepublik ist eine Demokratie, was auch die vielen Demonstrationen im Lande täglich beweisen. Doch was mit Angelika Barbe geschah, das gereicht unserem Gemeinwesen nicht zur Ehre. Ich nehme an, Frau Barbe wäre das in Sachsen nicht passiert. Was auch mit ihnen persönlich zu tun haben könnte.

Beachtlich, weil untypisch für viele im Moment tonangebenden Politiker und Informationsschaffenden, sind ihre differenzierten Aussagen zu den Demonstranten gegen die Corona-Restriktionen. Sie wissen noch wie das mit dem Framing über die beginnenden Montagsdemonstrationen 1989 war, auch wenn das in einer Diktatur organisiert war und stattfand.

Unabhängig vom politischen System, Diffamieren und damit Zersetzen sind beliebte Mittel in der Auseinandersetzung mit Protesten. Damals waren wir alle Faschisten und Konterrevolutionäre, heute sind alle Wirrköpfe, Verschwörer, Rechte, eigentlich Gesindel, was regierungskurskritisch auftritt. Das kann und darf nicht sein!

Damals gab es noch westliche Massenmedien, die nicht nur auf die im Riesenpulk mitdemonstrierenden wenigen rechten und linken Außenseiter schauten, sondern der breiten Masse Bild, Ton und Schrift gaben. Heute ist das anders. Die Außenseiter werden medial herausgegriffen, um die Masse der ›normalen‹ Bürger zu diffamieren und dadurch abzuschrecken. Sie wissen es wie ich, diesen Rubikon haben wir hinter längst uns.

Jede Großdiffamierung wird zu noch mehr Großdemonstrationen führen. Das beabsichtigte Beschränken von Demonstrantenzahlen wird weder funktionieren noch ist es mit dem Grundgesetz kompatibel. Das Grundgesetz ist die Verfassung aller Deutschen und nicht jedes Zehnten, Hundertsten oder Tausendsten. Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht werden nicht nach Wohlgefallen zugeteilt! Das ist hoffentlich noch Allgemeingut.

Was hat es nun mit den Demonstrationen auf sich? Viele Menschen im Lande brauchen inzwischen keinen Anlass zum Demonstrieren mehr. Die Corona-Restriktionen sind für viele Leute nur noch der Tropfen auf dem schon länger gut gefüllten Fass. Seit dem Seebeben vor Fukushima und der damit begründeten einsamen Atomkraftwerksabschaltungsentscheidung mit der Folge von horriblen Energiekosten sowie der 2015er Einzelentscheidung der Bundeskanzlerin pro Völkereinwanderung schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen der Republik massiv. Es ist wie ein Strudel. Frau Merkel setzt regelmäßig ihre Moral über die Regeln des demokratischen Rechtsstaates und die sie kontrollierenden Abgeordneten tun nicht, was ihre selbstverständliche Pflicht ist: Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung in die Schranken weisen.

Das merken die Menschen und wenden sich temporär oder endgültig ab. Hinzu kommen so absurde Dinge wie der Kampf gegen den Automobil-, Energie- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Auch ohne Corona war der Glücksfall in der Deutschen Geschichte, die Bundesrepublik Deutschland, wirtschaftlich durch eine nihilistische Politik in schweres Fahrwasser geraten. Der Lockdown in seinen Folgen vermag das für Menschen mit schlechtem Gedächtnis vielleicht zu überdecken. Die Masse der Leute wird es nicht vergessen. Wer und was die Hauptschuld an der kommenden Misere trägt. Corona hat alles nur schwerer gemacht, ›erfunden‹ hat das der Virus nicht.

Der Virus ist so existent wie die selbstverschuldete instabile Situation der Republik. Ich wünsche mir, ihnen zutrauen zu können, unserem Land wieder bessere Zeiten bringen zu können. Falls Sie nicht allein auf weitem Feld sind. So sieht es manchmal leider aus.

Lieber Michael Kretschmer, bleiben Sie anständig und authentisch am Ball! Das Fass läuft gerade über und ›Jeder bringt das nächste Mal noch Einen mit‹. Zusammen bleiben wir alle nur, wenn das Bemühen um Zusammenhalt auf vielen Seiten spürbar ist.

Das halbe Volk ist weder blöd, noch verschwörerisch. Aber es ist in der Stimmung, auf die Straße zu gehen. Und das nicht nur im Osten der Republik. So viele ostdeutsche Verschwörer kann es gar nicht geben, die regelmäßig nach Stuttgart, München, Köln, Hamburg usw. spazieren gehen. Das müssen dort irgendwie einheimische Verschwörer sein.

Mit ihrem offenem Politikansatz können Sie sogar auch an diesem Punkt zum Zusammenwachsen von West und Ost beitragen. Sie spielen die Ängste vor Ansteckung nicht gegen die Existenzängste aus und wissen um die Gefährdungen unter den Bedingungen sozialer Isolation. Mir gefällt das.

Mit besten Grüßen
Gunter Weißgerber
Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990
Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009

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