von Lutz Götze

Der Rio Uruguay hat – in der Sprache der Guaraní – dem Lande seinen Namen gegeben. Eingezwängt liegt Uruguay zwischen den mächtigen Nachbarn Brasilien im Norden und Argentinien im Westen und Süden, an Fläche etwa halb so groß wie Deutschland. Oft bespöttelt als paisito, ›kleines Land‹ also, wurde der Staat 1825 unabhängig. Vorausgegangen waren jahrhundertelange Kriege zwischen und mit Spaniern, Portugiesen, Briten und Franzosen. General Artigas, der legendäre militärische Führer des Strebens nach Unabhängigkeit, ist, hoch zu Ross, in jeder Stadt als Denkmal zu bewundern. Man sagt, nahezu alle Uruguayer liebten ihn, mehr noch als die zahllosen Rinder und die Fußball- Nationalmannschaft.

 

Das Land hat, beginnend 1963, Jahre der Diktatur und des Terrors erlebt. Die Tupamaros von Montevideo verstanden sich als Nachfolger des letzten legendären Inka-Königs Túpac Amaru und wurden als Stadt-Guerilla zum Vorbild der Rote Armee Fraktion, der Brigate Rosse und anderer Gruppen in Europa und Nordamerika. Sie kämpften mit militärischen Mitteln gegen soziale Ungerechtigkeit, für die materielle und soziale Anerkennung der indianischen Ureinwohner – die meisten waren freilich in den Kriegen vernichtet worden – sowie für demokratische Grundrechte. Das Militär reagierte brutal und verwandelte das Land binnen Monaten in ein Konzentrationslager: Folter, Ermordungen und Terror waren seine Sprache. Aber auch die Tupamaros selbst wüteten im Lande, vernichteten abtrünnige Kampfgenossen und teilten Familien in gläubige Anhänger und militante Gegner. In den achtziger Jahren war der blutige Kampf zu Ende: Die Tupamaros hatten schon vorher aufgegeben, das Militär zog sich in die Kasernen zurück. Ex-Tupamaro José Alberto Mújica Cordano, genannt el pepe, wurde zum Symbol dieser Entwicklung: einst Mitbegründer und Führungsmitglied der Stadtguerilla, wurde er von den Militärs gefangengenommen und vierzehn Jahre lang inhaftiert und gefoltert. 2010 wurde er Staatspräsident, lebt heute bescheiden auf seinem kleinen Bauernhof, war nie korrupt und allseits hoch geachtet. In seiner Amtszeit verwirklichte er, zusammen mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio (Breite Front), manchen gesellschaftlichen Traum wie die Legalisierung der Abtreibung, der gleichgeschlechtlichen Ehe und des Anbaus und Handels mit Marihuana.

Uruguay beweist damit auf beeindruckende Weise, wie Unterdrückung und Terror beseitigt und einstige Terroristen zu Demokraten gewandelt werden können. Ein nunmehr geeintes Land hat in die Demokratie zurückgefunden.

Das steht auf der Habenseite. Ebenso zählen dazu das, alles in allem, weite und hügelige Land mit einer Unzahl von Rinderherden und herrlichen Pferden, weiterhin die Ruhe der Landschaft, der geringe Autoverkehr und die besonnenen und ruhigen Menschen, die sich für alles Fremde interessieren, hilfsbereit und gastfreundlich sind, leider aber ein derart verknödeltes Spanisch sprechen, dass der Gast nur Bruchteile des Gesagten versteht. Uruguayer lieben ihre Tradition, feiern ausgelassen beim Asado und vor allem, zu Beginn des Monats März in Tacuarembo, ein großes Fest der Gauchos mit beeindruckenden Galoppaden und kunstfertigen Reitern. Sie schätzen ihr Picknick an den weiten südatlantischen Stränden von Chuy im Norden bis Punta del Este im Süden, dazu ihre Thermalbäder um Dayman im Nordosten. Der Besucher fühlt sich gut aufgenommen und, vor allem, vor Dieben und Betrügern sicher.

Zu den faszinierendsten Orten im Lande gehören zwei: einmal das Museo Taller de Casapueblo in Punta Ballenas, zum zweiten das Carlos Gardel-Museum in der Valle Eden, zwanzig Kilometer westlich der Gaucho-Stadt Tacuarembo gelegen.

Der große Maler und Grafiker Carlos Páez Vilaró hatte, nach endlosen Wanderungen rund um den Erdball, die Idee, an der Spitze der Landzunge von Punta Ballenas einen Alterssitz für sich und die Seinen zu errichten. Daraus wurden zahlreiche schneeweiße Häuser mit einem grandiosen Ausblick auf die tobende See, die heute ein Museum und ein Hotel bergen. Das Museum präsentiert die Meisterwerke des Genies, zahlreiche Fotos mit seinen Freunden Picasso, de Chirico, Calder, Albert Schweitzer, Dalí, Borges, Amado und vielen anderen sowie Texte zu seinen Reisen. Zu den schönsten zählen jene, die er dem Bildband Más allá de Tahiti zugesellt hat: seine Südseebilder auf der Suche nach der unendlichen Weite des Pazifiks und der vermutlich reinen Einfachheit der Menschen, wie es, Jahrzehnte zuvor, Paul Gauguin, ihm wesensverwandt, tat. Bilder, Grafiken und Texte, dazu der südliche Atlantische Ozean, verführen den Besucher mit majestätischer Kraft, sofort aufzubrechen und die Inseln und Atolle von Tahiti sowie hinauf zu den Marquesas zu entdecken.

Ganz anders ist das Gardel-Museum, das der Reisende erreicht, wenn er die schlaglöcherbewehrte und schweißtreibende ruta 26 westlich von Tacuarembo verlässt und in das Eden-Tal einfährt. Nach wenigen Kilometern gelangt er zur Posada Valle Eden mitsamt dem Museum, das an den größten aller Tango-Interpreten, den Argentinier Carlos Gardel, erinnert. Den Argentinier? Eben nicht, sagen die uruguayischen Tango-Forscher. Gardel, so ihre These, sei hier im Tal geboren worden, außerehelich gezeugt und aufgewachsen sowie von dem Dienstmädchen, einer Französin namens Berta Gardes, außer Landes nach Frankreich gebracht worden, wo er ihren Namen angenommen habe. Jahre später sei er nach Argentinien zurückgekehrt und dort zur Legende avanciert. Mithin sei Gardel in Wahrheit Uruguayer! Die Belege des Museums – Zeugnisse, Fotos, Berichte von Zeitgenossen – wirken überzeugend, werden jedoch, verständlicherweise, von Argentinien als falsch abgetan. Sogar Kreise in Frankreich sollen bereits Gardel als Landeskind bezeichnet haben. Der Streit dauert an. Der Faszination des Ortes hat er zum Glück nichts antun können. Von einem wichtigen Unternehmen ist im Zusammenhang mit der alten portugiesischen Gründung und heutigem Welt-Kulturerbe Colonia del Sacramento am riesigen Delta des Rio de la Plata zu berichten. Seit Jahrzehnten sind Taucher unter der Leitung des Cousteau-Freundes Ruben Collado dabei, Schiffe vom Grund des Flusses zu heben, die den Schlachten des 17. und 18. Jahrhunderts zum Opfer fielen: voller Golddukaten, wertvoller Steine, Kleidungs-und Gebrauchsstücke sowie unschätzbarem Kartenmaterial und Logbüchern. Das letzte Segelschiff war die 2004 geborgene Lord Clive, die dem uruguayischen Staat ein Vermögen einbrachte. Leider hat er es in der Zwischenzeit verabsäumt, das vom Entdecker gegründete Museum in Colonia sowie ein weiteres in Punta del Este zu finanzieren, weshalb beide – ›auf unbestimmte Zeit‹ – geschlossen sind. Eine Untat, im Grunde ein Verbrechen, verhindert es doch, dass die Heutigen Genaues über Leben, Gewohnheiten der Entdecker von damals erführen! Die Taucher haben dennoch nicht resigniert, vermuten sie doch noch mindestens zweitausend weitere Wracks auf dem Boden des Silberstroms. Doch für weitere Tauchgänge fehlt das Geld, obwohl die Auktionen der gigantischen Funde der Vergangenheit bei Sothebys Millionen erbracht haben.

Das Dilemma des kleinen Landes wird deutlich: Trotz nicht geringer Wachstumsraten der Wirtschaft und geringer Arbeitslosenquote von 5,5 Prozent im Jahre 2012 mangelt es im Lande an vielem: Fachkräfte, Bildung, Investitionen, potentielle Käufer aus Argentinien und von weiter her. Genauer: Vor jedem dritten Haus oder Ranch steht das Schild se vende (zum Verkauf); jeder versucht, seine Immobilie noch irgendwie an den Mann zu bringen, zumeist mit Verlust.

Am schlimmsten aber ist die massenhafte Abwanderung der an Privatschulen und Universitäten gut ausgebildeten jungen Leute in das Ausland, weil sie in Uruguay keine adäquaten Berufschancen haben. Mittelfristig wird das Land dadurch schweren Schaden erleiden. In Montevideo versucht man händeringend, dem Übel abzuhelfen: bislang ohne Erfolg.

Gespart wird vorderhand am vermeintlich Unnötigen, also an Bildung und Kultur. Die allgemeinen Schulen sind schlecht ausgestattet, die Curricula sind veraltet oder lebensfern. Wer es sich irgendwie leisten kann, schickt seine Kinder auf die teuren Privatschulen.

Ähnliches ist von Museen und Theatern zu berichten. In der Weltkulturerbestadt Sacramento sind die meisten Museen auf Zeit oder für immer geschlossen, ebenso geschieht es mit dem ersten und wichtigsten Theater Solis in der Hauptstadt. Im angrenzenden Seitentrakt isst man vorzüglich zu Abend, doch die Bühne bleibt leer. Ein Trauerspiel!

Vielleicht erwecken die bunten und singenden Vögel des Rio Uruguay das Land aus dem Tiefschlaf und führen es in bessere Zeiten! Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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