von Helge Buttkereit

Die Linke in der alten Bundesrepublik hat den Notstand immer bekämpft. In den 1960er Jahren mobilisierte alte und neue Linke gemeinsam gegen die Notstandsgesetze, in den 1970er Jahren gegen den Atomstaat und bis in die 1980er Jahre ging es immer wieder gegen den ›Notstand der Demokratie‹. Wer so lange aktiv ist wie Peter Nowak, der erinnert sich daran. Angesichts der aktuellen Krise konstatiert er: Diese Zeit sei vorbei, der Notstand sei auch in der Linken und bei den Linksliberalen salonfähig geworden, als sie überall den Klimanotstand ausrufen ließen.

Gegen den Notstand der Demokratie unter dem Regime eines Infektionsschutzgesetzes hat die Linke 2020 kaum mobilisiert – sondern, wie zuletzt bei der Novellierung des neuen Gesetzes Mitte November vor allem gegen die Gegner der Regierung. Allerdings ist Protest an sich aufgrund genau dieses Gesetzes auch schwierig. Es lese »sich streckenweise wie ein Polizeigesetz«, stellt der Rechtsanwalt und Bürgerrechtsaktivist Rolf Gössner fest – dabei beschreibt er nur den Zustand vom Frühjahr. Es enthalte »Blanko-Ermächtigungen der Exekutive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwirkung und unterminiere die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Förderalismus«. Dazu werde der Überwachungsstaat forciert. Auch bestehe die Gefahr, dass sich Volk und Regierung an die Notstandsmaßnahmen gewöhnen und das Ausnahmerecht zum Normalzustand wird, so Gössner. Die ›neue Normalität‹ sei nichts anderes als der permanente Ausnahmezustand.

Zum Glück schweigt nicht die ganze politische Linke angesichts dieser Zustände. Nowak und Gössner gehören als Linke zu den Autorinnen und Autoren eines Sammelbandes, den die beiden Verleger des Wiener Promedia Verlags zusammengestellt haben. Die versammelten »mutigen Stimmen«, so Hannes Hofbauer und Stefan Kraft im Vorwort, analysieren die Krise der Gesellschaft, der Demokratie, der Wirtschaft, der Linken oder auch der Gesundheitspolitik aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. Mit klarem Blick, unaufgeregt – so dies bei diesem Thema geht – und lehrreich.

So nimmt sich beispielsweise Hannes Hofbauer gemeinsam mit der Wiener Geschichtsprofessorin Andrea Komlosy das »neue Akkumulationsmodell« vor. Im Zuge der Digitalisierung entstehe ein Plattform-Kapitalismus, der menschliches Verhalten auswertet und darauf neue Produkte gestaltet. Auch die Gesundheit wird überwacht – man denke an Schrittzähler und Co. – und es wird versucht, den menschlichen Körper in vielerlei Hinsicht zu verwerten. »Die menschliche Gesundheit bzw. Krankheit ist eines der zukünftig vielversprechendsten Einfallstore im Sinne neuer Kapitalverwertung«, schreiben die Autoren.

Für die Pharmaindustrie (und die Digitalwirtschaft) ist es deshalb sehr hilfreich, dass sie mittlerweile durch ihr Geld die Weltgesundheitsorganisation maßgeblich finanziert. Dies wird bereits seit einiger Zeit kritisch hinterfragt – beispielsweise in einem Beitrag im Deutschlandfunk aus dem Jahr 2018. Daran erinnert Andrej Hunko. Der Bundestagsabgeordnete der Linken fordert unter anderem, dass die WHO künftig von privaten Geldgebern unabhängig und wirksam sowie idealerweise parlamentarisch kontrolliert wird. Hunko hegt allerdings Zweifel, dass dies angesichts der aktuellen Entscheidungsträger gelingt.

Neben der Gesundheitspolitik ist auch die Medizin mit dem Vorsitzenden des »Deutschen Netzwerks Evidenzbasierter Medizin« Andreas Sönnichsen vertreten, der die Maßnahmen der Regierungen scharf kritisiert und ihre Wirksamkeit auf Basis einer Vielzahl an Studien in Frage stellt. Die linken chinesischen Aktivisten vom Chuag Blog verorten die Entstehung von immer mehr Seuchen in der weltweiten Kapitalisierung der Landwirtschaft, die in China weit vorangeschritten ist. Ihr Text ist ein interessanter Einblick in eine originär linke Sicht auf das aufstrebende kapitalistische Land mit vorgeblich kommunistischer Führung. Der italienische Arbeitsmediziner Armando Mattioli wiederum erläutert die Gründe für die Krise in Italien, die nicht auf Sars-CoV-2 zurückzuführen sei »sondern auf die von der EU gewünschte neoliberale Sparpolitik«.

Die Beiträge sind allesamt auf hohem intellektuellen Niveau und gleichzeitig gut lesbar. Der emeritierte Politik-Professor Joachim Hirsch aus Frankfurt leistet Staatskritik, Walter von Rossum kritisiert die Medien und der Wuppertaler Kunstpädagogik-Professor Jochen Krautz die Digitalisierung von Bildung. Die Vielfalt der Themenwahl zeugt davon, wie tiefgreifend die Krise ist und wie sehr sie das Leben der Menschen verändert. Auch die Kulturpolitik, Fußball oder die Auswirkung auf das Leben der Jugend kommen in den Blick.

Welch große Bedeutung die aktuelle Politik mit ihren autoritären und repressiven Zügen für die Einzelnen hat, arbeitet der Kölner Bildungswissenschaftler Matthias Burchardt heraus. Sein Text ist – unter den ansonsten ausnahmslos guten – vielleicht der beste Beitrag des ganzen Buches. In seinem »Versuch über den Homo hygienicus« beschreibt Burchardt, wie sich die Krise in der Psyche der Menschen festgesetzt hat. Der ›Lockdown‹ des sozialen Raums hat, so stellt er fest, tiefgreifende Folgen für das menschliche Verhalten. Wir konnten (und könnten teilweise immer noch) keine Gottesdienste, Theater, Beerdigungen, Hochzeiten, Konzerte oder Demonstrationen besuchen und sind auf unsere vier Wände zurückgeworfen – zum Leben und oft auch zum Arbeiten. In dieser tristen Einsamkeit wird dann auch die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben aufgehoben.

Die Maßnahmen, die massenhaft propagiert und ideologisch aufgeladen wurden, führen dazu, dass wir die Mitmenschen nicht mehr als solche, sondern als potentielle Gefährder weil Virusschleudern wahrnehmen. Die Maske trage eine Distanzbotschaft mit sich und, schreibt Burchardt weiter, sie »konfrontiert uns mit unseren Absonderungen, die sich in ihr sammeln«. Absonderungen, die den anderen infizieren können. So nehmen wir uns also auch selbst als Infektionsherd wahr und vereinzeln uns. Die Vereinzelung aber nützt dem Kapital und vor allem der Digitalwirtschaft.

»Kontrolle und Steuerung aber widersprechen ganz entschieden dem Geist der humanistisch-aufklärerischen Demokratien. Die Körperlosigkeit und Enträumlichung des sozialen Lebens missachten die leibliche Existenz der Menschen und seine Angewiesenheit auf Nähe und Berührung. Der Traum von der hygienischen Unsterblichkeit mündet in der Isolationshaft, deren Tristesse durch digitale Prothesen und Sozialsurrogate nicht dauerhaft überspielt werden kann«, schreibt Burchardt. Er erinnert daran, dass ein Zuviel an Hygiene und Desinfektion krank macht und das Immunsystem verkümmern lässt. Man würde sich wünschen, die politische Linke machte sich diese banalen Erkenntnisse zu eigen und setzte sich für eine Resozialisierung des Lebens ein – ein notwendiger Weg hin zu einer derzeit zweifellos weit entfernten Sozialisierung der Wirtschaft.

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