von Aram Ockert

Als vor 78 Jahren, am 8. Mai 1945, Deutschland endlich kapitulierte, da hätte sich von den Deutschen, für die dieser Tag ein Tag der Befreiung war, niemand vorstellen können, dass eine Mehrheit der Landsleute dies irgendwann einmal ebenso sehen würden.

Dieses Jahr ist der Tag der endgültigen militärischen Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg erstmalig auch ein von der Bürgerschaft im letzten Jahr beschlossener Gedenktag in Hamburg. Ein Prélude dafür, aus dem 8. Mai einen echten Feiertag zu machen.

Noch wird anlässlich des 8. Mai über die Art der Beflaggung gestritten, denn wiewohl noch kein gesetzlicher Feiertag, wird doch in Hamburg auch in den Bezirksversammlungen diesem 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, mit überwiegender Freude gedacht. Das geht dann bisweilen so weit, dass man diesen Tag nur noch aus heutiger Sicht beurteilen möchte. Soweit, so konsensual, aber während man von links her gerne die blaue Flagge mit der Friedenstaube bevorzugt, gab es in Bergedorf Streit mit CDU und AfD, die lieber die Hamburg- und Deutschlandflagge aufzögen. Der Senat hat nun dafür gesorgt, dass alle drei Flaggen der Freude über die Niederlage Ausdruck verleihen dürfen.

Seit am 8. Mai 1985 Richard von Weizsäcker (CDU) dieses Datum, als die Nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland gleich dem Land in Trümmer gefallen war, als ›Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft‹ bezeichnete, glauben die Menschen in Deutschland noch fester, dass der Nationalsozialismus wie ein Fluch über die Deutschen kam, von dem die Alliierten uns alle befreiten. Aber so war es nicht.

Lange bevor Götz Aly uns über Hitlers Volksstaat (FFM, 2005) belehrte und ins Bild setzte, hatte schon der ehemalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger sich 1988 anlässlich des 50. Jahrestages der ›Reichskristallnacht‹ (heute Reichspogromnacht) des Themas deutscher Involviertheit in den NS-Staat angenommen und damit an einem Tabu sogenannter deutscher Vergangenheitsbewältigung gerührt.

Noch während Jenninger, der auch zuvor noch nie als besonders begabter Rhetoriker aufgefallen war, sprach, verließen grüne Abgeordnete den Plenarsaal. Nicht aus Gram über das Gesagte, sondern weil sie das vermissten was ihnen wichtig gewesen wäre, Pathos und tremolierte Betroffenheit. So entstand das Gerücht, Jenninger habe die (NS) Zeit gelobt, weil er nicht verschwiegen habe, dass die Deutschen sie in ihrer überwiegenden Mehrheit, zumindest und in jedem Fall im Jahr 1938 gut fanden. Das war zugleich das Jahr, in dem jedem Volksgenossen vor Augen geführt wurde, dass Juden im Reich nur noch als erniedrigte, geknechtete, verlassene und verächtliche Wesen – wenn überhaupt – akzeptiert würden. Jenninger, der in den Jahren zuvor schon mal als Bilderstürmer in einer Steack-Ausstellung in Bonn aufgefallen war, hatte sich für diese Rede offensichtlich Zeit genommen und sie sich offenbar schwer erarbeitet und feststellen müssen: Das 3. Reich funktionierte nicht gegen die Mehrheit sondern durch die Mehrheit. Dies sollte ihm, der wohl noch nie weiter vom Nationalsozialismus entfernt war als zu diesem Zeitpunkt, den Vorwurf der Verharmlosung einbringen. Von seinen Parteifreunden widersprach keiner, obwohl sie es sehr wohl besser wussten. Die Grünen feierten den Rücktritt als ihren Sieg. Was hätten sie auch tun sollen. Nachdem sie die Rede lasen, wussten sie, dass sie sich des Zuhörens als nicht besonders mächtig erwiesen hatten. Aber natürlich blieben sie bei der einmal eingenommenen Position, teilweise mit der Rechtfertigung, es käme nicht darauf an, was Jenninger gesagt habe, sondern wie er es gesagt habe.

Den Grünen gebührt zuvörderst das Verdienst, die Erzählung von der ›Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft‹ gerettet zu haben, von der uns die Alliierten befreiten. Damals 1988 hätte man noch die Kurve kriegen können, hätte Jenninger nur über einen klitzekleinen Hauch grüner Betroffenheitsrhetorik verfügt. Es hätte dieses eine Mal so wichtig sein können, hätte womöglich auch die Geschichte dieses Landes verändert. Macht es doch einen fundamentalen Unterschied, ob man sich als Befreiter oder Besiegter fühlt. Im ersten Fall lässt sich der Nationalsozialismus externalisieren und als äußere Bedrohung von einem selbst isoliert betrachten. In Letzterem wüsste man, dass die Gefahr eine ist, von der man von außen nicht emanzipiert werden kann.

Natürlich stellt sich aus heutiger Perspektive der 8. Mai als Zeitpunkt des Beginns einer Befreiung da. Das würden nur Nazis und mit Recht bestreiten. Aber die Gefahr, die sich im Nationalsozialismus einst materialisiert hat, geht nicht von den Nazis aus, die es kaum noch gibt, sondern lauert in jedem von uns. Sie begegnet uns immer dann, wenn wir von etwas absolut Gutem oder Schlechtem ausgehen und daraus Handlungsvollmachten beziehen. Das funktioniert auch ohne Überhöhung der eigenen Nation oder dem ideologischen Konstrukt der Rasse, wiewohl man die Gefahren hier nicht unterschätzen sollte!

Im Grunde genommen ist es völlig egal, wie wir uns selbst konditionieren, damit am Ende nur noch der Dualismus von Freund und Feind übrig bleibt. Angelangt an diesem Punkt, wo jeder Pluralismus aufgehoben ist, herrscht Faschismus. Ob wir das so nennen oder nicht ist nicht von Belang. Da wo die Freiheit von einigen oder vielen infrage gestellt wird, ist die Freiheit aller infrage gestellt. Auch den Feinden der Freiheit müssen im Übrigen bürgerliche Freiheit zukommen. Das Recht auf Freie Rede hat für jeden zu gelten. Die Resilienz gegenüber Bestrebungen gegen die Freiheit, entsteht erst durch die Freiheit ggf. auch gegen diese agitieren zu dürfen.

Zwar führt der Zustand idiotischer Eindeutigkeit, in dem es nur noch Gut und Böse in seiner reinen Form gibt, noch nicht dazu, dass eine Gesellschaft sich in ein faschistisches Gemeinwesen transformiert, aber es legt die Grundlage dafür, dass es beim Zusammentreffen verschiedener Bedingungen geschehen könnte. Es verließe das Stadium der Latenz und würde virulent. Antifaschismus kann dabei zur hohlen Phrase verkommen, wenn das Augenmerk nur noch auf eine spezifische historische Formation gelegt wird, die so nicht wiederkommen wird.

Schon der mörderische Antisemitismus, der auf einer Idee von Rasse aufbaut, die sich im 19. Jahrhundert mit Fug und Recht auf die Wissenschaft beziehen konnte, kann sich heute nur noch als rein ideologisches Konstrukt auf die politische Bühne begeben und ist so saft- wie kraftlos, weil die positiven Anknüpfungspunkte fehlen. Zwar kann man den Antijudaismus, den man weiterhin Antisemitismus nennen wird, noch über eine primitive Finanzmarkt-kapitalistische Erzählung transportieren, aber eben nicht über den ›Internationalismus des Judentums‹, weil dieser Internationalismus sich zu weit und zu erfolgreich durchgesetzt hätte, als das sich damit noch ein Erschrecken bei einer relevanten Minderheit organisieren ließe.

Die Formierung des gemeinschaftlichen Kollektivs, dass der Minderheit diktiert, was das richtige Leben ist, kann heute nicht mehr unter der rechten Fahne positiv hergestellt werden, sondern nur noch als Abwehrschlacht gegen eine Formierung der Gesellschaft, die zunehmend darauf besteht, dass ihre Idee vom richtigem Leben nicht mehr hinterfragbar sein soll. Dabei ist die Gemengelage deswegen so kompliziert, weil die Idee vom richtigem Leben dieser Mehrheit bzw. hegemonialen Minderheit tendenziell richtiger ist, als die dagegen stehende abwehrende Haltung. Diese aber wiederum zu Recht darauf besteht, dass sie sich mit genau so viel Legitimität in Szene setzen darf, wie ihre Antagonisten. Dabei ist diese Feststellung natürlich grob und im Detail nicht vernünftig anwendbar, sondern nur prinzipiell.

Die wichtigste Erkenntnis für Demokratie, droht unter die Räder zu geraten: Entscheidungen werden besser, wenn Widerspruch zugelassen, oder besser noch, erwünscht ist. Demokratie ist ein Prinzip, dass sich nicht deswegen bewährt hat, weil es der moralischen Vorstellung von der Freiheit des Individuums und seiner Würde am nächsten kommt, sondern weil es am effektivsten war und vermutlich immer noch ist. Gelebte Freiheit der Kritik, boostet gute Entscheidungen, jedenfalls auf Dauer und unter der Bedingung des Mehrheitsentscheids.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten eine Idee davon, dass sich die freiheitliche Ordnung selbst am ehesten garantiert, dass sie sich erhält, wiewohl es dafür auch keine Garantie gibt. Später (1968) wurde mit Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz jedermann ein Recht auf Widerstand einräumt, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, diese Ordnung zu retten. Zwar ist dieses Recht eher Theorie, aber eine, die den Kern der Freiheit mit einem Ausrufezeichen versieht. So ist auch die Ermächtigung zur Ausschaltung der Konkurrenz zu sehen, die in Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz angelegt, aber nur durch das BVerfG zu exekutieren ist. Die Freiheit darf nur dann eingeschränkt werden, wenn zu befürchten ist, dass die Mehrheit macht-missbräuchlich in einer absehbaren Zukunft, die Freiheit suspendieren könnte. Die Angelegenheit ist mehr als widersprüchlich und deshalb niemals befriedigend zu lösen. 

Wenn diese nicht aufzulösende Widersprüchlichkeit benutzt wird, um sich einseitig unter der Flagge der Freiheit, für die Unfreiheit moralisch fragwürdiger Positionierungen einzusetzen, dann unterminiert das aber gerade die Ordnung, die man schützen möchte, weil sie in ihrer Geltung konditioniert und beschränkt wird auf das richtige Ergebnis, das nicht mehr dem demokratischen Prinzip zu ermitteln anheim gestellt wird, sondern a priori Geltung beansprucht. Das ist Faschismus 2.0 und gerade deswegen zu bekämpfen, weil es eben nicht eine dumpfe und plumpe Wiederaufführung in der erborgten Kostümierung der NSDAP ist, sondern diesmal als antifaschistisch positioniert daher kommen wird. Vom totalitärem Inhalt wird bestens abgelenkt, indem ein relativer Popanz grell angestrahlt und inszeniert wird, der in der Tat jede Verachtung verdient, ebenso wie seine Instrumentalisierung als Mittel zur Einengung der Meinungspluralität.

Hierauf ist zu bestehen, weil die kontroverse Diskussion den Pluralismus als Bedingung für die beste Entscheidung einübt und internalisiert. Der denkende Mensch begibt sich ständig in Sackgassen, Irrwege usw. und lernt so sich zu orientieren. Die falsche Meinung ist zugleich die Voraussetzung für die richtige Meinung und bleibt gleichzeitig Illusion, weil es immer etwas zu verbessern gibt. Positionierung ist immer Prozess, Wahrheit stets relativ. Umso wichtiger ist es, dass man diese Grundbedingung für Freiheit einübt und ein Leben lang praktiziert und versteht, dass Interesse, Perspektive, individuelle Erkenntnismöglichkeiten usw. Ermöglichung und Begrenzung von Erkenntnis zugleich sind und man deswegen gerade auf andere Meinungen dringend angewiesen ist.

Die Kultur der Ausgrenzung hat trotzdem ihre Berechtigung. Meinungen die langweilig sind, keine intellektuelle Herausforderung bieten oder einfach nur dumm sind, muss man nicht beachten. Es sei denn, sie treten in relevanter Anzahl auf. Dann sind sie bedeutend, weil sie Anhänger um sich zu scharen wissen.

Ob nun aus Respekt vor der Demokratie oder aus der Angst vor ihr, man muss sich argumentativ auseinandersetzen, wenn man Gefahr vermutet. Der Ausweg der Tabuisierung verbietet sich schon deswegen, weil dass nur ggf. die Anhängerschaft begrenzt, wenn es sie nicht gar gerade deswegen erhöht. Die Aufgabe besteht aber darin, dass man versucht, sich mit Argumenten Gehör zu verschaffen. Wer diese Mühen scheut, ist kein Freund der Demokratie, in der die Mehrheit völlig unabhängig von richtigen oder falschen Erörterungen die Macht besitzen sollte zu entscheiden. Man kann vielleicht eine Weile verhindern, dass sich die Repräsentanten dem Mehrheitswillen beugen, am Ende aber entscheidet die Mehrheit doch.

Wer auf die Idee setzt ›keine Freiheit, für die Feinde der Freiheit‹, der setzt ausschließlich auf das Dämmebauen und das Hoffen, der Damm möge nicht brechen. Das Dumme dabei ist, dass gerade dadurch zugleich alles für die Unfreiheit vorbereitet wird. Wenn der Damm bricht, ist alles verloren. Wenn aber in einer Gesellschaft der Grundton der der Kritik, der kritischen Debatte und der Akzeptanz widersprechender Meinungen ist, steigt die gesellschaftliche Resilienz gegen unhinterfragbare Wahrheiten. Mehr Antifaschismus geht nicht.

Deswegen ist Befreiung vom Faschismus auch ein Prozess der niemals aufhört, weil der Faschismus, der Wunsch nach absoluten Gewissheiten und allem Bösen was daraus folgt, sich niemals auflösen wird. Allerdings konstituiert er sich häufig in der Verkleidung einer Kraft, die nur das Gute will und schon das sollte sehr misstrauisch machen. Die Sache funktioniert am Ende nur umgekehrt.

Es sind Kritik und die Negation, die das Mehr an Erkenntnis ermöglichen.

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