von Herbert Ammon

I.

In den Wochen vor dem 3.Oktober 2010, da es die historisch wundersame deutsche Wieder- oder Neuvereinigung zu feiern gilt – wir verdanken sie dem Wettrüsten, der Perestrojka, den DDR-Bürgerrechtlern sowie dem noch real existierendem Nationalbewußtsein (»Deutschland einig Vaterland«) der Deutschen in der ehemaligen DDR –, sorgt der ›Fall Sarrazin‹ für Aufregung

in und außerhalb der politisch-medialen Klasse. Parallel dazu herrscht anhaltende (›nachhaltige‹) Entrüstung über die ›blonde Bestie‹ (terminus zoologicus aus dem befreundeten Nachbarland) Erika Steinbach, so dass Aussicht besteht, die von Sarrazin ausgelöste, über Jahrzehnte zurückgedrängte Debatte über die tieferliegenden, schmerzhaften Fragen der Migration lasse sich mit den üblichen Erregungsmustern und rhetorischen Rezepten wie bislang eskamotieren.

 

Zum Ritual des Sarrazin-Exorzismus gehört der Verweis auf Versäumnisse bei der Integration (nostra culpa), der Ruf nach neuen Integrationsmaßnahmen, d.h. die Bestätigung der Sarrazinschen Kosten-Nutzen-Rechnung à conto des Steuerzahlers, schließlich, die sprachlich verquere, kaum ernst gemeinte Ankündigung, integrationsresistentes Verhalten von Migranten (s. auch ›Zuwanderer‹) fürderhin zu sanktionieren. Schlagzeile im Boulevardblatt BZ: »Hartz-IV runter für Schulschwänzer«. Der Aufschrei der tonangebenden moral minority wird solches zu verhindern wissen.

Ich gehöre, nicht anders als die Bundeskanzlerin, für die »die Vorabpublikationen vollkommen ausreichend« waren (FAZ-Interview v. 18.09.2010), um den Reigen der Entrüstung zu eröffnen, sowie ihr Bundespräsident, der ihn korrekt fortführte, ehe er ins Stolpern geriet und sich auf Wink rechtskundiger Vertrauter im Schloß Bellevue zurückzog, um bei der Bundesbank die Emission einer Sarrazin-Unschuldverschreibung anzufordern –, ich gehöre zu denjenigen, die aus Zeit-Kostengründen das Buch nicht gelesen haben. Ich gehöre andererseits nicht zu denjenigen, die Sarrazin seine erhöhten Pensionsbezüge neiden, anders als berufsempörte Grüne (in der geistigen Spannweite von Claudia Roth bis Renate Künast) sowie jene Genossen, deren Bezüge nach Vollendung ihrer Parteikarriere im umgekehrten Verhältnis zu ihren politischen Leistungen stehen und die ihn jetzt aus der Partei werfen wollen.


II.
Vom Getöse der Empörungsmaschine werden die von Sarrazin benannten Themen (›nachhaltig‹) übertönt. Es geht nicht um die schnell herausgepickten ›rassistischen‹ Reizthemen wie den durch liebevoll arrangierte (Verwandten-)Ehen beförderten oder geminderten IQ anatolischer Immigranten, nicht um das von einigen identitätsbewussten Juden neuerdings stolz reklamierte nahöstliche Gen-Cluster, auch nicht um die alte Debatte um den IQ als solchen noch um das verwandte, abgestandene Thema nurture or nature? und alle daraus abgeleiteten Rezepte zur besseren ›Integration‹ – im neuesten Soziospeak: ›Inklusion‹ – von bildungsresistenten Repäsentanten der zweiten oder dritten Generation von ›Zuwanderern‹.

Das eigentliche Thema betrifft die Frage nach der kulturellen und politischen Zukunft der deutschen und europäischen Nation(en). Um den allfälligen Attacken (›kulturalistisch‹, ›ethnizistisch‹, ›rassistisch‹, ›rechts‹, ›völkisch‹ etc.), wie sie auch in Jörg Büschings jüngstem GlobKult-Beitrag mitschwingen, entgegenzutreten: Unter ›Nation‹ sei der jeweilige historisch fundierte, politisch-ideelle Bezugsrahmen der – mehrheitlich, nicht allumfassend in der EU zusammengeschlossenen – europäischen Staaten und ihrer Bürger verstanden. Immerhin benennt der Vertrag von Lissabon die Nationen als politische Bausteine Europas. Unlängst bekannten sich der deutsche Christdemokrat Gerd Pöttering und die französische Liberale Simone Veil in einem gemeinsamen verfassten Artikel (FAZ v. 15.09.3010) erneut zur Pflege der »nationalen Identität« als europäischer Aufgabe. Ob es sich angesichts der real bürokratisch-zentralistisch betriebenen EU-Integration (›Demokratiedefizite‹) um mehr denn Lippenbekenntnisse zu belangloser Folklore handelt, mag offenbleiben.

Es geht bei der Sarrazin-Debatte um die bedrängende, verdrängte Frage: Schafft sich Deutschland – und mit ihm Europa – ab? Wer die Frage von vornherein für unzulässig erklärt, allein den Begriff ›Deutschland‹ für eine Schimäre hält (wie Büsching), macht es sich im Gestus moralischer Überlegenheit intellektuell zu einfach. Er ignoriert die Frage nach Geschichte und Zukunft Europas, des historischen Mutterbodens der Moderne.


III.
Die für ganz Europa zentrale Zukunftsfrage ist die Migration. Das Thema zerfällt in vier miteinander verquickte Teile:
1) die materiellen Kosten der Einwanderung in die in Zeiten des florierenden Industriekapitalismus (vor 1973) geschaffenen Sozialsysteme 2) die demographische Krise der europäischen (und japanischen) Wohlstandsgesellschaften 3) die politische Zukunft der europäischen Nationalstaaten im Kontext der EU und 4) das kulturelle Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften angesichts der anhaltenden Einwanderung.

Dass Sarrazin die sozialen Kosten der ›Zuwanderung‹ beim Namen nennt, gehört zu den Verdiensten seiner Provokation. Eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung wurde jahrzehntelang negiert und wird auch in der derzeitigen Integrationsdebatte tunlichst vermieden, stets in der löblichen Absicht, ›populistischen‹ Regungen keine Nahrung zu geben. Ich überlasse die Diskussion den Statistikern, Steuer- und Finanzexperten, der Hinweis auf Hartz IV, auf die durch Kita-Früherziehung, Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten, staatsbürgerliche Integrationskurse etc., last but not least die durch stärkere Belegung der Justizvollzuganstalten durch Straffällige ›mit Migrationshintergrund‹ den Länderhaushalten erwachsenen Belastungen mag genügen. Nach meinem Kenntnisstand verursacht das deutschstämmige Prekariat proportional anteilig noch immer geringere Kosten als das einbürgerungsstatistisch reduzierte Ethnosubproletariat.

Gravierender als die materiellen Aspekte scheinen die unter 2-4 genannten Punkte. Man mag die Frage des in allen europäischen Ländern – mit Ausnahme Frankreichs – seit dem Pillenknick und der faktischen Freigabe der Abtreibung anhaltenden Geburtenrückgangs allein unter ökonomisch-sozialen Gesichtspunkten betrachten. Die Absicht, den Geburtenschwund in den deutschen Mittelschichten aufzuhalten und umzukehren, um über den Familienkontext die gefährdeten Sozialsysteme zu stabilisieren, steckt hinter den mit dem Namen von der Leyen – der kinderreichen Mutter in einem Kabinett von Kinderlosen – verknüpften Konzepten. Deren Erfolg erweist sich bislang als dürftig. Direkte Appelle an die Gebärfreudigkeit indigener Bewohnerinnen mit höherem IQ sind in Deutschland undenkbar. Währenddessen weitet sich die Diskrepanz der demographischen Kurven von einheimischer (›deutschstämmiger‹) Bevölkerung und ›Population mit Migrationshintergrund‹. Derzeit beträgt der Anteil der Neugeborenen ›migrantischer Herkunft‹ bereits mehr als ein Drittel aller Geburten, in vielen Städten mehr als 50 Prozent. Zur Klarstellung (und Abwehr der ›Rassismus‹-Keule): Der Begriff ›Migrationshintergrund‹ ist verwaschen und in der Integrationsdebatte irreführend. Er verwischt wesentliche Unterschiede bezüglich der Herkunft, etwa bei Kindern mit deutschem Elternteil sowie – horribile dictu – der Assimilationsbereitschaft der Neubürger. Die Integrationsfrage zielt auf die Kompatibilität von historisch gewachsener, von europäischer Kultur geprägter deutscher Gesellschaft und jenen Migrationsmilieus, die sich in Parallelgesellschaften verfestigen.

Mittlerweile ertönt in der Bundesrepublik freudig erwarteten Aufschwungsphase aus Unternehmerkreisen der Ruf nach bis zu 500 000 ausländischen Arbeitskräften, ohne dass erläutert wird, aus welchen Ländern und mit welchen Qualifikationen man die benötigte Anzahl anzuwerben gedenkt. Anscheinend unberührt von der Integrationsdebatte, befürwortet der Chef der Deutschen Bank, praktizierender Katholik, mehr Einwanderung aus dem Orient. Ministerpräsident Böhmer (Sachsen-Anhalt) denkt an den Zuzug katholischer Schäflein, womit er sich – von der globalen Migrationsauswahl abgesehen – den Vorwurf des ›Kulturalismus‹ einhandeln dürfte. Bezüglich der Forderung nach ausländischen Arbeitskräften ins Exportland Deutschland sei zum einen an den jederzeit denkbaren Umschwung von Kooperation zu globaler Konkurrenz mit China erinnert, zum anderen an die Wechselfälle der global economy am Beispiel Irlands, wo der lange Boom in abrupten Niedergang mit massiver Arbeitslosigkeit mündete.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass am Ende der Sarrazin-Debatte das ökonomische Argument erneut den Ausschlag gibt. Die Transformation des 1989/90 wieder erstandenen Nationalstaates in eine »Bunte Republik Deutschland« – so die vom Bundespräsidenten aufgegriffene ›grüne‹ Kampfparole – wäre sodann unaufhaltsam und unumkehrbar.

Wie die kulturelle Integration der nach wie vor hauptsächlich aus dem geburtenreichen islamischen Raum einwandernden Bevölkerungsgruppen zu bewerkstelligen sei, ist die zentrale Frage in der Sarrazin-Debatte. Die Frage gilt für alle westeuropäischen Länder, die sich mit ihren expandierenden muslimischen Minderheiten schwer tun. In Frankreich, wo das Sprachproblem immerhin geringer wiegt, stößt in den Banlieues das Konzept der laizistischen Republik an seine Grenzen. Unklar scheint, mit welchen Mitteln man in den Niederlanden die unter dem Druck von ›Populisten‹ wie dem ermordeten Theo van Gogh und dessen selbsternannten Nachfolger Geert Wilders erzwungene Abkehr vom jahrelang praktizierten Multikulti-Laissez-faire zu vollziehen gedenkt.


IV.
Das in allen Einwanderungsgesellschaften hervortretende kulturelle Integrationsdilemma findet seine Zuspitzung im Begriff der Zivilreligion. In der aufgeklärt säkularen Moderne fungiert die Zivilreligion – die innere Bindung an politische Symbolwerte – als geistige Klammer (oder ideologischer ›Überbau‹) der in Interessen, Klassen, Rassen und Religionen aufgespaltenen Gesellschaft. Ohne geschichtliche Bezüge, ohne historische Tradition, ohne Inszenierungen des historisch-politischen Selbstverständnisses kommen selbst die USA, »a nation of immigrants«, nicht aus.

In der – bereits vor dem Mauerfall vielfach als ›postnational‹ deklarierten – Bundesrepublik Deutschland firmiert die Zivilreligion unter der Rubrik ›Verfassungspatriotismus‹. Ihre eigentliche Fundierung findet sie nicht in der Metaphysik der Verfassung (»In der Verantwortung vor Gott und den Menschen...«), sondern in der Geschichtssymbolik der Berliner Republik, in den Bezügen auf die NS-Ära und die »in deutschem Namen« – so die abgemilderte Formel – verübten Verbrechen. Die an zahllosen Gedenktagen und Gedenkorten gepflegte Erinnerung an Diktatur und Verbrechen sowie die daraus abgeleitete ›historische Verantwortung der Deutschen‹ bildet den zivilreligiösen Kern der zeitgenössischen politischen Kultur. Dass es sich um ein geschichtsreduktionistisches Verfahren handelt, das dem Begriff eines negativen Nationalismus nahekommt, ändert nichts an der Wirksamkeit des Verfahrens. Hinter dem NS-Schattenbild verschwindet der kulturelle Reichtum samt den die Tiefendimensionen der deutschen Geschichte.

Mehr noch: Bildete nach 1945 der von Hitler ausgelöste II. Weltkrieg den Hintergrund der europäischen Selbstbesinnung und Idee der europäischen Einigung, so fungiert die deutsche Negativgeschichte, zugespitzt in Realität und Begriff des Holocaust, seit einiger Zeit zusehends als historischer Focus – in der Diktion des einstigen Grünen-Außenministers und jetzigen Southstream-Lobbyisten Joschka Fischer als ›Gründungsmythos‹ – der europäischen Einigung. Inwieweit sich die Erinnerung an die Schrecken der deutschen Vergangenheit auf Dauer kontinuieren und zu einem europäisch-übernationalen Kultursymbol erheben lässt, sei dahingestellt. Nicht minder fragwürdig scheint sowohl im Hinblick auf andere Menschheitsverbrechen wie auf die Lebensgeschichte der von Nazi-Verbrechen Unbefleckten die Projektion des ›absolut Bösen‹ auf ›die Deutschen‹ – ein Verfahren, das den akademischen Diskursen eines ethischen Universalismus entgegensteht.

Jedenfalls gehört die – politisch-ideologisch vielfältig instrumentalisierbare – deutsche Geschichte zu den in Deutschland gepflegten ideellen und kulturellen Erwartungen an die Migranten. Dass derlei zivilreligiöse, politisch-kulturelle, integrationspolitische Lernziele an der Wirklichkeit vorbeizielen, ist einem Aufsatz eines Gesamtschullehrers aus Hessen über seine geschichtspädaogischen Erfahrungen (FAZ v. 16.09.2010) zu entnehmen: Der Besuch von Konzentrationslagern erzeuge bei den jungen ›Migranten‹ zwar Betroffenheit. Zu einer Hinnahme der deutschen Geschichtslast, geschweige denn zu einer Identifikation mit der deutschen ›Täter‹-Perspektive sei indes keiner bereit. Spätestens an diesem Punkt der historisch-politischen Kultur treten die blinden Flecken der Integrationsdebatte hervor.


V.
Dass die anhaltende Einwanderung eine grundlegende Veränderung der europäischen Kulturlandschaft mit sich bringt, ist augenfällig. Für die Bundeskanzlerin scheint die Einwanderung aus dem Orient ein in reiner Apperzeption begründetes ästhetisches Problem zu sein: »Ich habe gesagt, dass Moscheen stärker als früher ein Teil unseres Stadtbildes sein werden.« (Womöglich stand ihr »früher« das einer Moschee nachgebildete Potsdamer Pumpwerk vor Augen.) Immerhin denkt sie – wie die Beamten in den Integrationsministerien – über die künftige Ausbildung von Imamen »in unserem Land« (Merkel) anstatt der derzeitigen Entsendungspraxis aus der Türkei nach. Ob mehr an eine Art freikirchlicher Predigerseminare oder – nach dem Eklat um einen vom wahren Glauben wieder abgefallenen deutschen Konvertiten an der Universität Münster – an glaubensfeste Lehrstühle denkt, verrät sie im Interview nicht.

Die vielschichtigen, grundsätzlichen Probleme der Zuwanderung aus dem Orient bleiben mit dem schlichten Hinweis auf das sich verändernde Stadtbild umbenannt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die reichlichen ›Spenden‹ für die Moscheenbauten aus zwei Quellen stammen: 1) aus der Staatskasse des türkischen Staates, dessen Religionsbehörde Ditib für die Durchsetzung der sunnitischen Staatsreligion zuständig ist. 2) aus dem Ölreichtum der wahabitischen Saudis, die in globalem Maßstab – von Afghanistan bis Duisburg und Bremen, von Tschetschenien bis Bosnien – die Expansion des islamischen Fundamentalismus finanzieren.

Die Grundfrage ist die nach der Vereinbarkeit von Islam und europäisch-säkularer Kultur, d.h. die in den Diskursen vielfach bemühte Unterscheidung von Fundamentalismus und tolerantem Islam, von Islam und Islamismus, mit der Herausbildung eines kulturkompatiblen ›Euro-Islam‹ als Zielvorstellung. Zu erwähnen ist zudem die von ›Integrationsexperten‹ beklagte Aufsplitterung der muslimischen Einwanderer (›community‹) in die rivalisierenden Richtungen der Sunna und der Schia sowie der in der Türkei unterdrückten, hierzulande als säkular und darum als besonders integrationsfähig erachteten Alewiten.

Das Konzept eines »Euro-Islam« gründet auf Überwindung der hermetischen und statischen Glaubenswelt des traditionellen Islam durch ›Modernisierung‹, d.h. durch aufklärend-relativierende historische Textkritik und europäisch-westliche Philosophie – womöglich in Anknüpfung an die verschüttete Tradition eines in Ansätzen ›aufgeklärten‹ Islam. Als Beleg für friedlichen Dialog und Integration in die säkulare französische Republik wird auf die vermittelnde Rolle des Imam an der Grande Mosqué in Paris verwiesen. Dass es sich gleichwohl bei dem zu fördernden ›Euro-Islam‹ um ein Wunschbild handeln könnte, belegen die religiös-ideologischen faux pas des lange als progressiv gelobten Genfer Theologen Tariq Ramadan, eines entfernten Verwandten von Hassan al-Banna (1906-1949) des Begründers der antiwestlichen Muslim-Bruderschaft. Für eine – von der ›community‹ abgelehnte säkulare Muslimin wie Necla Kelek steht die Unvereinbarkeit von traditionellem Islam – ein im als ewig und unwandelbar begriffenen Koran fixierter Offenbarungsglaube – und demokratisch-liberalem Pluralismus fest. Der Verweis auf die hypermodernen, weltoffenen Golfemirate wirkt – nicht allein im Hinblick auf die Bevölkerungszahlen – wenig überzeugend. Vielmehr ist zu konstatieren, dass in keinem der Staaten der muslimischen Welt, von Indonesien bis Marokko, von Kirgisztan bis zum Jemen, eine Regierungsform zu finden ist, die ›westlichen‹, demokratisch-liberalen Maßstäben entspräche. Der Hauptgrund dürfte im islamischen Konzept der umma, der in der Gemeinschaft der Muslime fixierten Einheit von Religion und Staat, zu suchen sein. Der Appell an die islamische Welt, die europäische Aufklärung ›nachzuholen‹ ist nicht nur anachronistisch, sondern verfehlt die dem ›Islamismus‹ – die unscharfe Formel für die Bewusstseinsverfassung gläubiger Muslime – zugrundeliegende Abwehr der in Atheismus mündenden europäischen Aufklärung (deren moralistisch überhöhte Konsequenzen Nietzsche dereinst als »Nihilismus« decouvrierte).

Neben den im Gefolge der Nahostkriege großzügig Aufgenommenen – keineswegs nur Flüchtlinge – aus dem arabischen Raum sowie den aus den westlichen EU-Ländern stammenden ›Zuwanderern‹ kommt der Hauptstrom der geburtenreichen Immigranten aus den anatolischen Regionen der Türkei. Erinnert sei an die Ankündigung des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt, man werde das Bevölkerungsproblem durch den Export von 10 Millionen Türken nach Deutschland lösen. Anders als seine linksliberalen Zeit-Redakteure gehört Helmut Schmidt nach wie vor zu den wichtigsten Gegnern eines türkischen EU-Beitritts.

Als Vorkämpfer eines EU-Beitritts der Türkei, der die derzeitige Einwanderung als einklagbares EU-Bürgerrecht auf Freizügigkeit weiter anschwellen ließe, hat sich soeben Außenminister Guido Westerwelle präsentiert. An dem angestrebten Türkei-Beitritt tritt die ideologische Verquickung der für die europäische Zukunft elementaren Kultur- und Migrationsfrage mit den Machtmechanismen in Europa zutage. Der stärkste Befürworter des EU-Beitritt waren von Anbeginn – lange vor dem 2003 diktierten Beginn der Aufnahmeverhandlungen – die USA, die über den NATO-Eckpfeiler Türkei ihre geopolitische Position im Nahen Osten sowie in Europa sichern wollen. Ihr Interesse geht konform mit den sehr unterschiedlichen politischen und ökonomischen Interessen der europäischen Funktionseliten. (Ein Motiv für Staaten wie Großbritannien und Polen ist die Schwächung des deutschen Gewichts in der EU.) Zur Durchsetzung ihres Zieles setzen sich die Fürsprecher über alle Fakten hinweg, die dem Beitritt im Wege stehen könnten. Im Gegenteil: Den in Gang befindlichen ›demokratischen Prozess‹ in der Türkei gelte es durch die ›Beitrittsperspektive‹ nach Kräften zu fördern. Als Beweis für den ›erfolgreichen‹ Prozess dient sodann das jüngste Referendum zur ›demokratischen‹ Verfassungsrevision. Alles, was das Wunschbild des ›demokratischen Reformers‹ Erdogan, Protagonist einer türkisch-islamischen Großmachtrolle in der Tradition des Osmanischen Reiches – stören könnte, wird von den Eliten ausgeblendet (beispielsweise, dass das Referendum in der ›westlichen‹ West-Türkei durchfiel). Von ›populistischen‹ Einwänden unbeirrt – egal, ob diese von respektablen Persönlichkeiten vorgetragen werden –, steuert man auf den Einbezug der ›reformorientierten‹ Türkei in die europäische Wertegemeinschaft.

Während die ›nach vorne offenen‹ Beitrittsverhandlungen mit der Türkei andauern, sieht sich ein Münchner Gericht mangels eindeutiger Beweise in einem Prozess gegen die islamisch-nationalistische Kulturvereinigung Milli Görüs (»Nationale Sicht«) wegen betrügerischer Machenschaften zu einem Freispruch veranlasst. Der Kulturverein, dem bundesweit über 300 Moscheen angehören, tut kund, er werde aufgrund diskriminierender Erfahrungen an der zu Integrationszwecken etablierten ›Islamkonferenz‹ der Bundesregierung nicht mehr teilnehmen. Seit Jahren wird Milli Görus, die größte islamistische Organisation in Deutschland, vom Verfassungsschutz beobachtet.

Integrationsdefizite? Anstelle der unendlichen Debatte über Kopftuch, Burka und Rütli-Schulen sei Ralph Giordano zitiert: »Solange widerstandslos hingenommen wird, dass Moscheen in Deutschland nach Eroberern der türkisch-osmanischen Geschichte benannt werden, nach Sultan Selim I. oder, wie im Fall der sogenannten Fatih-Moscheen, nach Mehmet II., dem Eroberer von Konstantinopel – so lange hat Thilo Sarrazin recht.«


VI.
Der Bundespräsident hat für den 3. Oktober 2010 eine Rede zum Thema ›Integration‹ angekündigt. Es steht zu erwarten, dass seinem Redenschreiber nichts anderes als die bekannten Gemeinplätze einfallen: die ›Bringschuld‹ der Migranten in Form der Bereitschaft zum (minimalen) Spracherwerb, die Achtung der im Grundgesetz verankerten ›demokratischen Werte‹, maßgeblich die Anerkennung der Gleichheit der Geschlechter sowie die Mahnung zum Verzicht auf die aus Filmdramen bekannten Praktiken, sodann der Appell, sich Grundkenntnisse der deutschen Geschichte, maßgeblich ihrer Verfehlungen, anzueignen. Auf der anderen Seite erwartet ›uns Deutsche‹ – immer häufiger operiert man bereits mit dem aus der Kolonialgeschichte bekannten Begriff der ›Autochthonen‹ –, der Appell, die aus ökonomischen Gründen gebotene Zuwanderung zu akzeptieren, die kulturellen Traditionen der Migration als ›Bereicherung‹ hochzuschätzen, die Integration als die Zukunftsaufgabe des 21. Jahrhunderts zu begreifen, last but not least, eingedenk unserer unseligen deutschen Geschichte, mehr Toleranz zu üben.

Die Banalität der Integrationsdebatte gehört zu deren Programm. Es steht zu befürchten, dass die von Sarrazin – womöglich ohnehin schon zu spät – aufgeworfenen Fragen nach der Zukunft Deutschlands, nach dem Ende der deutschen Geschichte in einer völlig veränderten Lebenswelt des Kulturraums Europa, weiterhin unbeantwortet bleiben.

Die Debatte um die ›Zuwanderung‹ wird unter dem Druck der mit der Einwanderungslobby paktierenden linksliberalen Meinungsfront – weder links noch liberal, sondern konformistisch und bevormundend –, ideologisch einseitig geführt. Soweit nicht selbst vom Meinungsklima der moral minority geprägt, behandeln die Funktionseliten die Frage der Einwanderung aus nichteuropäischen Kulturen nach Kriterien ökonomischer Zweckmäßigkeit und nach politischer Opportunität. Aus dem Raum der Kirchen, dereinst Hüter abendländischer Kultur, ertönt die Forderung nach Aufnahme der Flüchtlingsströme in die Wohlstandszonen als zeitgemäße Praxis globaler Gerechtigkeit – gesinnungsethischer Reduktionismus als Antwort auf die komplexe globale Realität.

Ob die von Sarrazin ausgelöste Debatte über die demographische Krise zur Besinnung führt, steht zu bezweifeln. Zu erwarten ist vielmehr business as usual: Das halbherzige Eingeständnis bisheriger Versäumnisse bei der Integration einhergehend mit der Befürwortung zusätzlicher Einwanderung. Die Kernfrage nach der Zukunft der Deutschen als Geschichtsnation in der Mitte Europas wird verdrängt, die Debatte wird reduziert auf Fragen der ›Integration‹ der Abermillionen von ›Zuwanderern‹, denen die vielbeschworene Verantwortung der Deutschen für ihre NS-Geschichte Hekuba ist. Damit wird binnen einer Generation eine neue Wirklichkeit geschaffen, ohne dass die Frage nach Kultur und Kohäsion der ›neuen Gesellschaft‹ überhaupt gestellt wird. Im Blick auf eine derartige, von absehbaren Konflikten gezeichnete ›Zivilgesellschaft‹ bleibt zu konstatieren: Der von Sarrazin befürchtete Abschied von der deutschen Geschichtsnation entspringt der Abkehr von der Wirklichkeit.

Kommt es nicht zu einer grundsätzlichen Umorientierung in der deutschen und europäischen Integrationsdebatte, werden wir ›unser Land‹ in einer Generation nicht mehr wiedererkennen. Fremdheit mag zu den Grunderfahrungen menschlicher Existenz gehören – es handelt sich indes um eine spezifische Erfahrung der europäischen Moderne, die anderen Kulturkreisen fremd ist.

 

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