III.

Damit bin ich wieder zurück beim Essay von 1952, der getragen wird von einem Verständnis vom Menschen, das eindeutig anthropologisch argumentiert, d.h. mit dem menschlichen Wesen. Das ist noch heute bei den meisten Linken eine Provokation und war damals, vor nun 60 Jahren, eine wirkliche theoriepolitische Revolution. Moneta fordert hier eine ›neue Anthropologie‹, die davon ausgehen müsse, dass der Mensch unteilbar sei, dass man ihn nicht künstlich aufspalten dürfe in ein ökonomisches, in ein politisches oder in ein kulturelles Wesen. Der Mensch sei ein ganzheitliches Wesen und es gebe dieses ganzheitliche Wesen, dieses Gattungswesen Mensch nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Wirklichkeit – nämlich als ansatzweisen Aufschein des Möglichen und als theoretisch-praktische Aufgabe, als konkrete Utopie im besten Sinne des Wortes.

Moneta hat diese neue Anthropologie später nicht weiter theoretisch durch dekliniert. Das war erstens nicht seine Sache und zweitens hat dies ein anderer Theoretiker für ihn getan – und zwar niemand geringeres als Leo Kofler. Moneta hat mit Kofler damals, in den Jahren 1951/52, sehr viel diskutiert und politisiert, weil er den austromarxistischen Einzelgänger nach dessen Flucht aus der sich stalinisierenden DDR in seinem Kölner Haus am Brüsseler Platz aufgenommen hatte. Dort saßen dann Moneta, Kofler und der junge Ernest Mandel häufig zusammen und diskutierten über Gott und die Welt. Sowohl Kofler wie auch Moneta arbeiteten damals parallel an Schriften gegen den Stalinismus und Kofler entwickelte in jener Zeit auch die Grundlagen seiner philosophischen Anthropologie, die er als Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderung fasste – und die dann übrigens auch eingegangen ist in Ernest Mandels großes, zweibändiges Werk über die Marxistische Wirtschaftstheorie, an der Mandel schon damals arbeitete. Und weil Moneta einen sensiblen Blick hatte für andere Menschen und ihre Fähigkeiten, hat er nicht nur erkannt, wie originell Kofler gewesen ist, sondern auch, wie wichtig dessen Idee einer marxistischen Anthropologie in den geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit war und ist. Zu seinen Lieblingsliedern gehörte deswegen auch das alte US-amerikanische Arbeiterlied »Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen«, das auf einen Streik von mehr als 20.000 Textilarbeiterinnen mit Migrationshintergrund (wie man heute sagt) in Massachusetts (USA) zurückgeht, die 1912, also vor genau hundert Jahren, erfolgreich für einen gerechten Lohn, sprich: Brot, und für eine menschenwürdige Arbeits- und Lebensumgebung, sprich: Rosen, kämpften. In der Theorie sind wir dieser neuen Anthropologie in den vergangenen Jahrzehnten marxistischer und nichtmarxistischer Diskussion ein gehöriges Stück näher gekommen – praktisch leider nicht. Das liegt auch an der Linken selbst, an ihrer Unfähigkeit und Unwilligkeit, zu lernen. Mehr noch aber liegt es wohl an den herrschenden Verhältnissen, gegen die Linke zu Recht aufbegehren.

Monetas Idee und Forderung einer neuen Anthropologie ist aber nur ein Aspekt des Essays von 1952, in dem sich sein Leben und Werk exemplarisch verdichtet. Ein weiterer Aspekt ist sein schon dort zutage tretender Anti-Neoliberalismus. Es ist kein Zufall, dass sowohl Moneta wie Kofler die Notwendigkeit einer anthropologischen Grundlegung sozialistischer Politik in direkter Auseinandersetzung mit den neoliberalen Vordenkern Röpke, Eucken und auch Hayek begründen, und auch in direkter Auseinandersetzung mit den stalinistischen Sozialismusformen. Wer sich wie die beiden um eine ernsthafte, auch politisch-philosophische Kritik des bürgerlichen Liberalismus bemüht und deren einfache Negation in Form eines ebenso mechanistisch-vulgären wie autoritär-despotischen Sozialismus-Verständnisses scheut, wird nicht um die Frage nach einem Maßstab seiner doppelten Kritik herumkommen. Und wer ein Sensorium entwickelt hat für das spezifisch neo-liberale Menschenbild und seine ideologische Verführungskraft, der kann sich mit einer rein ökonomietheoretischen Kritik des Neo-Liberalismus nicht zufriedengeben. Es ist heute leider Mode geworden, den Streitern gegen den Neo-Liberalismus zu unterstellen, sie würden ja gar nicht gegen den Kapitalismus an sich rebellieren, sondern nur gegen den neo-liberalen Kapitalismus. Nun, bei Moneta kann man lesen und lernen, warum der Kampf gegen den Neoliberalismus immer auch ein Kampf gegen den Kapitalismus an sich ist.

Damit bin ich beim dritten Aspekt, bei Monetas Radikalismus im besten Sinne des Wortes. Moneta strebte gern an die Wurzel der Dinge (ohne dabei die Bodenhaftung an der gesellschaftlichen Oberfläche zu verlieren) und kritisierte die Halbheiten bürgerlich-demokratischer Emanzipation ebenso scharf wie er die Halbheiten einer proletarisch-sozialistischen Emanzipation kritisierte. Moneta kannte seinen Marx und auch die Geschichte der Emanzipationskämpfe. Er wusste, dass die Rezepte der Marktwirtschaft keine emanzipativen Lösungen bieten, ebenso wenig wie die Rezepte einer sozialistischen Bürokratie Wege nach Utopia weisen. Und so verbinden sich in dem Essay Monetas Antikapitalismus und sein Antistalinismus mit der Idee einer neuen Anthropologie zu einem radikaldemokratischen, sozialistischen Humanismus, der nicht zum schlechtesten Erbe des 20.Jahrhunderts gehört. Monetas sozialistischer Humanismus kam aber unaufdringlich daher und war gleichermaßen Zielvorstellung wie auch persönlich gelebtes Ethos. Moneta war entsprechend empfänglich für die bei den meisten Linken noch immer vernachlässigten Fragen einer emanzipativen Ethik und er nahm die radikal-demokratischen Versprechen der frühbürgerlichen Aufklärungstradition ebenso ernst wie die Emanzipationsversprechen des alten Arbeiterbewegungsmarxismus. Niemals hat er sich darauf verlassen, dass wo Demokratie drauf steht auch Demokratie drin ist, oder, dass wo Sozialismus drauf steht auch Sozialismus drin ist, denn beide gehörten für ihn untrennbar zusammen. Ein konsequenter Demokrat müsse eben auch Sozialist sein, wurde er nicht müde zu betonen. Und kein Sozialist verdiene Glaubwürdigkeit, der nicht verstanden habe, dass demokratische Freiheiten eine Errungenschaft sind, die man für keine noch so schön gemeinte Erziehungsdiktatur suspendieren kann. Sich von dieser radikal-demokratischen Aufgabe nicht bürgerlich vereinnahmen zu lassen, das hat er verstanden – nicht zuletzt, weil er nicht vergessen hat, dass demokratische Fortschritte in den letzten beiden Jahrhunderten nur gegen jene bürgerliche Klasse durchzusetzen waren, die doch gleichzeitig als deren vermeintlich natürlicher Exponent betrachtet wird.

Wir finden weitere Aspekte in dem Essay von 1952. In der für die damalige Zeit ausgesprochen bemerkenswerten Kritik am liberalen carpe diem, das im Angesicht der menschlichen Grabhügel der jüngsten Geschichte geradezu gespenstisch anmute, findet sich das Erbe eines enttäuschten jüdisch-marxistischen Messianismus, in der ernsthaften Rede von der ›Sünde wider den Menschen‹ das christliche Erbe. Im Insistieren, dass die Mittel der Emanzipation alle vorhanden sind, und dass man nur den Mut haben müsse, sie anzuwenden, finden wir seinen ebenso trotzigen wie tatkräftigen Optimismus. Und in der im Essay gleich zu Beginn zu Tage tretenden Wertschätzung eines deutschen Juden und Sozialisten für den deutschen Erbfeind, für die französische Grande Nation und deren Lebensart drückt sich sein ganzer Internationalismus aus. Nur wenige Monate, nachdem dieser Essay veröffentlicht war, ging Moneta als Botschaftsattaché nach Paris und vermischte dort Diplomatie mit internationalistischer Subversionsarbeit für die algerische Revolution. Für ihn waren Grenzen zum Überschreiten da, auch und gerade die nationalen. Das war die gelebte und gepflegte Erfahrung eines wirklichen Internationalisten und eines selbstbewussten Deutschen, dem ›Deutschland‹ – in einer Formulierung Peter Brückners – ebenso sehr ein objektiver Schuldzusammenhang war, aus dem Antifaschismus und Dissidenz nicht entließen, wie er einen Horizont künftiger gesellschaftlicher Praxis bezeichnete. (1987, S. 151)

Ein weiterer hier zu benennender Aspekt der essayhaften Verdichtung von Leben und Werk ist Monetas politisch-journalistischer Stil. In der Essay-Form von 1952 finden wir bereits jene Kunst des Kolumnisten, mit der er später seinen Ruf als politischer Journalist begründen sollte, ob als Chefredakteur der IG Metall-Zeitschriften oder, noch später, als Kolumnist bei der was tun und bei der SoZ. Bereits in diesem frühen Essay verbindet sich der spezifisch journalistische Blick mit der politisch-philosophischen Methodik. Auf angenehme Weise belehrend mischte Moneta auch in seinen späteren Kolumnen aktuelle Fragen mit grundsätzlichen, Alltagsbegebenheiten mit politischen Großwetteranalysen, Deutsches mit Internationalem, politische Argumente mit sozialgeschichtlicher Aufklärung. Und immer wieder finden wir bei ihm die emphatische Betonung der Arbeit am Bewusstsein. Ob als Journalist und Publizist oder als Gewerkschafter und Intellektueller, ob als Herausgeber und Übersetzer oder als Mitglied der SPD und, unter der Hand, der Gruppe Internationaler Marxisten (GIM), ob als späteres Mitglied der Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) oder der nun gesamtdeutschen Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) – Jakob Moneta hat immer Position bezogen, sich eingemischt und Bewusstsein angestoßen, sei es im direkten Gespräch oder in Gremiensitzungen, sei es auf Tagungen und bei Vorträgen oder mit seinen zahllosen publizistischen Texten und Kolumnen. Politischer Journalismus war ihm vor allem die aktive Veränderung von Bewusstsein, der ewige Kampf um die Köpfe der Menschen. Er hatte was zu sagen. Und er hat gerne angestoßen und gefördert, konnte aber auch zuhören und das Gehörte und Erlebte verarbeiten. Sektierertum, die selbstgewählte Abschottung gegen andere, waren ihm fremd, obwohl er sich seines gesellschaftlich marginalisierten Standpunktes immer bewusst blieb. Ihm war klar, dass er nicht in Zeiten des Barrikadensturmes lebte. Doch ein Grund, deswegen nicht mehr alles zu wollen, war auch dies für ihn nicht. So nahm auch Moneta etwas von jenem Geist geistloser Zustände an, den man nicht nur von Marx, sondern auch aus der populären Kultur kennt: »Man gets tired, Spirit don’t / Man surrenders, Spirit won’t / Man crawls, Spirit flies / Spirit lives when Man dies / Man seems, Spirit is / Man dreams, Spirit lives / Man is tied, bound, torn, Spirit free / What Spirit is, Man can be!« (The Waterboys*)

Damit komme ich zum letzten Aspekt des Essays, in dem sich für mich Monetas Leben und Werk verdichtet – zu einer Eigenschaft, mit der ich von seiner politischen zu seiner menschlichen Haltung überleite. Ich habe erwähnt, dass er die Idee einer ›neuen Anthropologie‹ in gemeinsamen Diskussionen mit Leo Kofler erarbeitet hat. Und das ist nicht untypisch für Moneta gewesen. Er hatte nämlich eine seltene Fähigkeit, originelle Menschen und Denker zu entdecken, sich von ihnen beeinflussen zu lassen und sie auch weiterzudenken. Er hatte eine seltene Fähigkeit, junge Talente in der politischen Theorie wie in der politischen oder journalistischen Praxis zu erkennen und zu fördern, und er ging dabei auf eine bemerkenswerte Weise ebenso selbstbewusst wie selbstlos vor. Moneta war ein Trüffelschwein und ein Vermittler, er suchte zeitlebens nach dem Neuen im Alten, suchte nach neuen Trends und Talenten und vermittelte diese geschickt in die Milieus, in denen er sich gerade bewegte. Er war deswegen ein großer Anreger und Förderer und gelegentlich auch ein Mahner. Sein Organisationstalent war dabei vor allem ein Talent zur Vermittlung, ein Netzwerk-Talent. Wie viele Menschen, namhafte wie weniger namhafte, hat Moneta in seinem langen Leben selbstlos gefördert, und zwar gefördert, ohne sie dabei an der Messlatte seiner eigenen politischen Meinung scheitern zu lassen? So suchte er in den Menschen, die seinen Lebensweg kreuzten, die spezifische Individualität und beförderte deren Entfaltung, wo immer er konnte. Er wollte das ganze Leben, er wollte Brot und Rosen – nicht nur für sich allein, sondern für alle.

Mit dieser Haltung hat er vielen Menschen nicht nur geholfen, sondern sie auch verändert. Auch mit der Veränderung von Menschen kann man die Welt ein Stück weit verändern. Monetas Parteinahme für die Ohnmächtigen dieser Welt war die Vorbereitung einer nicht nur ihm eigenen Zukunftsvision und hatte dabei viel von einem geduldigen Bohren dicker Bretter. Mag er im Stillen auch manches Mal dabei schwach geworden sein – wir wissen es nicht, aber wahrscheinlich ist es doch –, so hat er sich diesem geduldigen Bohren dicker Bretter nichts desto trotz zeitlebens verschrieben. Die Ausdauer und der optimistische Elan, mit der der linke Aufklärer diese Arbeit verrichtete, sind bewundernswert. Die meisten seiner linken Zeitgenossen haben diese Standhaftigkeit im Zeitalter des Skeptizismus nicht aufzubringen vermocht. Sie haben irgendwann aufgegeben oder sind bürokratisch oder sektiererisch erstarrt. Nicht so Jakob Moneta – und das macht ihn so besonders! Im stolzen Alter von 97 Jahren ist Jakob Moneta am 3. März 2012 in einem jüdischen Altenheim in Frankfurt/M. gestorben.

Literatur:

PETER BRÜCKNER: Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945 (1980), Berlin 1987
CHRISTOPH JÜNKE: »Wann ist der Mensch ein Mensch? Leo Koflers anthropologische Utopie«, in Verena Di Pasquale u.a. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen – zwischen Realität und Utopie, Münster 2006, S.70-78 (Online-Fassung unter: http://www.linksnet.de/de/artikel/20294)
CHRISTOPH JÜNKE: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995), Hamburg 2007
LEO KOFLER: Perspektiven des revolutionären Humanismus, Reinbek bei Hamburg 1968 (Neuauflage Köln 2007) LEO KOFLER: Aggression und Gewissen. Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, München 1973 ERNEST MANDEL: Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1962/68 (Neuausgabe Köln 2007)
JAKOB MONETA: »Schweizer Erfahrungen oder das Unbehagen in der Sattheit«, Erstveröffentlichung in: aufklärung, II. Jahrgang, Heft 3, Oktober 1952, S.180-189. Nachdruck in Utopie kreativ, Heft 109/110 (November/Dezember 1999), S.30-38 (online unter: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/109-10/109_10_Moneta.pdf); außerdem erschienen, und mit einem aktualisierenden Nachwort Monetas versehen (»Ein halbes Jahrhundert danach: der rückschrittliche Fortschritt«), in Christoph Jünke (Hg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20.Jahrhundert, Münster 2001, S.78-95. Zitate nach dieser Ausgabe
JAKOB MONETA: Mehr Macht für die Ohnmächtigen. Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1991
JAKOB MONETA: Solidarität im Zeitalter des Skeptizismus. Kommentare aus drei Jahrzehnten, Köln: SoZ-Verlag 2004 - darin befindet sich eine kleine Auswahl der im Text erwähnten Kolumnen
JAKOB MONETA: Gesprächsbeitrag in: »So war er eben: unbeugsam« zum Buch Begegnungen mit Leo Kofler. Ein Lesebuch (hrsg. von Uwe Jakomeit u.a.), Köln 2011, S.65-73
JAN-WILLEM STUTJE: Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923-1995), Hamburg 2009.

* »Der Mensch ermüdet, der Geist nicht / Der Mensch kapituliert, der Geist wird es nicht / Der Mensch kriecht, der Geist fliegt / Der Geist lebt, wenn der Mensch stirbt / Der Mensch ist Schein , der Geist ist Sein / Der Mensch träumt, der Geist lebt / Der Mensch ist gebunden, eingebunden und zerrissen, der Geist frei /Was der Geist ist, kann der Mensch sein!« The Waterboys: Spirit, 1986.

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