II. Der Weg in eine andere Moderne
China is the elephant in the room that no one is quite willing to recognize
Martin Jacques
1. Leitkultur – Anspruch und Wirklichkeit
Wenn bei Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, plötzlich ein Integrationsproblem entdeckt und dieses auf deren Glauben heruntergebrochen wird, der mit der »christlich-jüdischen Leitkultur« nicht zu vereinbaren sei, dann steht dahinter unausgesprochen dieselbe Frage, die auch Samuel P. Huntington seinen Landsleuten angesichts einer sich langfristig von den »white anglo-saxon-protestants« hin zu katholischen Mittel- und Südamerikanern sowie Asiaten verschiebenden demographischen Gewichtung gestellt hat: »Who are we?« Die bislang einzige weithin akzeptierte deutsche Antwort darauf, zusammengefasst in der zirrhotischen Formel »Grundgesetz geht vor Scharia!« zeigt, wenn überhaupt etwas, dann nur, wie brüchig das bundesdeutsche Selbstverständnis auch nach sechzig Jahren immer noch ist. Schaut man sich die innerdeutschen Kontroversen der letzten fünfzehn, zwanzig Jahre an, dann könnte man mit Leichtigkeit ein gutes Dutzend Varianten der Parole bilden, die alle so viel oder wenig aussagen würden, wie die aktuell über die Massenmedien hyperventilierte. Beispiele gefällig? – »Grundgesetz geht vor Parteibuch«, »Grundgesetz geht vor Sicherheit«, »Grundgesetz geht vor Vertragstreue«, »Grundgesetz geht vor Zivilrecht«, »Grundgesetz geht vor Selbstentfaltung«, »Grundgesetz geht vor Solidarität« … Die Reihe mag jeder nach Gusto selbst vervollständigen. Der Zahl der Gesetze eingedenk, die in den zurückliegenden Jahren vom Verfassungsgericht kassiert worden sind, könnte man sie allesamt in der Superparole »Grundgesetz geht vor Politik« zusammenfassen. Damit wäre die Absurdität der politischen Freiübungen, die seit der Wiedervereinigung an diversen Schauplätzen vorexerziert worden sind, vollständig auf den Punkt gebracht. Ob dieses Gebaren der Idee einer staatlichen ›Schicksals- und Wertegemeinschaft‹, die unartikuliert hinter der Angstvokabel »Parallelgesellschaften« lauert, förderlich ist, sollten sich all jene selbst beantworten, für die der »Gang nach Karlsruhe« schon beinahe so selbstverständlich geworden ist wie der Gang ins Parlament, sei es, dass eine Mehrheitsentscheidung nicht so ausgefallen ist, wie sie sich das wünschen, oder dass sie, ideologische Hartleibigkeit mit ordnungspolitischer Prinzipientreue verwechselnd, ihre gesellschaftspolitischen Abbruch- und Umbauphantasien auf Biegen und Brechen durchsetzen wollen. Hektischer Reformwut auf der einen korrespondiert patzige Unduldsamkeit auf der anderen Seite – was vor allem eines zeigt: Die Gesellschaft befindet sich nicht in Auf- oder Umbruch, sondern laboriert an einem fortschreitenden Mangel an Gemeinsinn, der sich wie ein Krebsgeschwür durch alle ihre Glieder frisst. Einstweilen läuft der »Standort Deutschland« noch wie eine computergesteuerte Fabrik im automatischen Modus, doch was geschieht, sollten die effizienzgesteigerten Abläufe irgendwann ernsthaft dysfunktional werden (was bis jetzt nur als statistische Projektion im öffentlichen Raum steht), möchte man sich lieber nicht ausmalen. Die Protagonisten dieser Entwicklung mögen sich bitte einmal die Frage stellen, was für eine Art Leitbild man den zurückhaltenden bis vorsichtig geneigten Integrationsaspiranten damit vorlebt, bevor sie darauf bestehen, ihnen Bekenntnisse abzuverlangen, die bislang von keinem gefordert worden sind, der auch nur einen einzigen ›deutschblütigen‹ Vorfahren in seinem Stammbaum nachweisen konnte, geschweige denn von jenen Alteingesessenen, die ihr Geld lieber in dubiosen Liechtensteiner Stiftungen oder anonymen Schweizer Banktresoren horten, als damit in Deutschland neue Arbeitsplätze zu schaffen, und die jeden unvermeidbaren Steuereuro nicht etwa als gerechten Beitrag zum Gemeinwesen verstehen, sondern als Investition, die sich gefälligst für sie persönlich auszuzahlen habe.
Vor diesem Hintergrund ist die »christlich-jüdische Leitkultur« kaum mehr als ein Alibi, mit dem sich der Status quo allenfalls noch eine Weile verteidigen lässt. Den zivilisatorischen Herausforderungen, vor denen wir in den kommenden zwanzig bis fünfzig Jahren voraussichtlich stehen werden, wird dieses, Integrationskurse hin, Hauruck-Reden her, sowenig standhalten wie einst das Gottesgnadentum dem Ansturm der Pariser Bürger. Anders als damals, muss heute zwar niemand akute Furcht vor der Guillotine haben; vorbereitet sollte man aber trotzdem sein. Man kann seinen Kopf nämlich auch durch bloße Angst verlieren.
2. Teure Selbstverständlichkeiten – und ihre kurze Geschichte
Bis 1989 waren wir es gewohnt, die Welt in westlichen Begriffen zu denken. Das Nationalstaatsprinzip, wie es sich aus den dynastischen und Glaubenskämpfen Europas im 17. Jahrhundert herauskristallisiert und im Westfälischen Frieden von 1648 das Vorbild für ein bis heute gültiges System internationaler Beziehungen gefunden hat, wurde im Zuge der Dekolonisation seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Schablone für die bis dahin von den Kolonialmächten abhängigen Völker – also für die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung. Die nach damaligen machtpolitischen Präferenzen erfolgte willkürliche Grenzziehung sorgt noch heute in etlichen Teilen der Welt für blutige Konflikte bis hin zum Völkermord.
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die kulturellen Zwiste vom übergreifenden Ost-West-Antagonismus eher zugedeckt als beseitigt. Dass sie nicht frühzeitig wahrgenommen wurden, ist vor allem auf den universalistischen Anspruch des europäischen Modernebegriffs zurückzuführen, der, wie gesagt, auch vom kommunistischen Osten geteilt wurde. Wie sehr der Ausbruch der ethnisch und religiös motivierten Auseinandersetzungen – selbst auf dem europäischen Kontinent – nach 1989 die westlichen Politiker und Intellektuellen überrascht hat, zeigen die hilflosen Reaktionen auf die Balkankrise. Nur durch das – wiederum machtpolitisch motivierte – Engagement der USA konnte diese einigermaßen eingedämmt werden. Als Folge wurde das politische Ansehen der EU wie auch der UNO nachhaltig geschwächt. Die anschließende Periode des US-amerikanischen Unilateralismus bezog ihre Legitimation wiederum aus der Prämisse, der demokratische Nationalstaat westlicher Prägung sei quasi das ›natürliche‹ Ziel und Ende des Zivilisationsprozesses. Diese Annahme ist nicht nur institutionell in den internationalen Organisationen und Gremien wie der UNO, der Welthandelsorganisation oder den G8 verankert, sondern sie steckt – unreflektiert – auch in Termini wie »Entwicklungsland« oder »Schwellenland«, mit denen die aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Staaten der sogenannten »Dritten Welt« (auch dies ein solcher Terminus) nach wie vor bedacht werden.
Paradigma für die »Entwicklung« eines Landes ist die industrielle Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien eingesetzt hat. Ökonomisch ist damit der Übergang von der agrarischen Subsistenzwirtschaft zur kapitalistischen Überschussproduktion gemeint. Für die Bevölkerung bedeutet es, dass ein Großteil der Menschen, die zuvor in kleinen Gemeinden lebten und mit manueller Arbeit in der Landwirtschaft oder Handwerksbetrieben beschäftigt waren, nun mehrheitlich in den Ballungszentren versammelt sind, wo sie einer Lohnarbeit in einem vom Wohnsitz getrennten Betrieb nachgehen. Haben sie zuvor den Hauptteil dessen, was sie zum Leben benötigen, selbst angebaut und hergestellt, so müssen sie nun alles auf dem Markt kaufen. Von Anfang an hat diese epochale Transformation zwei grundlegende Probleme aufgeworfen, für die bis heute keine allgemeingültigen (d. h. konfliktfreien) Lösungen gefunden worden sind: Das erste betrifft die angemessene Höhe der Löhne, das zweite die Frage nach den Abnehmern der Überschussproduktion. Ersteres wurde bis in die Hochphase der kapitalistischen Entwicklung Europas hinein anhand der ›wissenschaftlichen‹ Bestimmung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft zu beantworten versucht (woran man schon sehen kann, dass das wechselseitige Begründungsverhältnis von demokratischer Freiheit und Marktwirtschaft keineswegs so eindeutig ist, wie heute ständig behauptet wird).
Das zweite Problem berührt direkt das Verhältnis zwischen den klassischen Industrieländern und ihren Kolonien bzw. den daraus hervorgegangenen Entwicklungsländern und hier insbesondere den beiden bevölkerungsreichsten: Indien und China. Bevor nämlich mit dem Aufstieg der USA als Industrienation die Arbeiter selbst als Käufer der von ihnen hergestellten Waren entdeckt wurden, lieferten die britischen Industriellen ihre Produkte, in der Hauptsache maschinell hergestellte Tuche, nach Indien und machten auf diese Weise dem dort hoch entwickelten Handwerk Konkurrenz. Auch wenn die Aussage von Marx, Ghandi und anderen, die britischen Exporte hätten dem indischen Tuchgewerbe vollständig den Garaus gemacht, in dieser Radikalität wohl nicht haltbar ist, wurde der Subkontinent durch begleitende administrative Maßnahmen mehr oder weniger auf die Rolle des abhängigen Rohstofflieferanten reduziert: Die britische East India Company (der, wenn man so will, erste globalisierte Konzern der Welt) übernahm ab dem 18. Jahrhundert nach und nach die Verwaltung der regionalen Fürstentümer, legte Zölle fest und trieb Steuern ein.
Mit dem Reich der Mitte sollte diese Strategie zunächst nicht aufgehen. Seit frühester Zeit war Europa an chinesischen Waren interessiert. Vor allem Seide und Porzellan wurden, zuerst auf der legendären Seidenstraße, später dann auf dem Seeweg, in die »Alte Welt« transportiert. Im 17. Jahrhundert kam noch der Tee hinzu. Dieser Handel war überaus defizitär für Europa. Nur durch die Ausbeutung der Silberbergwerke in den südamerikanischen Kolonien konnte er so lange aufrechterhalten werden.
Ab den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts sannen die Briten auf Abhilfe. In stark wachsendem Umfang (vgl. Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 451) boten sie das in Indien gewonnene Opium in Kanton (Guangzhou), dem einzigen Hafen, der ihnen offenstand, im Tausch gegen Silber an, für das sie dann Tee für die heimischen Märkte kaufen konnten. Schon bald wurde der Opiumhandel an freie Kapitäne vergeben, während der Teehandel zunächst in der Hand der East India Company verblieb. Als der chinesische Kaiser Daoguang schließlich den Opiumhandel verbot und seinen eigens dafür entsandten Beamten Lin Zexu rigoros gegen die Händler vorgehen ließ, überredeten die mächtigsten unter ihnen mit einer gut gefüllten Kriegskasse die britische Krone zu militärischem Eingreifen. Der erste Opiumkrieg (1839-42) führte zur Öffnung von fünf Häfen für den Freihandel und zur Abtretung Hongkongs an Großbritannien – und leitete den Niedergang des chinesischen Kaiserreichs ein.
Auf der britischen Seite, das wird beim Nacherzählen dieser Geschichte, wenn überhaupt, eher beiläufig abgehandelt, stärkte dieser gewaltsame Schritt die Position der Freihändler gegenüber der East India Company, die in der Folgezeit all ihre Schiffe verkaufte und zur reinen Verwaltungsgesellschaft für Indien mutierte, bevor eine Meuterei der von ihr rekrutierten einheimischen Soldaten, der sogenannte Sepoy-Aufstand, im Jahre 1857 die britische Krone veranlasste, die Herrschaft direkt zu übernehmen. Die East India Company wurde aufgelöst, während aus den, nun in Hongkong ansässigen, Opiumhändlern mächtige Handelsgesellschaften wurden, die, wie etwa Jardine Matheson & Co., teilweise bis zum heutigen Tage noch existieren (Jardine Matheson Holdings, heute mit offiziellem Sitz auf den Bermudas).
Es ist die Geschichte der letzten 200 Jahre, die ihren langen Schatten bis in die Gegenwart hinein wirft und zu großen Teilen das Bild bestimmt, das viele in den sogenannten »entwickelten Ländern« vom »Rest der Welt« haben. Der Aufbruch Europas in diese Weltordnung, gut 300 Jahre zuvor, war dagegen noch von ganz anderen Bildern und Geschichten motiviert. Christoph Columbus und die ihm nachfolgenden Seefahrer, die sich auf den Weg machten, einen Seeweg nach Indien zu erkunden, wurden von den durch frühere Kulturkontakte vermittelten Nachrichten über die märchenhaften Reichtümer des »Orients« angezogen. Die Anerkennung der fernöstlichen Kulturvölker schwand erst nach der endgültigen Loslösung der Vereinigten Staaten vom britischen Mutterland im frühen 19. Jahrhundert, wie Wolfgang Reinhard in seinem Buch Geschichte der europäischen Expansion (Stuttgart 1988, 4 Bde.) ausführt: »Europa vergaß seine Bewunderung für die Inder und Chinesen und hielt die Kulturvölker des Ostens hinfort für inferior und korrupt.« (Bd. 3, S. 9.) Dieses Vorurteil hat sich so tief in die Gemüter der Europäer eingegraben, dass der rasche Aufstieg Japans im Zuge der Reformen der Meiji-Epoche lange Zeit als große Ausnahme gehandelt und die Japaner eher dem Westen als der asiatischen Welt zugeordnet wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Land von den USA eine demokratische Verfassung diktiert bekam, um in den folgenden dreißig Jahren zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen, hat sich diese Meinung noch verfestigt. Dass sie zu großen Teilen eher westlichem Wunschdenken als der politischen Realität entspringt, beginnt sich erst jetzt, mit dem Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht mit Weltgeltung, allmählich zu zeigen.
3. Nationalstaats- und Zivilisationsstaatsprinzip – zwei unterschiedliche Konzepte mit Universalitätsanspruch
Der britische Autor und Columnist Martin Jacques hat mit seinem Buch When China Rules the World. The Rise of the Middle Kingdom and the End of the Western World (London 2009) eine profunde Studie über die zu erwartenden wirtschaftlichen, geopolitischen und kulturellen Einflüsse der sich in Asien abzeichnenden Entwicklung vorgelegt. Seine langjährigen Erfahrungen als Journalist und Dozent an verschiedenen Universitäten im asiatischen Raum haben ihn dazu gebracht, den Gedanken, dass »Modernisierung« mit »Verwestlichung« gleichzusetzen sei, in Frage zu stellen. Vielmehr sieht er ein Zeitalter kommen, in dem kulturelle Unterschiede zu mehreren miteinander in Wettstreit stehenden Ausprägungen von Modernität führen werden: »[…] we are witnessing the birth of a world of multiple and competing modernities.« (S. 11.) Als »klassisches Beispiel« dient ihm die Entwicklung Japans: »[…] Japan remains, notwithstanding the fact that it is at least as advanced as the West, very different from its Western counterparts in a myriad of the most basic ways, including the nature of social relations, the modus operandi of institutions, the character of the family, the role of the state and the manner in which power is exercised. By no stretch of the imagination can Japanese modernity be described as similar to, let alone synonymous with, that of the United States or Europe.« (S. 111.)
Den wichtigsten Unterschied sieht Jacques darin, welche Rolle die Menschen dem Staat zuerkennen. In Europa hat sich, ausgehend von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Revolution, die Auffassung von der Notwendigkeit einer Machtbalance zwischen den entgegengesetzten Polen Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft herausgebildet. Nur in politischen Ausnahmesituationen wie Kriegen oder Krisen versammelt sich das Staatsvolk hinter seiner Führung, um gemeinsam gegen einen äußeren Feind vorzugehen.
Den größten Teil seiner Geschichte war das Nebeneinander von Völkern und Nationen in Europa von Rivalitäten und Auseinandersetzungen bestimmt. Wie oben dargestellt, hat die koloniale Expansion das Nationalstaatsprinzip in teilweise sehr willkürlicher und gewaltsamer Manier auf den Rest der Welt übertragen. Die Nationalstaatsbildung, wie sie sich außerhalb Europas zuerst bei den Siedlerkolonien in Nord- und Südamerika sowie Australien und Neuseeland abgespielt hat, ist dabei zum integralen Bestandteil des Verständnisses von Modernisierung geworden.
Unter diesem Blickwinkel müsste das Reich der Mitte wegen seiner Ausdehnung und der auf seinem Territorium versammelten Diversität an Völkerschaften eher als Imperium denn als Nationalstaat angesehen werden. Allerdings wäre ein Vergleich mit den verflossenen Imperien der vorderasiatischen, mediterranen und europäischen Welt ziemlich irreführend, wie Jacques ausführt. Dagegen sprächen nicht nur die lange Dauer der Existenz Chinas in seiner heutigen Gestalt und der Umstand, dass Han-Chinesen (sogenannte »ethnische Chinesen«) die bei weitem überwiegende Bevölkerungsmehrheit darstellen. Wichtiger als ethnische Zugehörigkeit (dieser Aspekt gewann – abgesehen von den Diskriminierungen der Chinesen durch die mongolischen Eroberer im 13. Jahrhundert – erst im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung, als mehr und mehr europäische Mächte und schließlich Japan das geschwächte China bedrängten; vgl. Jacques, S. 243 f.) oder historische Gebietsansprüche (die überwiegend im Zusammenhang mit den durch Bürgerkrieg und ausländische Okkupation verlorenen Territorien eine Rolle spielen) ist das Bewusstsein, einer besonderen Zivilisation anzugehören, die sich in den mehr als zweitausend Jahren ihrer Existenz (wenn man von der Einigung Chinas unter der Qin-Dynastie im Jahre 221 v. Chr. als herausragendem Datum ausgeht; die eigentlichen Wurzeln sind noch viel älter) als die Zivilisation schlechthin verstand. Sie beeinflusste benachbarte Länder wie Birma, Vietnam, Korea und Japan, und sie überstand Eroberungen durch fremde Völker wie Mongolen und Mandschu. Deren Herrscherdynastien, die Yuan bzw. Qing übernahmen das fortschrittliche Verwaltungssystem Chinas und, in Teilen, die Kultur.
Die zentralisierte Macht, die von den Qin etabliert wurde, lässt sich mit nichts vergleichen, was sich zu jener Zeit sonst irgendwo auf der Welt an Staatsideologie oder Herrschaftsordnung herausgebildet hat. Jacques Gernet beschreibt es in seinem universalgeschichtlichen Klassiker Die chinesische Welt so: »Das Gesetz ist vielmehr, als objektiver, öffentlicher und über allen stehender Begriff, der abweichende Auslegungen nicht zuläßt, das Instrument einer hierarchischen Einstufung der Individuen aufgrund eines allgemeinen Maßstabs von Würdigkeit und Unwürdigkeit, Verdienst und Verschulden. Gleichzeitig ist es das allmächtige Instrument, mit Hilfe dessen die einzelnen Aktivitäten in die für die Macht des Staates und den öffentlichen Frieden günstigste Richtung gelenkt werden können. Da es seinem Wesen nach eine Ordnung schaffen soll, kann es nicht mit der Natur der Dinge und der Menschen in Widerspruch stehen.« (S. 78 f.) Es handelt sich also um eine säkulare, hierarchische Ordnung mit universalem Anspruch. Anders als die europäische Ordnung, zu deren Begründung sich seit Rousseau die Fiktion vom »Gesellschaftsvertrag« eingebürgert hat, ist die chinesische demnach absolut (aber nicht notwendigerweise totalitär, denn das oberste Prinzip ist nicht ein bestimmender Wille, sondern die Harmonie aller Glieder). Im Westen hat sich für diese Ordnung der Begriff »Konfuzianismus« eingebürgert. Auch Martin Jacques verwendet ihn zur Beschreibung dessen, was er »the middle kingdom mentality« (Jacques 2009, S. 233-272) nennt, doch anders als Huntington sieht er die chinesische Zivilisation nicht als Block an, der in einem ideologischen Konfliktverhältnis zum Westen steht. Die Herausforderung, von der er spricht, entsteht einfach dadurch, dass China seinen eigenen Weg der Modernisierung geht, das adaptiert, was ihm nützlich erscheint und ablehnt, was die Ordnung stören oder die Einheit des Staates gefährden könnte. Die zahlreichen Fehleinschätzungen von Seiten des Westens seit der Öffnung des Landes sind für den Autor klare Indizien für das breite Missverständnis der chinesischen Zivilisation. So wurde etwa nach der Einführung der wirtschaftlichen Reformen erwartet, dass der Modernisierung der Öknonomie die Demokratisierung nach westlichem Muster folgen würde, nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 wurde über eine Destabilisierung des Staates analog jener der Sowjetunion spekuliert, und die Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik im Jahre 1997 war von der Furcht begleitet, dass über kurz oder lang das dortige politische und wirtschaftliche System der kommunistischen Ideologie geopfert werden würde. – Nichts von alldem ist eingetroffen. Stattdessen hat die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 den ökonomischen Aufstieg des Reiches der Mitte noch beschleunigt. Wenn sich heute der Westen von China einen signifikanten Beitrag zur Erholung der Weltwirtschaft erhofft, gleichzeitig aber dem Land und seiner politischen Führung die adäquate Anerkennung verweigert, dann weckt dies Erinnerungen an die Zeit der Demütigung des Kaiserreiches durch die westlichen Kolonialmächte. Unmotiviertes Festhalten des Westens am Vorurteil der eigenen Überlegenheit birgt so ein wesentlich größeres Konfliktpotential als alle kulturellen Unterschiede zusammengenommen.
Bereits heute sieht Jacques einen Wandel im Verhältnis zwischen der Volksrepublik und seinen südostasiatischen Nachbarn. Gerade die engsten Verbündeten der USA, Japan und Südkorea, beginnen sich wieder mehr an China auszurichten. Ähnliches, wenngleich in abgeschwächter Form, gilt auch für die Philippinen. Daher erscheint es ihm nicht ausgeschlossen, dass das Westfälische System souveräner Nationalstaaten, die sich auf internationalem Parkett als Gleiche begegnen, langfristig durch Elemente des alten Tributsystems abgelöst werden könnte. Vor dem Einfall der europäischen Kolonialmächte war das chinesische Kaiserreich das zivilisatorische Zentrum, an dem die umliegenden Staaten sich orientierten. Der jüngst bekannt gewordene Fall der Festnahme eines chinesischen Fischers durch japanische Küstenpatrouillen, dessen umgehende Freilassung von Beijing gefordert und auch erreicht wurde, erhält vor diesem Hintergrund eine ganz neue Bedeutung.
Allerdings läuft das, was Martin Jacques beschreibt, nicht einfach auf die Restauration älterer geschichtlicher Verhältnisse hinaus. China ist heute auch ein Nationalstaat unter anderen im internationalen Konzert, ein Staat mit eigenen Interessen, insbesondere was den Handel und die Versorgung mit Rohstoffen und zunehmend auch mit Nahrungsmitteln angeht. Die Globalisierung hat nicht nur einen fundamentalen Einfluss auf die Gewichtung der Machtverhältnisse, sondern auch auf die Mittel, sie durchzusetzen. Die USA verlassen sich als stärkste Militärmacht mit schwindendem ökonomischen Einfluss zunehmend auf ihre sogenannte »hard power«, um anderen Ländern ihren Willen aufzuzwingen und gegebenenfalls einen politischen Systemwechsel zu erzwingen. China verfolgt demgegenüber seit der Hochzeit des Kalten Krieges eine Politik der »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« anderer Staaten (eine Haltung, die seiner Führung den Ruf eingebracht hat, rücksichtslose Diktaturen wie die im Sudan und Zimbabwe zu unterstützen). Was aus einer moralischen Perspektive heraus fragwürdig sein mag, entspricht allerdings eher den völkerrechtlichen Gepflogenheiten als der vom Westen praktizierte gewaltsame »regime change«, der zudem, was die eingesetzten Mittel (und bisweilen auch die Ziele) angeht, ebenfalls moralisch fragwürdig ist.
Dem westlichen Sendungsbewusstsein steht die fernöstliche Geduld gegenüber. China kann sie sich zweifellos leisten. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten sprechen ebenso für das Reich der Mitte wie die Haltung seiner Bevölkerung gegenüber dem eigenen Land und seiner Führung. Während in Europa die Zustimmung der Menschen zu den eigenen Regierungen mehr und mehr schwindet, sehen die Chinesen ihre Lage trotz aller Defizite, die keineswegs geleugnet werden, überwiegend positiv und vertrauen ihrer Führung(vgl. Jacques S. 219 ff.). Das muss nicht so bleiben, aber momentan erscheint jedenfalls die behauptete Überlegenheit des Westens weniger begründet denn je.