von Michael Milutin Nickl

Wilfried Scharnagl: Am Abgrund: Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland. Mit einem Vorwort von Michail Gorbatschow. München/Berlin (Keyser-Verlag) 2015, 183 Seiten.

Christian Wipperfürth: Die Ukraine im westlich-russischen Spannungsfeld. Die Krise, der Krieg und die Aussichten. [WIFIS aktuell Bd.51], Leverkusen (Verlag Barbara Budrich) 2015, 73 Seiten.

Zwei kompetente wie prominente, streckenweise unzeitgemäß ausgewogen argumentierende, überwiegend akzeptabel recherchierte, wohlfundierte Betrachtungen zum Spannungsareal von Russischer Föderation und philorussischen Dominanzansprüchen, Krim-Frage und russischer Realpolitik, zentralistischer Ukraine und deren Destabilisierungsrisiko, sowie dem phasenweise aufflammenden Sezessionskrieg im Südosten der Ukraine, wurden im Mai 2015 von Wilfried Scharnagl und Christian Wipperfürth vorgelegt.

Das polyfunktionale Rollenspiel von USA, Nato und deren Einflussexpansion seit dem Zerfall der Sowjetunion sind eingearbeitet. Diplomatische und finanzielle Initiativen der EU sind sporadisch aspektiert. Beide Autoren sind erfahrene politische Publizisten. Beide setzen die Klaviatur ihrer politischen Rhetorik gut rezipierbar und verantwortungsvoll in Szene, ohne bloß elegant auf den traktierten Konflikten herumzusurfen. Beide Arbeiten sind sicherlich kritikwürdig. Beide sind mit Western Education und westlicher Rhetorik durchkomponiert. Beide denken im Wesentlichen territorialstaatlich, wie US-Politiker. Bleibt die Frage, wieviel realpolitische Protektion brauchen Volksgruppennationen?

Auf dem Scharnagl-Buch prangt keine apokalyptisch anmutende Abgrund-Abyssos-Anspielung auf die biblische Mythologie oder die Offenbarung des Johannes. Zwei Fahnen – die deutsche und die russische – wehen über dem Titel Am Abgrund. Im Untertitel plädiert Scharnagls ›Streitschrift‹ affektneutral ›für einen anderen Umgang mit Russland‹. Nichts deutet in Wilfried Scharnagls Buch auf eine Privatoffenbarung ›am Abgrund‹ hin. Trotz aller Kritik an politischen Akteuren und Großmächten, auch an ausgewählten Personen der Münchner Sicherheitskonferenz 2015, bleibt der Tenor von Scharnagls Streitschrift eher affirmativ, konstruktiv und keineswegs doktrinär. Scharnagls Buch wurde zweimal vorgestellt, erst in Berlin, dann in Moskau. Beide Male zusammen mit dem maßgeblichen Strategen von Willy Brandts Ostpolitik, Egon Bahr. Good Timing: vier Wochen nach seinem Moskauer Auftritt verstarb Egon Bahr. Zuerst wurde im Berliner Hotel Adlon auf Scharnagls Buch aufmerksam gemacht. Parteiübergreifend, nicht exklusiv im CSU-Design, z.B. mit Matthias Platzeck (SPD, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums) und gebührend moderiert von Ulrich Deppendorf. Zwei Monate später, 21. Juli 2015 im Moskauer Baltschug Kempinski Hotel u.a. mit Antje Vollmer (Grüne), Peter Gauweiler (CSU), Matthias Platzeck, Egon Bahr und Michail Sergejewitsch Gorbatschow, dem letzten Generalsekretär der KPdSU 1985/91 und letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion 1990/91. Dieses Mal stärker von internationalem Interesse begleitet als vorher in Berlin. Bahrs Moskauer Statement findet sich im Wortlaut auf Gauweilers Homepage (www.peter-gauweiler.de/pdf/2015-rede-egon-bahr.pdf).

Ein Streiflicht aus Bahrs Moskauer Statement: ›George Bush, der weise Ältere, erklärte nach dem Ende des Kalten Krieges: Russland muss sich nach seinen Traditionen entwickeln. Ich füge hinzu: Demokratie gehört nicht dazu. Russland wird allein bestimmen, welche Schritte es zur Demokratie geht. Es wird eine Demokratie à la russe sein. Was kann der Westen anbieten? Die monarchistischen Modelle in London oder Tokio oder die erfolgreichste Einparteienherrschaft in Singapur? Ich habe auch noch keine Erwägung gehört, Sanktionen gegen China oder Saudi-Arabien zu verhängen, weil sie unseren demokratischen Vorstellungen nicht entsprechen.‹

Aufhorchen lässt auch das in Moll intonierte Vier-Seiten-Vorwort von Michail Gorbatschow. Abgesehen vom Credo zur Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen und seiner einmal mehr wiederholten Warnung vor der Prädominanz ›westlicher Standards‹ bei der Beurteilung politischer Probleme in postsowjetischen Konfliktarealen akzentuiert er bei dieser Gelegenheit etwas Neues:

 Die Funktion der »nicht-traditionellen Methoden in einer nicht-traditionellen veränderten Umgebung«. Betrifft nicht nur die russische oder seine Politik zur deutschen Frage (S.7) oder die Legitimitätsfrage von Sanktionen gegen Russland. Gemeint sein könnten politische Destabilisierungs- und Delegalisierungsstrategien, Cyber-Strategien, Remote Operations und diverse Sicherheitspräventionen, Interventionen in verschiedene Daseinsbereiche, Derangierung oppositioneller Strömungen oder Generierung (bezahlter) Claqueure, ethnonationale Säuberungen, Vertreibungen, Zwangsmigrationen mit Entrechtung ganzer Volksgruppen, territorialnationale Homogenisierung (z.B. Russifizierung, Ukrainisierung), verschärfte zeitgenössische Inquisitionsmethoden (Enhanced Interrogation Techniques), Pervertierung von Hilfsorganisationen und NGOs, Sensibilisierung und Solidarisierung von Medieneliten, multimediagestützte Drohkulissen, aber auch konkrete ›schnelle Eingreiftruppen‹ und verschieden deklarierte, militärische oder zivil eingekleidete Sondereinheiten. Darüberhinaus zählt wohl ebenso der überraschende, unerwartete, unzureichend vorbereitete, existentiell riskante persönliche Einsatz repräsentativer oder charismatisch-politischer Akteure mit zum Datenkranz nicht-traditioneller Methoden. Eine beachtliche Modulationsbreite als Ergänzung zum vertrauten Inventar tradierter, wohltemperierter Methoden politischen Agierens. All dies setzt eine pessimistische russische Rahmenvorstellung von ›Macht‹ und Machtsicherungsdynamik in einer paradox konstituierten Welt samt einer riesigen Palette von bizarren Handlungsoptionen voraus. In diesem Framing situiert handelt es sich um die komprimierteste, perspektivenreichste und wohl weitreichendste Bemerkung in Michail Gorbatschows Vorwort zum Scharnagl-Buch (datiert Moskau im Mai 2015).

 Mit traditioneller diplomatischer Höflichkeit knüpft Gorbatschow an den filmreif inszenierten Besuch des Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und dessen Delegation in Moskau 1987 an. Für die seinerzeitige poröse Sowjetführung war es eine willkommene Abwechslung. Politische Schlitzohren aus dem Freistaat Bayern im Moskauer Kreml, das bedeutete u.a. einen originären Unterhaltungswert.

»Bei einem festlichen Abendessen im Kreml« ergänzte Franz Josef Strauß »mit der ihm eigenen bilderreichen Sprache, dass die Zeit kommen müsse, in der der russische Bär und der bayerische Löwe gemeinsam und friedlich auf einer Wiese äsen könnten«(Scharnagl, S.25). Dass sich große politische Raubtiere in irgendeiner Zukunft ungefährlich, gesittet, friedlich, märchenhaft menschenscheu und verträglich benehmen, glauben die Großkopfeten am allerwenigsten. Gorbatoschow, Strauß und Scharnagl hatten damals ausreichend Erfahrung mit hypostasierten und dogmatisierten Methoden von Parteikohorten, Politbeamten und Funktionärskasten, die von ihrer jeweiligen Eigendynamik her dazu tendieren, flexible, nicht-traditionelle Auswegstrategien und Problemlösungen möglichst schon in statu nascendi abzuwürgen. Andererseits ist nicht zu bagatellisieren, dass ›nicht-traditionellen Methoden in einer nicht-traditionellen veränderten Umgebung‹ eine rational kaum kalkulierbare, mehrwertige Logik und ›free logic‹ implizieren, die nicht nur nicht widerspruchsfrei zu bekommen ist, sondern nüchtern betrachtet sehr artefaktanfällig erscheint und gegebenenfalls verhängnisvolle Fehlschlüsse provozieren kann. Bei Problemlösungsversuchen reputabler politischer Akteure auf der Basis von ›nicht-traditionellen Methoden in nicht-traditionell veränderter Umgebung‹ erhöht sich das Risikopotenzial und hängt unverhältnismäßig stark vom gegenseitig unterstellten Vertrauenskredit sowie der Sachkompetenz und Vertrauenswürdigkeit der entscheidungsrelevanten Politakteure und von zahlreichen nicht-kontrollierbaren Faktoren ab. Bereits die umständehalber erzwungene Landung am 27. Dezember 1987 auf verschneiter und vereister Piste mit der von Strauß mitgesteuerten Cessna-Citation-II auf dem zuvor wetterbedingt geschlossenen Moskauer Flughafen Scheremetjewo hätte komplett desaströs enden können. Aus dem einmalig und unwiederholbar gelungenen Event, aus diesem zeitgeschichtlich geglückten ›post hoc‹ lässt sich kein generelles ›proper-hoc‹-Plädoyer für eine nicht-traditionelle politische Methodenlehre herleiten.

Zweieinhalb Jahre nachdem Gorbatschow zum KPdSU-Generalsekretär und Vorsitzenden des Verteidigungsrats der UdSSR avancierte, durfte der damalige Bayernkurier-Chefredakteur Scharnagl im Privatjet des Bayerischen Ministerpräsidenten Strauß mit nach Moskau fliegen. Eine Synopse dieser Story ist im Hauptstadtbrief 129 gemäß Scharnagls Buch (Seiten 13-22) im Netz greifbar: www.derhauptstadtbrief.de/cms/index.php/component/content/article/108-der-hauptstadtbrief-129/801-politische-annaeherung-im-kalten-moskauer-winter

Scharnagl war als ›FJS-Intimus‹ Ende 1987 in Moskau selber dabeigewesen und nicht nur als Adabei, sondern als effektiver CSU-Multiplikator. Dieses leitmotivische, dennoch auffallend moderat zu Papier gebrachte und rezeptiv mitreißende erste Kapitel hat Reportage-Charakter. Die folgenden Kapitel in Scharnagls Buch sind Explikationen, Erwägungen, Features, Konkretisierungen, Reflexionen, auch mal ›Amerikanische Irrwege‹, Aperçus und Problematisierungen z.B. der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 (S.123-137) mit gepfefferter Nuland-Kritik (S.126-128) samt Victoria Nulands enthemmten Fuck-the-EU-Dilettantismus (S.127), »Sanktions«-Irrwege (S.139-154) und einer abschließenden Skizze zum »Ausweg aus der Krise: Sanktionen beenden, Krim-Status akzeptieren, Ukraine föderalistisch ordnen« (S.155-172). Derlei klare, unverklausulierte, von Scharnagl konstruktiv intendierte Meinungsangebote und Schlussfolgerungen mit eindringlich formulierten, relativ knappen Begründungsgängen, die ja nicht zuletzt eine ehrliche, realpolitisch informierte Diskussion quer durch die bei uns vorhandene, manchmal cachierte, parteipolitische Lager-Mentalität vom Zaun brechen wollen, sucht man im derzeitigen, geradezu einfältig wirkenden Ukraine-Meinungsspektrum des Bayernkuriers, dessen Chefredakteur Wilfried Scharnagl von 1977 bis 2001 gewesen war, leider vergeblich. Im Zusammenhang mit Ukraine-Politik, Sezessionsbestrebungen in der Südost-Ukraine, Krim-Referendum und Krim-Zuordnung und der strittigen Rolle Russlands, sowie angesichts gewisser Destabilisierungstendenzen der als Zentralstaat verfassten Ukraine (in dieser Form uneinpassbar in die EU; Art.5 EUV) stößt man im Bayernkurier seit geraumer Zeit auf einen Mischmasch aus westlichem Verlautbarungsjournalismus, fehlender Gegenrecherche und einer Prise von NATO-Oberbefehlshaber-Attitüde. Dem CSU-Flaggschiff Bayernkurier wäre zu wünschen, dass es den Mut zum komplementären Meinungspluralismus und zur Libertas Bavariae durch dieses Buch seines vormaligen Chefredakteurs wiederfindet.

Aus dem programmatischen Klappentext und Vorwort von Scharnagls Buch (S.12): »Als am 31. August 1994 die letzten russischen Truppen Deutschland verließen und Tausende von Soldaten zu einer Abschiedsparade im Treptower Park in Berlin angetreten waren, sangen sie ein Lied, das ein russischer Oberst eigens zu diesem Anlass getextet und komponiert hatte. ›Deutschland, wir reichen dir die Hand‹ hieß es darin und ›wir bleiben Freunde allezeit‹. Der neue Horizont, der sich damals für die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, zwischen Europa und Russland und auch zwischen den USA und Russland greifbar und glaubhaft auftat, ist zwanzig Jahre später in gefährliches Dunkel gehüllt. Zur notwendigen Aufhellung und zur Sicherung des gefährdeten Friedens bedarf es auch im Westen einer Änderung der Politik im Ukraine-Konflikt: Weg von der antirussischen Einseitigkeit, zurück zu den Chancen und Möglichkeiten, die es in der Zeit der Wende Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab… Für eine solche Politik will dieses Buch werben.« Scharnagls Opus liest sich vergnüglich und erfrischend kurzweilig. Es enthält ein hilfreiches Personenregister (S.175-179) und ein Literaturverzeichnis beigezogener Monografien (S.181-183) mit dreißig Titeln, drei davon, ein Zehntel englischsprachig. Immerhin.

Christian Wipperfürth resümiert seine Recherchen über »die Ukraine im westlich-russischen Spannungsfeld« gedrängt auf 63 Seiten, gefolgt von 116 Literaturbelegen, gut fünfzig davon englischsprachige. Eine vertrauenswürdige russische Quelle ist eingearbeitet, Levada, ein NGO-Umfragenforschungs- und Statistik-Zentrum. Zudem ist eine finnische Online-Publikation, Yle, mit dabei. Wer daran gewöhnt ist, Editionen auf ihr verwendetes Instrumentarium innerhalb der westlichen Kartographie und Verlautbarungswelt zu durchforsten, wird bei Wipperfürth auch angloamerikanisch-transatlantisch gut bedient. Ukraine-Russland-Spannungsfeld-Szenarios sind nicht mit taktvoll präsentierten Infos, Items und Meinungsangeboten eines Duty-free Shops zu vergleichen oder gar zu verwechseln. Es kommt bei jedem Vermittlungsschritt auf die Plausibilität unverklausulierter Erkenntnisinteressen, Perspektiven und besonders auf die Quellenauswahl an. Es geht um nichts Widerspruchsfreies. Doch damit muss wohl jeder Autor ukraine- und russlandbezogen rechnen. Erinnert sei an The Ukraine, Corrupted Journalism, and the Atlanticist Faith von Karel van Wolferen, 14.8.2014 im UNZ Review
(www.unz.com/article/the-ukraine-corrupted-journalism-and-the-atlanticist-faith
deutschsprachige PDF-Version auf den sogenannten Nachdenkseiten www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/20140814_van%20Wolferen_TheUkraine_de.pdf).

Beide Versionen sind nicht erwähnt in Wipperfürths Ukraine-Buch. Dafür wird Euromaidanpress.com zwar miterwähnt, ein Hinweis auf Anna Wendlands Ein Jahr Ukraine-Russland-Krise wäre passend zu ergänzen: de.euromaidanpress.com/2015/01/29/anna-veronika-wendland-ein-jahr-ukraine-russland-krise.

Noch detaillierter die investigative Hintergrundberichterstattung und aufwändige Quellenrecherche von Gabriele Wolff: Ukraine – quo vadis?, 20.6. und 17.8. 2014 in wordpress.com. Auch handwerklich-journalistisch sauber gemacht; gilt ebenso für ihre stückchenweise veröffentlichten, am 28. Sept. 2014 einsetzenden MH-17-Informationskrieg- und Rechercheberichte, die übrigens auch diverse Elaborate das einflussreichen Netzwerks www.bellingcat.com kritisch einbeziehen.

Die Kriteriologie, die Wipperfürths Quellenauswahl zugrunde liegt, ist im vorliegenden Ukraine-Buch nicht leicht erkennbar. FAZ-online und Financial Times sind dabei, der Guardian nicht. Beispiel: Who exactly is governing Ukraine? von Harriet Salem, Guardian, 4. März 2014. Ein ausführliches quellenkritisches Statement hätte Wipperfürths Ukraine-Buch erheblich profiliert, nicht nur um das beigezogene Material je nach Quellengattungen kritisch zu klassifizieren und zu bewerten, sondern auch um die präferierte synthetisierende Methode zu reflektieren, die sich fast ausschließlich auf Datencluster, Nachrichten, Berichte, angefeatured Meldungen und ausschlaggebende Argumentationen westlicher Provenienz stützt. Wie aber sollen westliche Medien an zuverlässige Datenquellen, Nachrichten und sachreferenziell zutreffende Kommentierungen in der Südost-Ukraine gelangen? Das Dilemma zeigt sich besonders an der Informationskrieg-Berichterstattung zum MH-17-Abschuss, einem Passagierflugzeug der Malaysian Airlines, am 17. 7. 2014 über von Rebellen bzw. Separatisten kontrolliertem Gebiet: 298 Tote, davon 80 Kinder. Fachleute vermuten, die russische Radarstation in Rostow am Don müsste abschussrelevante, empirisch klassifizierbare und interpretationsfähige Daten haben. Falls nicht, wär das nicht minder interessant. Für Wipperfürths sondierende Darstellung spricht, dass er die letztendliche Schuldzuweisung für den Abschuss jenes zivilen Malaysischen Passagierflugzeugs offen lässt: »Ein Abschuss durch überforderte Rebellen ist wahrscheinlicher als durch die Ukraine, aber keineswegs sicher« (S.46).

Darstellungstechnisch ist Wipperfürths Arbeit ausreichend mit gut ausgewählten Schaubildern und Statistik-Tabellen angereichert (secondary research). Das Buch hat Feature-Charakter. Meinungsangebote und Sachverhalte werden gemäß den ausgewählten Perspektiven arrangiert, umsichtig und übersichtlich, streckenweise bisweilen staubtrocken dargestellt. Eine gediegene Fleißarbeit. Ein seriöser Publizist braucht eben viel Zeit, um die eine und die andere Seite zu hören, angemessen aufzuarbeiten und behutsam zu interpretieren. Die zeitgeschichtliche Herleitung der Ukraine-Russland-Krise, der Sezessionskrieg im Südosten der Ukraine und deren Weiterentwicklungsoptionen, dies analysiert Wipperfürth bis zur Eskalation im Herbst 2014: Seine Arbeit beinhaltet einen moderaten, angewandt-wissenschaftlichen Darstellungsanspruch, der aus westlicher Sicht zufriedenstellend erfüllt wird.

Damit soll nicht insinuiert werden, dass die bevorzugten westlichen Interpretationen oder das Argumentieren dafür womöglich unbegründet, illegitim oder unzulässig wären. Der Eindruck, dass man sich bei Wipperfürths »Einschätzung und Ausblick« (S.57 ff.) im Kreis dreht, liegt am desolaten Entwicklungsstadium dieses westlich-russischen Spannungsfelds. Wipperfürth spricht von einer »Sackgasse«, in die sich »Russland und der Westen« (USA/Großbritannien/EU/NATO) hineinmanövriert haben. Der Rezensent kann keine bessere Deutung anbieten.

Abgesehen von der kaum umgehbar selektiven Quellenauswahl ergreift Wipperfürth nur wenige Male offen und explizit Partei, z.B. in seinem Ausblick (S.59-61). Die meist nur partiell einsehbaren Ambitionen unterschiedlicher Ukraine-Akteure und Repräsentanten mit teils divergierenden bis komplementären Interessen erläutert er im Hinblick auf einzelne Lager-Bildungen, soweit sich ausschlaggebende Tendenzen für den westlichen Beobachter abzeichnen. Auch vorschnelle Fehleinschätzungen auf den beteiligten Seiten macht er verständlich nachvollziehbar. Ähnlich wie Scharnagl kritisiert Wipperfürth, dass die Russische Föderation trotz des Drängens der Ukraine selber sowie der Bundesrepublik Deutschland nicht in die Gespräche über das EU-Assoziierungsabkommen mit eingebunden worden ist. Deutschland habe sich gegenüber seinen EU-Partnern bekanntlich nicht durchsetzen können (oder wollen).

Die Kontroverspublizistik um die mutmaßliche Mitverantwortung der damaligen Janukowitsch-Regierung für die Toten des Maidan bei den ›Euromaidan protests‹ und der vedächtigten, dann massiv beschuldigten, später aufgelösten Spezialeinheit ›Berkut‹ spielte 2014 im innerukrainischen wie internationalen Propaganda-Krieg eine Rolle. Schade, dass Christian Wipperfürth The untold story of the Maidan massacre von Gabriel Gatehouse (BBC-News, 12. Feb. 2015) nicht mehr berücksichtigen konnte, auch nicht im Literaturverzeichnis. Auf Seite 23 schreibt er: »Der Konflikt spitzte sich im Spätwinter zu und es gab Tote«, woran sich bekannte, mediendramaturgisch repräsentativ inszenierte, verurteilende Zitate von Vitali Klitschko, dem schwedischen Außenminister Carl Bildt und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk anschließen. Das erscheint nicht suffizient. Sogar die Deutschen Wirtschafts Nachrichten titelten BBC enthüllt: Opposition in Schüsse von Maidan-Massaker verwickelt (13. 2. 2015). Wenn Wipperfürth lediglich den Trendreport in der russischen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta (www.rg.ru/2015/02/12/bbc-site.html von Владислав Воробьев: »Кто начал стрелять на майдане год назад«) – als zu einseitig Putin-freundlich – cool übergangen hätte, ähnlich wie die Sputnik News zu diesem Thema: de.sputniknews.com/politik/20150213/301101975.html, 13.2.2015, das wäre wohl zu verschmerzen gewesen, aber all diese erwähnten Beiträge sind gut ein Vierteljahr vor Wipperfürths Buch erschienen.

Das Vorgehen Russlands auf der Krim kritisiert Christian Wipperfürth einmal als »völkerrechtswidrig«, sodann nachdrücklich fragend als »Annexion« (S.27). Trotz des überwältigenden Referendums in der Autonomen Krim-Republik vom 16. März 2014. Wie steht es um das hochrangig einzuschätzende Selbstbestimmungsrecht? (S.26). Wipperfürth geht auf die Auffassung Präsident Putins ein und argumentiert, dies sei »aber keine hinreichende Rechtfertigung für Russlands Vorgehen«. Zudem erwähnt er die Zustimmung Michail Gorbatschows und selbstverständlich auch die weithin einhellige Zustimmung der Bevölkerung in der Russischen Föderation. Andererseits kritisiert Wipperfürth (S.27) die »radikalen ukrainischen Nationalisten« auf der ukrainischen Seite, die den Krim-Konflikt verschärft haben.

Wie erwähnt, endet die Beschreibung der Ukraine im westlich-russischen Spannungsfeld in Wipperfürths Buch im Herbst 2014. Allerdings formuliert er einen Ausblick, worin er sich auf vier Punkte festlegt:

1. Die soziale und wirtschaftliche Lage ist angespannt bis katastrophal.

2. Russland und der Westen haben sich durch die Eskalationspolitik in eine Sackgasse manövriert.

3. Der Westen unterschätzt die Ziele sowie die Entschlossenheit Russlands und der Rebellen.

4. Russland ist in der Lage, eine Konsolidierung der Ukraine zu verhindern.

Überdies folgt ein kurzes Nachwort auf Seite 63. Darin heißt es abschließend: »Der Westen und Russland haben sich in ein Nullsummenspiel verstrickt, in dem die Ukraine vollends zu zerbrechen droht. Derzeit werden neue Strukturen für Jahrzehnte geschaffen. Die Lage in Europa wäre … 2014 nicht so eskaliert, wenn der Westen der auf Interessenausgleich gerichteten deutschen Haltung gefolgt wäre.« Was der bundesdeutschen Außenpolitik und ihrem Hauptrepräsentanten verdientermaßen schmeichelt. Aber was besagt Interessen-Ausgleich konkret im russisch-ukrainischen Konflikt-Areal?

Fragen wir abschließend, ob beide Autoren, Scharnagl wie Wipperfürth, nicht doch eine Kernfrage unangemessen umgangen haben. Wenn wir den ukrainisch-russischen Konflikt und das westlich-russische Spannungsfeld von einem plurikulturellen Blickwinkel aus betrachten, stellt sich die Frage nach dem Wie der rechtlichen und tatsächlichen Etablierung von Volksgruppen-Nationen. Die Russische Föderation ist ein Gebilde mit über hundert Volksgruppensprachen mit Russisch als Lingua franca bzw. Transfersprache, aber eben nicht exklusiv als singulärer Amtssprache. Parallel dazu wird in den autonomen Republiken häufig die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet. Und dieser Sprachen-Usus wird im Bildungswesen, Hörfunk, Fernsehen und in der Kulturpolitik medienübergreifend gefördert. Konträr dazu die Situation in der Ukraine, wo Russisch erst seit 2012 in neun Regionen wieder eine regionale Amtssprache, nach wie vor aber nicht dem Ukrainischen gleichgestellt ist. Russisch dürfte eventuell in dreizehn der siebenundzwanzig ukrainischen Verwaltungseinheiten regionale Amtssprache werden, auch in der Hauptstadt Kiew. Latente bis offen nationalistische Ressentiments (nicht nur beim Rechten Sektor) existieren in der Nordwest- und Zentral-Ukraine gegenüber Russisch bei nicht-russisch geprägten Ethnien, die Russisch despektierlich als Hegemonialsprache der ehemaligen sowjetischen Suprematie betrachten. In diesen Gebieten der Ukraine wird Englisch (American English, Business English) die Funktion von Russisch künftig wohl komplett ersetzen. Begonnen hat dieser Trend schon in den 1990ern. Doch erst während der Regierung Juschtschenko wurde Russisch massiv zurückgedrängt. Die ethnisch-russischen und russischsprechenden ukrainischen Volksgruppen leben in etlichen Arealen des ukrainischen Zentralstaats als gesellschafts- und staatspolitisch graduell mehr oder weniger derangierte, in ihren Menschen- und Bürgerrechten differenziert ›schlechtweggekommene‹ Volksgruppen. Vorher ausgleichend und nicht-nationalstaatlich fungierende, im Nachhinein jedoch nationalstaatlich-repressiv umfunktionierte Administrationsgrenzen zwischen Russland und der Ukraine sind zu nationalstaatlichen Territorialgrenzen transmutiert, durch ethnisch-russische und primär russisch sprechenden Volksgruppen hindurch.

In diesem Zusammenhang sei nochmals auf Gorbatschows Vorwort zum Scharnagl-Buch zurückgegriffen, worin er einmal mehr an die in der Mitte der 1980er Jahre ›angestoßene‹ Perestroika- und Glasnost-Politik anknüpft. Im Westen hymnologisiert, innerhalb der KPdSU umkämpft: Glasnost (гласность, etwa: mehr und mehr Offenheit, Transparenz, Publizität, Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit) und Perestroika (перестройка, etwa: gesellschaftspolitische Umgestaltung, auch administrativ-institutionelle, staatlich initiierte Umstrukturierung). Nach Jegor Kusmitsch Ligatschow, dem anfänglichen Reformmitstreiter Gorbatschows und späteren, 1990 abgewählten Kritiker Gorbatschows, brachte der Druck nationaler und separatistischer Kräfte die Perestroika-Politik zum Kollabieren. Den dritten Reform-Problemkreis bildeten die in der westlichen Hemisphäre meist ignorierten Bemühungen zur Reformpolitik in der Nationalitätenfrage der vielen Volksgruppennationen innerhalb der seinerzeitigen UdSSR. Ligatschow nutzte vor dem ZK-Plenum 1989 die Debatte über eine neue Nationalitätenpolitik der KPdSU zur generellen Kritik an den nach seinem Missverständnis ›liberalen‹, de facto freilich mafiös-mafiesken Kräften: z.B. Parteifunktionäre, die gierig erpicht auf maximale persönliche Bereicherung waren, die ›pro-kapitalistischen‹ Kräfte. Vor zehn Jahren legte er nochmals nach: »…Jetzt sind sie doch alle Dollarmillionäre und viele sogar Dollarmilliardäre. Das trifft sowohl auf Nasarbajew als auch auf Gorbatschow, Jelzin, Karimow, Nijasow, Schewardnadse und andere zu. Sie alle besitzen ein gewaltiges Vermögen. Dafür sind die Völker eines großen Landes zu Opfern ihrer Politik geworden.« (zit. nach Wiki: Urteil eines Insiders. Ligatschow blickt zurück. In: RotFuchs, 6/2005, S.7). An dieser Konklusion hängt leider viel Zutreffendes dran.

Das Volksgruppennationen-Problem wurde beim Zerfall der UdSSR durch die Kreation neuer Nationalterritorialstaaten beiseite geschoben, verlagert, weder angemessen angegangen noch gelöst. Es bleibt ein Relikt des postsowjetischen Risiko-Kapitals. Hinsichtlich des ukrainisch-russischen Konflikts und bezogen auf das westlich-russische Spannungsfeld ist die Offenheit der Russischen Frage in der Ukraine als Volksgruppen-Frage virulent. Das Fehlen de facto durchgreifender, kulturnational durchsetzbarer Volksgruppenrechte für einzelne Volksgruppen erweist sich als Sprengsatz, nicht nur in der Ukraine. Und die gewaltsame Herstellung ethnisch homogener Staatsnationen ist den Volksgruppen-Realitäten nicht nur in der Ukraine entgegengesetzt. Konkrete Frage: Welche realpolitisch durchsetzungsfähige und interethnisch konsensfähige oder zumindest tolerable Protektion brauchen ethnisch-russische und russischsprachige Volksgruppen in der Ukraine? Abgesehen vom Ruf nach bürokratisch institutionalisierter Föderalisierung im Einklang mit der EU-Vertrags-Architektur bei Scharnagl und der Dezentralisierungsforderung, notiert in den »Auswegen aus der Spirale von Gewalt und Sanktionen« (in Wipperfürths Globkult-Beitrag Die Ukraine, der Westen und Russland, 25. 8. 2014) findet sich in beiden Büchern keine transnational-volksgruppenpolitische Antwort. Desideratum bleibt eine staatsnationenübergreifende, zwischenstaatliche Regulierung von Volksgruppenfragen und Volksgruppenrechten, nicht nur von Minderheitenrechten, woraus sich vielleicht ein neuer Volksgruppen-Avantgardismus in Osteuropa entwickeln könnte.

 

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