Vortrag bei der Veranstaltung zum Theodor Kramer-Preis im Adalbert-Stifter-Haus, Linz, 17. September 2015
»Unjüdische Juden« ist, oder war zumindest erst einmal, ein Schimpfwort. Es wurde von den Hütern der jüdischen Gesetze benutzt, um Menschen zu bezeichnen, die ihnen nicht jüdisch genug waren. Im 19. Jahrhundert waren Mitglieder der Reformgemeinden für die Orthodoxen unjüdische Juden, in der Weimarer Republik sprach man von Juden ohne Judentum. »Unjüdisch« waren all jene Juden, die sich an die Kultur ihrer Umgebung, sei sie deutsch, österreichisch oder russisch-sozialistisch, angepasst hatten, Juden die gar nicht oder nur die berühmten drei Tage in die Synagoge gingen (es gibt dafür den Ausdruck Drei-Tages-Juden), die sich als Rechtsanwälte, Bankangestellte oder Akademiker solange der deutschen Kultur zugehörig fühlten, bis sie von ihren Nachbarn, Vorgesetzten, Untergebenen und Kollegen rausgeschmissen und bespuckt wurden.
von Ulrich Siebgeber
Als die hohe Frau
von ihrem Stuhl herabstieg,
begegnete sie
dem Zeichen des Halbmonds.
Auf ihre erstaunte Frage,
worum es sich dabei handle,
ergriff ein kleiner Dicker das Wort
und belehrte sie feixend,
es bedeute ›Der Weg‹.
von Daniela Gretz
Ernst Heinrich Bottenbergs siebter Gedichtband kehlungen.ent-kehlungen fügt sich nahtlos in das bisherige literarische Œuvre des emeritierten Sozialpsychologen ein, das nicht zuletzt von dessen wissenschaftlicher Vor- bzw. Verbildung entscheidend geprägt wird. Zunächst einmal wirken Bottenbergs Grenzgänge zwischen Literatur und Wissenschaft irritierend und es bleibt letztlich schwer zu entscheiden, ob es sich nun bei den vorliegenden »Text-Chimären« (so der Untertitel) um die späten spielerischen Ausgeburten einer déformation professionnelle handelt oder doch um die emphatische Wiedergeburt der Lyrik aus dem Geist der Wissenschaft.
Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G