von Ulrich Schödlbauer und Gunter Weißgerber

Die Möglichkeiten für Veränderungen und die daraus resultierende neue Ordnung sind jetzt unbegrenzt…
Klaus Schwab / Thierry Malleret, Covid-19: Der Große Umbruch (2020)

Lachen ist gesund. – Das ist im Prinzip richtig, aber in der Wirklichkeit … in Wirklichkeit will es, wie jeder weiß oder wissen sollte, damit nicht so recht fortgehen. Man kann ja regelrecht anecken, vorausgesetzt, man lässt sich einfallen, an der falschen Stelle zu lachen. Der Große Reset zum Beispiel – was gibt es da zu lachen? Nichts natürlich. Der Große Reset wird uns allen das Leben kosten, jedenfalls das bisherige, die Kanzlerin hat es bereits bemerkt und damit… Vergessen Sie Ihr Leben, jedenfalls für eine Weile, es gibt Spannenderes.

1.

Mitte letzten Jahres, als das Autorenduo Schwab / Malleret unter dem Titel The Great Reset den großen Umbruch skizzierte, gab es weltweit erst einen ›Lockdown‹ und die Folgen für die Menschen, im Büchlein minutiös zusammengetragen, waren bereits so prägend wie fürchterlich: Zusammenbruch der Wirtschaft in den ärmeren Ländern, deutliche Wohlstandsverluste im Speckgürtel des Planeten, mit Regierungskrediten und Buchungstricks auf den St. Nimmerleinstag verschoben, weltweit emporschnellende Raten bei Hunger, Krankheit, Selbstmord, ›psychischen Problemen‹ und Gewalt, häuslich wie auswärtig, – kein Szenario, für das sich das Wort ›Reset‹ geradezu anbieten würde, es sei denn, man verstünde darunter die Rückkehr zu den berühmten ›längst überwunden geglaubten‹ Zuständen, die einst das Unterfutter der sozialen Revolutionen bildeten.

Nein, Zyniker sind die beiden nicht. Sie sind … wie soll man es sagen? … schlicht – schlicht in der Sache, schlicht in der Sprache, schlicht im Denken und schlicht in den Folgerungen, verbunden mit einer Prise jener schlitzohrigen Naivität, ohne die man sich wohl nicht unter die Reichen und Mächtigen dieser Welt mischen und Vorschläge unterbreiten kann. Und natürlich kennen sie auch die Nutznießer sowohl der coronabedingten Menschheitspanik als auch der Maßnahmenkataloge, die von den Regierenden und ihren bürokratischen Helfershelfern ausgetüftelt und bis auf den heutigen Tag teils brachial durchgesetzt werden: Big Tech, Health Tech, Online-Handelsplattformen und die KI-Branche, wie weit man immer ihre Grenzen ziehen möchte. Es sind diese vier, auf die Ausgangssperren und social distancing wie eine Droge gewirkt haben und weiterhin wirken, während alles Gewerbe, das auf zwei Beine und Naherfahrung angewiesen ist, vor sich hinwelkt, soweit es nicht bereits das Zeitliche gesegnet hat.

Man hat es kaum nötig, Realist zu sein, um zu konstatieren, dass die Branchen und ihre Führer, die da auf dem Aktienmarkt und im Geschäftsbereich nach vorne geprescht sind, wohl auch in der überschaubaren Zukunft das Rennen machen werden: keine guten Zeiten für den personalintensiven Mittelstand, soweit er dem Verhängnis nicht durch hektische Automatisierung von Betriebsabläufen zu entrinnen vermag, keine guten Zeiten auch für das Hotel- und Gaststättengewerbe, soweit es nicht auf üppige Kapitalpolster zurückgreifen kann und von Muttergesellschaften zum Zweck der Umstrukturierung aufgefangen wird. Der Leser konnte sich das alles schon denken, bevor er das Buch aufschlug; andererseits ist es sicher verdienstvoll, die Trends und Daten zusammengetragen zu haben, auf dass sie in Ruhe vor sich hin schimmeln können.

2.

Wo in alledem steckt der Great Reset? Wer bei seinem Kaffeeautomaten die Reset-Taste drückt, der erwartet, dass die kluge Steuersoftware alle in mühsamer Arbeit ausgetüftelten Sondereinstellungen ›vergisst‹ und zu den Werkseinstellungen zurückkehrt, vielleicht, weil ein Besitzerwechsel bevorsteht, vielleicht, weil das Programm ein wenig durcheinander gekommen ist und nicht mehr einwandfrei funktioniert. Worauf soll man im Zeichen der Pandemie dieses Bild beziehen? Auf Hygiene, Gesundheitsvorsorge, Lebensart, Reichtumsverteilung, Soziales? Das klingt, als hätten die Leser (wie vor ihnen die Autoren) freie Wahl. Was, wie sie umgehend belehrt werden, nicht der Fall ist: Der Great Reset, wie ihn die Autoren beschreiben, fußt auf der Urkatastrophe der globalisierten Wirtschaft und damit des Globalismus als Lenkungsideologie der vergangenen Jahrzehnte. Und diese Katastrophe hat bereits stattgefunden: dank der abrupten Unterbrechung der weltweiten Liefer- und Produktionsketten und der jähen Börsenreaktion im Frühjahr 2020, die einem globalen Reichtumstausch gleichkam und, zumindest in ihren Auswirkungen, wohl noch immer andauert.

Was das staunende, von düsteren Ahnungen geplagte Publikum seither zur Kenntnis nimmt (oder auch nicht), ist also bereits Reaktion, in der Tat so etwas wie das Zurücksetzen eines Betriebssystems: die Kappung überlanger Transportwege, die Re-Regionalisierung von Produktion und Vertrieb, die Renationalisierung von Zöllen und Ressourcen, in Europa aufgehalten durch den stockenden Transnationalismus der EU, und über allem die wachsende Macht des Ordnungsstaates samt Wiederkehr des Staatsdirigismus bis hinein in die privatesten, um nicht zu sagen intimsten Lebensbereiche. Auf der Strecke bleibt die liberale Gesellschaft, die Freiheit des Einzelnen, sich nach Lust und Laune zu bewegen und zu konsumieren, sowie, düsterstes Kapitel, die Meinungs- und Gesinnungsfreiheit selbstbewusster Staatsbürger, deren Kulturtempel und Versammlungsorte von den öffentlichen Plätzen bis hin zum vertrauten Café in der Krise nach virologisch abgesicherter Lust und Laune von den Herrschenden zugesperrt werden: die Metapher der zu vermeidenden Ansteckung, hier wird sie mehr als vielsagend.

Das alles sehen die beiden, sie finden es weder gut noch schlecht, sie konstatieren, dass die Dinge nun einmal so liegen und sich nicht so rasch ändern werden. Wer ihnen daraus einen Vorwurf stricken möchte, der hat ihr Buch nicht verstanden. Der Vorschlag, den sie unterbreiten (und der die dramatische Aufnahme des Great Reset als Großem Gottseibeiuns seither bestimmt), entstammt dem Rückgang auf die fundamentale Fiktion der heutigen, von westlichen Begriffen geprägten Staatenwelt: den Gesellschaftsvertrag. Der Gesellschaftsvertrag, Philosophiehistoriker wissen das, ist eine theoretische Fiktion, einst ersonnen, um das komplizierte Geflecht von Rechten und Pflichten, von Freiheiten und Einschränkungen zwischen Regierung und Volk, Regierenden und Regierten auf einige wenige Prinzipien, am besten nur eines zurückzuführen und damit transparent zu machen. Warum? Weil damit die Aussicht wächst, dass nicht Willkür, sondern Einsicht die öffentlichen Handlungen leitet, weil jeder den Unterschied erkennen (und entsprechend bei Bedarf Einspruch erheben) kann.

3.

Auf einen simplen Nenner gebracht, sind Schwab und Malleret der Auffassung, dass die Menschheit inmitten des Corona-Desasters die Wahl habe, sich einem Wildwuchs der sich abzeichnenden oder bereits in vollem Gang befindlichen Trends auszuliefern, darunter die sich weiter öffnende Schere zwischen den Superreichen und den Massen, zwischen den wohlhabenden Staaten und einem am Rande des Zusammenbruchs dahinvegetierenden Staatenrest, vor allem aber einem von wenigen übermächtigen Interessen gelenkten, sich mit neuer, angstbasierter Autorität und weitgehenden Eingriffsrechten ausstaffierenden Staat, – oder den Gesellschaftsvertrag zu erneuern und damit die Chance zu wahren, einigen der genannten (sowie noch ungenannten) Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Auch ohne die entsprechenden Passagen gelesen zu haben, ahnt man, worauf die Alternative letztlich hinausläuft: auf die endlich anzugehende Herstellung einer gerechteren Welt- und Gesellschaftsordnung, in der die Differenzen zwischen Arm und Reich, zwischen Schwellenländern und entwickelten Gesellschaften zu schwinden beginnen, statt immer weiter auseinanderzulaufen.

Warum sollte gerade jetzt, im Zeichen des Rette-sich-wer-kann, eine Strategie der Gegensteuerung Erfolg haben können? Die Frage ist leicht beantwortet, aber damit keineswegs vom Tisch. Unter den Bedingungen einer akuten Pandemie wächst den Regierungen eine neue Steuerungsmacht zu, die ihnen, allein aufgrund der ökonomischen Verwerfungen, noch lange erhalten bleiben wird. Gleichzeitig steigt, wie bereits hier und da, vor allem in ärmeren Ländern, zu beobachten, der Druck der Straße. Beides zusammen könnte so etwas wie eine Nötigung zu vernünftigem, sprich: ausgleichendem Handeln ergeben, das neben den Interessen der ohnehin Mächtigen auch die der weniger Mächtigen und weniger Vermögenden in die zu erwartenden Prozesse einschleust.

Warum nicht? Die Autoren plädieren, nicht erst mit dieser Publikation, für die flächendeckende Ersetzung des nachgerade in Verruf geratenen ›Shareholder‹-Kapitalismus durch einen ›Stakeholder‹-Kapitalismus, der die Interessen aller essentiell an den Unternehmen und generell am Wirtschaftsleben Interessierten an die Stelle der einseitig verfolgten Kapital-Interessen hievt. Das klingt fürs erste gut, es erinnert an korporative Wirtschaftsformen, nicht zuletzt an die Rheinische Republik mit ihrem ausgefeilten Sozialstaatsmodell, das, niemals ganz aufgegeben, einerseits im Zuge von Globalisierung und Eurorettung kräftig durchlöchert, andererseits umweltpolitisch angereichert wurde. Es erinnert daran, dass die Kapitalseite längst die Vorteile erkannt hat, die darin liegen, dass sie Umwelt-Instituten unter die Arme greift und Gender-Pilot-Projekte in ihren Unternehmen startet, um von den engen Verzahnungen in der Gesundheitsindustrie, die soeben schlaglichtartig durch Covid-19 beleuchtet werden, erst gar nicht zu reden.

Die von Schwab / Malleret ausgewiesenen ökonomischen Gewinner der Pandemie-Bewältigung mit ihren riesigen Werbeetats und ihrem ausgeprägten Unwillen, angemessene Steuern in den jeweiligen Ländern zu entrichten, nützen die Vorteile progressiver Bewusstseinsarbeit im Marketingverbund seit längerem für sich aus und werden gewiss darin fortfahren, gleichgültig, wann die Krise gebannt sein wird. Soll der wiedererstarkte Staat ihnen zusätzliche Vorteile verschaffen, weil sie die progressiven Kredit-Vergabevorschriften und Förderbedingungen von Haus aus besser bedienen als die leidende Konkurrenz? Schlecht wäre es nicht, könnte er ihnen im Gegenzug ein paar Vorteile für seine schutzbedürftige Klientel abjagen, aus alter Anhänglichkeit gelegentlich noch ›Bevölkerung‹ genannt: bessere Arbeitsbedingungen, besseren Datenschutz und was dergleichen mehr zu bedenken wäre. Das mag glauben, wer will: in den entwickelten Ländern, deren Gesetzgebung nicht auf ›Corona‹ als den großen Impulsgeber gewartet hat, scheinen die Spielräume nach oben eher gering zu sein, und in den Ländern, in denen die ökonomische Krise erbarmungslos zuschlägt, dürften Macht und Einfluss des großen Geldes eher unverhältnismäßig gewachsen sein und weiter wachsen.

4.

Kommen wir zur dunklen Seite der Macht: dem zeitlich beschränkten und ins Unabsehbare prolongierten Abbau demokratischer Rechte, der empfindlichen Beschneidung ökonomischer und alltagsgängiger Spielräume bei allseits wuchernder Überwachungspraxis, dem alltäglichen Wahnsinn bürokratischer Verordnungen und ihrer Durchsetzung, die je länger je weniger der antrainierten Rationalitätsforderung westlicher Gesellschaften standhalten können: vorzügliche Instrumente, wie die Autoren meinen, um damit das Projekt der globalen Klimasteuerung anzugehen, das sich bisher so hartnäckig dem schöpferischen Zugriff der globalen politischen Eliten entzieht. Die Argumentation, die sie bei der Gelegenheit entfalten, hat für einige Aufregung gesorgt, daher sei sie hier im Einzelnen nachvollzogen.

Was haben Pandemie und Klimakrise gemeinsam? Richtig: Beide sind globale Phänomene und müssen auf einer globalen Ebene im Geist der transnationalen Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, den einschlägigen Welt- und Regionalorganisationen und den überall anzutreffenden Nichtregierungsorganisationen inklusive ihrer Geldgeber angegangen werden. Alles andere wäre schlicht kontraproduktiv und führt geradewegs in die Katastrophe. Wer also meint, die neue Verfügungsmacht der Staaten käme dem souveränen Bürger zugute, der sieht sich hier jäh auf dem Holzweg. Ganz das Gegenteil ist der Fall: die neue Macht der Staaten ist überall bereits transnational konsumiert und dient der Stärkung von Strukturen, die sich der Natur der Sache nach der Abstimmungsfreiheit der Bürger entziehen. Müßig wäre es, an dieser Stelle die längst etablierte Kritik an der Expertokratie zu wiederholen, weil der übergesetzliche, wenngleich hier und da gesetzlich gehegte Notstand alle Bedenken beiseite wischt: Nach Corona sehen wir uns wieder.

Weit gefehlt, denn: nach der Krise ist vor der Krise. Für die Theorie, das weiß jeder, ist das Unglück der Menschen ein Glücksfall. Denn es setzt, neben Erkenntnissen, auch immer Mechanismen frei, die in weniger belasteten Zeiten aus gutem Grund keine oder eine nur geringe Rolle spielen. Eines dieser Mittel ist die Kollektivangst, oft auch ›Massenpanik‹ genannt: Im Handumdrehen formt sie aus einer unübersehbaren Vielzahl sperriger, hartnäckig ihren Privatinteressen nachjagender Subjekte eine kompakte … nun ja, Masse, mit einem starren Richtungssinn und dem unbedingten Willen zur Unterwerfung unter eine Autorität, die ihr Sicherheit anbietet oder verspricht oder angebotene oder versprochene Sicherheit auf dem Verordnungsweg zukommen lässt. Kollektivangst ist außerordentlich brauchbar, hat man erst einmal gelernt, ihre Energien auf die eigenen Zwecke zu lenken, so wie ein tüchtiger Segler am besten läuft, wenn der Wind von vorn oder von der Seite weht. Wer weiß, wie zäh das einfachste Klimabewusstsein der Weltbevölkerung eingesenkt werden musste, um den entscheidenden Punkt der Massenakzeptanz für die auf Großkonferenzen beschlossenen ›Klimaziele‹ am Ende doch immer aufs Neue zu verfehlen, der kann die neue Masse nur als unverhofftes Geschenk des Fatums begrüßen. ›Nicht auslassen‹ lautet denn auch die Devise, die hinter der Formel von der zweifachen systemischen Krise lauert, mit der die Autoren hier aufwarten: Pandemien pflegen abzuklingen, doch als Anwärmer für die anstehende Dauershow der notwendigen Klimamaßnahmen bietet sich ihnen die Chance, unsterblich zu werden, zumindest für ein, zwei Generationen, bevor das nächste Menschheitsabenteuer entbrennt und alles Vergangene vergessen macht.

5.

It’s paralogic, isn’t it? – Zu sagen, wir haben die Instrumente – denn wir haben sie uns gerade zum Zweck der Pandemiebekämpfung besorgt –, wir haben das Treibmittel, das die Bevölkerungen folgsam hält – die Angst vor dem Virus –, was also sollte uns davon abhalten, jetzt die größere Aufgabe des Klima-Managements anzugehen, für deren Bewältigung es bisher an Legitimität und Zustimmung fehlte, bedeutet im Kern nichts anderes, als die Befürchtungen derjenigen nachträglich zu bestätigen, die davor gewarnt haben, dass die Ergreifung und Legalisierung übergesetzlicher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung von vornherein darauf angelegt gewesen sei, ein Notverordnungs-Regime zu errichten, um den Bürgerwillen und seine parlamentarischen Prozeduren dauerhaft niederzuhalten. Ein Pandemie-Regiment ist ein Pandemie-Regiment. Seine Prozeduren und Regeln sind eindeutig darauf ausgerichtet, diese eine Gefahr für alle niederzuhalten und damit das Sicherheitsversprechen des Staates in dieser besonderen Situation, bezogen auf dieses besondere Bedürfnis einzulösen. Die breite Zustimmung der Bürger zu den ergriffenen Maßnahmen mag der Angst vor Ansteckung und Tod geschuldet sein. Sie schließt aber ein Sachurteil ein, das ihnen Legitimität verschafft: Eine Seuche oder eine Pandemie ist ein grundsätzlich vertrautes Übel. Die Weisen, es anzugehen, mögen im Einzelnen kritisiert und umkämpft sein, im Grundsatz entsprechen sie dem, was die Gesellschaft – und in ihr jeder einzelne Staatsbürger – vom Staat erwartet. Ein solches Mandat ist nicht willkürlich auf andere Themenbereiche der Politik übertragbar. Die bloße Versicherung, es handle sich beide Male um systemische Krisen, schafft keinerlei Sachzusammenhang und damit auch keinerlei Legitimität.

6.

Es spielt etwas Unheimliches um den Kurzschluss zwischen zwei Problemen globalen Ausmaßes, die ansonsten nichts miteinander verbindet. Er wird deutlicher, sobald der Leser sich klarmacht, dass die Pandemie allein nicht ausreicht, um eine systemische Herausforderung zu begründen. Die bloße Nötigung zur internationalen Zusammenarbeit hat nichts ›Systemisches‹; sie tritt auf den verschiedensten Gebieten auf und wird dort in der Regel gemeistert, ohne dass von einem ›Großen Reset‹ die Rede wäre. Die ›systemische Herausforderung‹ liegt in den ergriffenen Maßnahmen und ihren Folgen, sprich, den ökonomischen und politischen Turbulenzen, die daraus entstehen. Das unterscheidet sie grundlegend von den Problemen des Klimawandels, wie dramatisch sie auch immer von den Akteuren gewichtet werden. Der Klimawandel, wenn er denn in eine Phase planetarischer Zerstörung einmünden sollte, mag zwar ›menschengemacht‹ sein, aber er bleibt ein Naturereignis, dessen Verhinderung oder Bewältigung den Erdbewohnern gewisse Anstrengungen abverlangt.

Der ›systemische‹ Charakter der Pandemie, heißt das, rechtfertigt nicht die Tiefe der erfolgenden Eingriffe, sondern entspringt der Art und dem Umfang dieser Eingriffe, die nicht ohne Folgen bleiben können, ohne dass diese Folgen, jedenfalls auf der Ebene offizieller Politik, selbst intendiert wären. Anders im Fall des Klimawandels: Hier geht es um eine Krise des natürlichen Systems, gemeinhin ›Umwelt‹ genannt. Insofern existiert die Parallele zwischen beiden Großereignissen nur scheinbar. Es handelt sich um eine falsche Analogie, die zur Frage der Vernünftigkeit der jeweils zu ergreifenden Maßnahmen nichts beiträgt. Der Vorschlag, von der Bewältigung der einen Krise umstandslos zur Bewältigung der anderen überzugehen, weil die Leute bereits hinreichend ›sensibilisiert‹, sprich: eingeschüchtert seien, um die von den Entscheidungsträgern für erforderlich gehaltenen Maßnahmen über sich ergehen zu lassen, opfert die Regularien demokratischer Politik der leeren Hoffnung, die Leute würden das Willkürliche des Übergangs nicht bemerken und sich mit dem Argument der Dringlichkeit als solcher zufriedengeben.

Aber vielleicht sind die Leute an dieser Stelle gar nicht gefragt, weil sich Experten und Politik bereits ohne sie einig geworden sind. Nicht ohne Grund beschäftigen sich die ›führenden‹ Medien tagaus tagein damit, den ›Populismus‹, also die Forderung nach einer vom Bürger getragenen Politik als Gefahr für das System und ein Grundübel der Epoche zu perhorreszieren. So betrachtet reduziert sich die Verknüpfung beider Großthemen auf ein opportunistisch wahrgenommenes ›Gelegenheitsfenster‹, das die Politik sich empfehlungsgemäß nicht entgehen lassen sollte. Zweifellos funktioniert Politik häufig so. Doch auch dann bleibt immer noch die Frage, was just dieses Gelegenheitsfenster taugt.

Im Grunde … im Grunde kann jeder einzelne Akteur die Frage nur für sich entscheiden, womit sie sich auch erübrigt. Nicht erübrigen sollte sich hingegen die Frage, was eigentlich passiert, wenn sich alle zusammen hindurchzwängen und sie auf der anderen Seite – analog zum Great Reset – das große Desaster erwartet: eine Ökonomie, die möglicherweise den Macht- und Einflusshunger einer kleinen Schicht in exorbitantem Maß bedient, dafür aber die breite Wohlstandsgesellschaft hier, das prekäre Gefüge der Befriedigung von Alltagsbedürfnissen dort dauerhaft ins Wanken bringt – mit dem üblichen Arsenal sozialer Unruhen und politischer Instabilität im Gepäck, die ohnehin längst angesagt sind, auch wenn die bestallten Schönredner teurer Zukunftsentwürfe nichts davon wissen wollen, dies alles vor dem Hintergrund einer schwelenden Krise des Geldes, deren Analytiker heute noch in schöner Regelmäßigkeit aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit herausgedrängt werden.

7.

Am Ende ist alles eine Frage der Kultur. Wer glaubt, eine solche Aussage stelle die Verhältnisse von den Füßen auf den Kopf, der sollte bedenken, dass als ›Kopf‹ schon lange die Wissenschaft amtiert, die in der Tat in allen Verhältnissen zuhause ist und sie bei Gelegenheit auch, wie sich gerade in der Corona-Krise zeigt, befehligt – teils aus Anmaßung, teils aus mangelndem Urteil derer, die unter konstitutionellen Gesichtspunkten das Sagen haben, also der Politiker. Allerdings zeigt sich auch, dass, um so weit zu kommen, die ›Wissenschaft‹ sich erst mit dem großen Kapital und seinen Interessen verbinden muss. In dieser Hinsicht liest sich das Buch für den, der Augen hat zu lesen, fast wie ein Brechtsches Lehrstück, in dem, was eingangs als unbestreitbare medizinische Grundlage aller Entscheidungen beschrieben wird – die 2020er Pandemie –, nach dem Durchgang durch sämtliche Aspekte des Umbruchs als fait social zurückbleibt: als, angesichts der überschaubaren Opferstatistik, praktisch beliebig gewählter Auslöser der Ereignisflut – die systemischen Krisen kommen und gehen, das Ausnahmeregiment, das sie ermöglichen, samt der von ihm entfesselten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse ist das, was bleibt. Man könnte auch vermuten, es sei das, worum es von Anfang an ging, während man noch mit den Ferngläsern der Theorie den Horizont nach dem ersehnten, gefürchteten, herbeigeredeten weißen Schwan absuchte, der das alles legitimieren sollte.

Ein kluger Weltstratege soll einmal gesagt haben: Der Teufel steckt im Detail. Das wirft die Frage auf, wo zum Teufel das Detail stecken mag, das sich aus den Weltspielen nicht entfernen lässt und sie am Ende auf Menschenmaß herunterstutzt. It’s the culture, stupid! möchte man, Bill Clinton im Sinn, den verzweifelten Suchern ins Ohr flüstern, die nicht müde werden, vor den furchterregenden Aspekten des kommenden Weltstaats und der digital gesteuerten Verwimmelung des Menschen zu warnen. Wer heute die Karte der in Europa ergriffenen ›Maßnahmen‹ neben eine Karte des politischen Europa der Dreißiger Jahre legt, kommt vielleicht ins Grübeln. Das Spiel lässt sich in anderen Weltgegenden wiederholen. Man kann, was hier andeutungsweise zutage tritt, die kulturelle Tiefenstruktur der Regionen nennen. Es ist aber, gemessen an der Breite bewusstseinsbildender Erfahrungen, die in die heutige Menschheit eingegangen sind, nur eine oberflächliche Reminiszenz, der bald ganz andere Tendenzen an die Seite (und hier und da hoffentlich entgegen-) treten werden. Diese Welt gehört nicht einer Handvoll Player, hinter sich ein Gefolge gesichtsloser Geschäftemacher, auch wenn sie sich ihr manchmal allzu selbstvergessen zu fügen scheint.

8.

Butter bei die Fische: Wie könnte er aussehen, der große Sprung nach vorn, wie ihn die Helden des Buches insinuieren? Zunächst: Sie sprechen in Front einer nach Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und ›Resilienz‹, sprich: Krisenfestigkeit des Wirtschaftens dürstenden Weltgesellschaft, die, bei aller Wertschätzung der Ziele, so nicht existiert, vor allem dann nicht, wenn die kommende Weltordnung in postmateriellen und postkonsumistischen Farben gemalt wird. Das sind Optionen einer als gefährdet erlebten Saturiertheit, deren pathetische Verallgemeinerung nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung – und innerhalb der regionalen Bevölkerungen ebenfalls nur eine ideologisch empfängliche Schicht – erreicht.

Vieles von dem, was unter dem Stichwort ›Stakeholder-Ökonomie‹ verhandelt wird, ist in den Ländern des alten Westens, insbesondere der EU, rechtlich abgesicherte Praxis. Die Autoren lassen nicht erkennen, ob sie das heimische Modell eher exportieren oder intern revolutionieren möchten. Vielleicht ist diese Unbestimmtheit ein gewollter Teil des Erfolgskonzepts – bevorzugte Gesprächspartner sind nun einmal nicht die Massen, sondern die Herren der Welt und die Amtsträger der internationalen Bürokratie, die gern dazugehörten. In diesen Milieus gehören erhabene Menschheitsziele und gute Geschäfte seit eh und je so unverbrüchlich zusammen wie Kopf und Bauch, wobei sich oft genug der Bauch, sprich der adressierte Abnehmerkreis, mit dem Kopf, soll heißen, den hehren Parolen zufriedengeben muss. Darin unterscheiden sich die Gates und Soros dieser Welt nicht von früheren Exponenten des großen Kapitals.

Möglich, dass der seit den späten Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts in den USA und Europa existierende Mix aus Marktkapitalismus und Staatsdirigismus, aktuell beflügelt durch das chinesische Modell sowie Finanzmarktprobleme, die man ungern in der Öffentlichkeit bespricht, neuen Mustern entgegenstrebt, vor denen es Marktliberalen der Hayek-Schule im voraus graut. Brisant wird es dort, wo der Ausnahmezustand oder, allgemeiner gesprochen, der autoritäre Krisenmodus als probates Mittel zur Erreichung vermutlich illusionärer Menschheitsziele der liberalen, auf individuelle Grund- und Partizipationsrechte bauenden Gesellschaft, wie sie immerhin in Teilen der Welt dem Anspruch nach existiert, den Garaus machen soll. Hier wäre als Widerpart ein Liberalismus gefragt, der sich nicht nur aus ökonomischen Schubladen bedient, sondern dem Stand der Zivilisation gerecht wird, die ihn einst hervorgebracht hat.

9.

Kleiner, nicht unwesentlicher Zusatz: Das ›Büchlein‹ verfügt über weite analytische Partien, die auf allgemeine Diskussionsbereitschaft bei notwendiger Diskussionskultur stoßen sollten. Problematisch wird es immer, wenn Autoren auf der Grundlage ihrer Analysen wenig Konkretes zu bieten haben und eher in den blumigen Sphären weltweiter Appelle verbleiben: Stoff für Jakobiner jeglicher Couleur. Schwab / Malleret lassen diese Option (unwillentlich?) zu und geben damit auch Verschwörern Raum. Wollen sie gleiche Chancen oder Gleichmachen? Letzteres wäre eine erneute Lagerlösung. Davon ist abzuraten.

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