von Rolf Schwanitz

Im Verlaufe meiner politischen Tätigkeit in Amt und Mandat habe ich auch unzählige Diskussionen über den Zustand der früheren DDR-Wirtschaft erlebt. Nostalgie und Wehmut sind damals, in den 90er Jahren, nur selten aufgekommen. Zu nah und klar waren noch die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen der Menschen an die maroden Zustände im untergegangenen ostdeutschen ›Arbeiter- und Bauernparadies‹. Brauchte es in solchen Debatten für allzu Vergessliche dennoch eine kleine ›Erinnerungshilfe‹, so hatte ich stets zwei kleine Zettel dabei. Der erste Zettel war ein kleiner Auszug aus dem sogenannten ›Schürer-Papier‹ – jenem Geheimbericht, der dem SED-Politbüro nach Honeckers Sturz erstmalig ziemlich ungeschminkt das wirtschaftliche Desaster vor Augen führte. Es reichte hier schon ein Blick auf die ausgewiesenen Verschleißgrade der Wirtschaft, um jede DDR-Nostalgie zu vertreiben. Der zweite Zettel war meine eigene PKW-Anmeldung aus alten DDR-Zeiten. Sie stammte aus dem Jahr 1980 und versprach mir, nach einer zwölfjährigen Wartezeit, für das Jahr 1992 erstmalig den Erwerb eines neuen Trabi. Noch schöner als diese, heute kurios anmutende, in der DDR-Mangelwirtschaft aber normale, Langzeitbestellung waren die Geschäftsbedingungen, die der VEB IFA-Vertrieb auf die Rückseite dieses Bestellscheins aufgedruckt hatte. Hier war zu lesen, dass der Kunde aus dieser PKW-Bestellung weder ein Recht noch einen Anspruch auf den Autokauf habe, im Falle des Verlustes der Bestellung aber jeder Kauf ausgeschlossen sei. Natürlich war die Bestellung erst ab dem vollendeten 18. Lebensjahr möglich, personengebunden und nicht übertragbar. Man hatte jede Veränderung des Namens oder der Adresse dem IFA-Vertrieb mitzuteilen – sonst war die Bestellung erloschen. Bei Aufgabe der Bestellung auf dem Postweg ging das Risiko des zufälligen Untergangs vollständig zu Lasten des Bestellers. Außerdem war ausdrücklich vermerkt, dass ohne diese Bestellung auch keinerlei Auskünfte erteilt werden. Schöner konnte der Zustand der Mangelwirtschaft und die Entrechtung der Kunden beim PKW-Kauf in der DDR kaum beschrieben werden und niemand, der daran erinnert wurde, wollte in solche Zustände zurück.

Damals, vor fast drei Jahrzehnten, konnte die ›Erlebnisgeneration‹ über Honeckers These, man habe Ende der 80er Jahre in der DDR eine aufblühende Volkswirtschaft gehabt (Andert/Herzberg: Der Sturz: Honecker im Kreuzverhör, 1991), bestenfalls lachen oder nur verständnislos den Kopf schütteln. Man hatte selber dort jahrzehntelang im DDR-Alltag gelebt, gearbeitet und kannte deshalb die wirkliche Lage nur zu gut. Heute scheint das alles längst vergessen. Nur so ist erklärbar, dass nun sogar aus den Reihen der sächsischen Sozialdemokraten die Legende von einer effizienten DDR-Wirtschaft aufgewärmt wird – eine Wirtschaft, die dann ab 1990 angeblich planvoll und weiträumig von Westdeutschen mittels Treuhand zur Marktbereinigung eliminiert worden sei (Köpping: Integriert doch erst mal uns!, 2018). Richard Schröder hat in seinem jüngsten Artikel (Schröder: Totengräber der ostdeutschen Wirtschaft? Die Treuhandanstalt und die Folgen ihrer Politik, bei GlobKult 2018) dazu das Notwendige geschrieben und ist dabei noch eher zurückhaltend geblieben. Hier sollen nun einige Fakten nachgereicht und wieder in Erinnerung gerufen werden, ohne die der Zustand der ostdeutschen Wirtschaft zum Zeitpunkt des politischen und ökonomischen Zusammenbruchs der DDR nicht wirklich beschrieben werden kann.

Grundsätzlich prägend für die Wirtschaft in der DDR waren natürlich – und das muss sicherlich vorangestellt werden – die systemimmanenten Fehler und Defizite, die mit der sozialistischen Planwirtschaft verbunden waren. Die sukzessive und dann flächendeckende Enteignung der Betreibe zerstörte zentrale und für eine effiziente Ökonomie unverzichtbare Grundbedingungen. Entscheidende wirtschaftliche Anreize und die Einheit von ökonomischem Risiko, Verantwortung und Haftung wurde beseitigt. Der zentrale Planungswahn trennte die Betriebe vom Markt. Eine freie Preisbildung wurde beseitigt und landesweit die Konkurrenz als unverzichtbaren Gradmesser für die wirkliche Leistungsfähigkeit der Betriebe unterbunden. Eine bis in die 80er Jahre hineinreichende, den Betrieben verordnete Tonnenideologie schuf zusätzliche Fehlanreize. Hinzu kam ein exzessiver wirtschaftlicher Dirigismus, der selbst Großinvestitionen ins ökonomische Abseits führte und in keiner Weise in der Lage war, auf sich schnell verändernde weltwirtschaftliche Bedingungen angemessen zu reagieren. All diese systemimmanenten Defizite hatten am Ende ganz konkrete Folgen und Auswirkungen in den DDR-Betrieben. Sie vergegenständlichten sich in desolaten, sich verschlimmernden Produktionsbedingungen bei Maschinen und Anlagen, bei Baulichkeiten, Material und Technik mit denen die Betriebe bis Ende der 80er Jahre wirtschaften mussten. Die Ost-Betriebe wurden so immer weiter vom realen Marktgeschehen entfernt. Die Menschen, die in den Betrieben unter solchen Bedingungen arbeiten mussten, trugen für diese Fehler keine Verantwortung. Im Gegenteil: Sie können stolz darauf sein, was trotz alledem damals durch ihren Fleiß und ihr Improvisationstalent immer noch gelang.

Neben diesen grundsätzlichen, aus der sozialistischen Planwirtschaft erwachsenden Fehlentwicklungen gab es aber in der DDR weitere zusätzliche Weichenstellungen, die negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und gravierende Folgen für die Betriebe hatten. Und dafür gibt es einen Kronzeugen – Gerhard Schürer (1921-2010). Schürer war nicht nur von 1965 bis 1990 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR, sondern auch Angehöriger (meist Kandidat) des SED-Politbüros. Er hat die damalige wirtschaftliche Lage und die Agonie des Politbüros später in mehreren Interviews und Aufsätzen unmissverständlich beschrieben. An einige nicht nur von ihm benannte Fakten soll deshalb hier erinnert werden.

Nach dem Scheitern der ökonomischen Reformversuche unter Ulbricht wurde die Wirtschaftspolitik der DDR Anfang der 70er Jahre auf eine stärkere Konsumorientierung umgestellt. Die von VIII. SED-Parteitag 1971 ausgerufene und dogmatisch verfolgte ›Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‹ war im Kern ein ausufernder »Konsumsozialismus« (Anm: Zitat Gerhard Schürer), der weit über die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes hinausging. Die Defizite der Binnenwirtschaft und bei der Versorgung der Bevölkerung sollten aus dem Außenhandel kompensiert werden. Da insgesamt mehr konsumiert werden sollte als selber im Land produzierbar war, musste das Delta in aufwachsendem Maße kreditfinanziert werden. Da es dabei in zunehmendem Maße um Waren aus dem westlichen Ausland ging, wuchs der Druck auf den ostdeutschen Warenexport sowie die Verschuldung des Staates in konvertierbaren Devisen. Es wurde ein Verschuldungsmechanismus in Gang gesetzt, der dazu zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu exportieren, um die notwendigen Millionen an Dollar oder D-Mark zu beschaffen. Und es mussten neue und immer höhere Kredite aufgenommen werden, um die Zinsen zu bezahlen. Diese Entwicklung sollte Ende der 80er Jahre ein Ausmaß annehmen, das vom Politbüro nicht mehr beherrschbar war. Die DDR-typische Mangelwirtschaft konnte durch diesen Kurs aber nicht beseitigt werden.

Eine direkte Folge dieses Wandels war eine Verschleißspirale in weiten Teilen der ostdeutschen Wirtschaft. Denn die Akkumulationsrate wurde gesenkt und auch notwendige Investitionen zur Erneuerung und Modernisierung betrieblicher Anlagen wurden heruntergefahren oder über viele Jahre ganz gestrichen. Von 1970 bis 1988, also über einen Zeitraum von 19 Jahren, stieg die Akkumulation in den produzierenden Bereichen der DDR lediglich um 22 Prozent, also um weniger als 1,16 Prozentpunkte pro Jahr. Eine so geringe Investitionsrate musste den technischen und ökonomischen Verschleiß der Maschinen und Anlagen in den Betrieben, von den Baulichkeiten ganz zu schweigen, massiv erhöhen. Im gleichen Zeitraum hatten sich aber die Investitionen im nichtproduzierenden Bereich einschließlich des (industriellen) Wohnungsbaus nahezu verdoppelt. Besonders von dieser Verschleißspirale betroffen waren die Zulieferindustrie, das Bauwesen, das Verkehrswesen, die Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft aber auch so wichtige Gebiete wie das Gesundheitswesen der DDR. In vielen industriellen Bereichen lag Ende der 80er Jahre der Verschleißgrad der Ausrüstungen schließlich weit über 50 Prozent. Die derart heruntergewirtschafteten Betriebe waren von einer internationalen Konkurrenzfähigkeit weit entfernt.

Auch Bereiche, die erklärtermaßen Schwerpunkt für Investitionen und Vorzeigeobjekt der DDR-Wirtschaft waren, konnten internationalen Standard nicht erreichen. Beispiel Mikroelektronik: Hier lagen nach millionenschweren Investitionen die Herstellungskosten für einen 256 Kilobyte-Baustein im VEB Kombinat Mikroelektronik bei 536 DDR-Mark. Verkauft wurde er innerhalb der DDR heruntersubventioniert für 16 Mark, wobei im Westen so ein Baustein schon für zirka 6 Mark zu haben war. Die Subventionen allein für die Mikrochip-Branche lagen bei über 3 Milliarden Mark pro Jahr. Der technologische Rückstand zum Westen konnte trotz aller Anstrengungen aber nicht verringert werden. Bei der Chip-Produktion wurde er Ende der 80er Jahre noch immer auf drei bis acht Entwicklungsjahre geschätzt, bei der Anwendung der Elektronik in fertige Produkte lag die DDR sogar 15 Jahre hinter dem Weltniveau zurück. In Zeiten technologischer Umbrüche, wie dies bei der breiten Anwendung der Mikroelektronik zweifellos der Fall war, bedeutete das über kurz oder lang den völligen Verlust der Absatzmärkte für technologisch hochwertige Exporterzeugnisse aus der DDR.

Weitere strategische Fehlentscheidungen, wie zum Beispiel bei der heute grotesk anmutenden Gewinnung von Proteinen aus Dieselkraftstoff als Futtermittel für die Landwirtschaft, kamen hinzu. Hier und anderswo setzte der staatswirtschaftliche Dirigismus Millioneninvestitionen in den Sand und war bei steigenden Ölpreisen nicht mehr zur rechtzeitigen Korrektur in der Lage. Außerdem hatten die Industrie-Kombinate nach der Beseitigung der letzten halbstaatlichen Betriebe auch noch in die Konsumgüterproduktion einzusteigen. Sie mussten jährlich zwei Prozent ihrer Warenproduktion als Konsumgüter erbringen, mit zum Teil aberwitzigen Kombinationen. So produzierte man zum Beispiel in Bahnausbesserungswerken Partygrills und Brennholz, die Rostocker Neptunwerft bot Flaschenöffner an und im VEB Elektrokohle Lichtenberg (EKL) befasste man sich mit kunstgewerblicher Feinkeramik. Dies war natürlich völlig ineffizient und konnte die Versorgungslage der Bevölkerung auch nicht retten.

Der Rückstand bei der Arbeitsproduktivität gegenüber dem kapitalistischen Westen wurden über die Jahre immer größer statt kleiner. Das war genau das Gegenteil dessen, was die SED verkündete und wodurch sich nach ihrer Ideologie die Überlegenheit des Sozialismus zeigen sollte. Es wundert nicht, dass die Planmanipulationen und die Falschmeldungen längst zur Normalität geworden waren. Fehlbilanzbeträge, also Produktionsergebnisse, die nur auf dem Papier existierten, traten immer häufiger auf. 1989 war im Volkswirtschaftsplan das Nationaleinkommen selbst nach Plankorrekturen um 7,2 Milliarden Mark höher ausgewiesen, als von Aufkommensplänen gedeckt. Auch vor der Manipulation von ökonomischen Begrifflichkeiten machte man nicht halt. So feierte die SED einerseits die DDR nach der Anzahl der angeblich eingesetzten Roboter als eines der hochmodernsten Länder der Welt. Andererseits hatte die Partei aber die Definition eines Roboters so weich gefasst, dass selbst eine Melkmaschine in der LPG noch als Roboter gezählt werden konnte. Die Menschen draußen im Lande konnte man mit solchen Manipulationen aber kaum beeindrucken. Sie mussten nur in die Läden und Regale schauen, um die wirkliche Lage der DDR-Wirtschaft zu erkennen.

Von besonderem Gewicht und ökonomisch zunehmend problematisch war auch die vom SED-Politbüro verordnete und bis zum Ende der DDR nicht korrigierte Subventionspolitik. Die Subventionen gingen dabei weit über den Bereich der Grundnahrungsmittel hinaus und hatten sehr viel mit dem für die SED traumatischen Erlebnis des Arbeiteraufstandes von 1953 zu tun. Eine solche Situation, ausgelöst durch Normerhöhungen und Preissprünge, durfte sich in Honeckers Augen nicht wiederholen. So hatte man für viele Produkte die Preise auf das Niveau von 1944 heruntersubventioniert. Das betraf neben Grundnahrungsmitteln und Mieten unter anderem auch die Preise für Bungalows, Fertigteilhäuser, Zement, Dachziegel, Fliesen, Fenster, Türen, Bauholz, Kleineisenwaren, Segel-, Ruder- und Faltboote, Klaviere und Flügel, Blumen, Zierpflanzen, Wildfleisch, Pilze und vieles andere mehr. Die bitter-bösen Geschichten, wie jene vom Kleingärtner, der hinten in der Kaufhalle das von ihm aufgezogene Kaninchen für 60 Mark verkauft, um es anschließend in der gleichen Kaufhalle an der Fleischtheke für 15 Mark zurück zu erwerben, zeigen anschaulich, welche Verwerfungen durch diese Subventionitis entstanden. Die DDR-Bürger hatten größtenteils ordentliche Einkommen und genügend Kaufkraft. Viele Erzeugnisse, allerdings längst nicht alle, waren billig, die Regale aber leer und die Waren dennoch nicht zu kaufen. Das hat die SED-Propaganda und das Regime in den Augen der Bevölkerung vollständig und dauerhaft delegitimiert. Die Subventionen hatten aber auch ökonomisch verheerende Folgen. Mitte der 60er Jahre belief sich das Subventionsvolumen noch auf acht Milliarden Mark. Ende der 80er Jahre war es auf über fünfzig Milliarden Mark angewachsen und eigentlich nicht mehr finanzierbar. Ohne die direkte zwischenmenschliche Hilfe aus dem Westen, ohne die Millionen Pakete und Päckchen, ohne die im Intershop umgesetzten D-Mark-Geschenke an DDR-Bürger oder die direkten Käufe über die zum Koko-Imperium gehörende Geschenkdienst- und Kleinexporte GmbH (Genex) wäre die Versorgungslage im Osten noch prekärer gewesen. Besonders die Pakete aus dem Westen hatten sich über die Jahre zu einer signifikanten Hilfe und volkswirtschaftlichen Größe entwickelt. Allein für 1988 wurden 28 Millionen solcher Postsendungen gezählt mit einem geschätzten Gesamtwert von 5,3 Millionen DDR-Mark. Das entsprach rund vier Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes in der DDR. Der Lebensstandard und die Versorgungslage großer Teile der Bevölkerung wäre ohne diese Hilfen wesentlich schlechter gewesen.

Schlussendlich soll noch ein Blick auf einen Vorzeigebereich der DDR-Wirtschaft geworfen werden – auf die Exportwirtschaft. Hier waren die Manipulationsmöglichkeiten der SED begrenzt, denn letztendlich mussten die DDR-Erzeugnisse, zumindest beim Westexport, im freien Markt bestehen. Selbst diese in der DDR-Propaganda hochgelobte Exportwirtschaft befand sich auf einem absteigenden Ast. Wirklich konkurrenzfähige und im Export ertragreiche Produkte gab es in der DDR nur wenige. Untrügliches Zeichen für die schwindende Exportfähigkeit der DDR-Wirtschaft war der stetige Rückgang der Devisenertragskennziffer – also das Verhältnis von Deviseneinnahmen zu Aufwendungen in Mark der DDR im Exportgeschäft. Im Jahr 1985 lag diese Relation nur noch bei 0,246 und hatte sich gegenüber 1970 mehr als halbiert. Der Aufwand, um im Export die notwendigen Devisen zu erwirtschaften stieg wegen der immer stärker absinkenden Konkurrenzfähigkeit der DDR-Produkte rasant. In den 80er Jahren mussten schließlich tonnenweise DDR-Waren im Westen verramscht werden, weil sie nur noch als Billigprodukte Abnehmer fanden. Selbst Kompensationsgeschäfte, bei denen die DDR den Import aus dem Westen mit Warenexporten bezahlen konnte, waren ökonomisch meist ein Verlustgeschäft. Und wenn dabei, wie beim Import von PKWs der Marke VW Golf, am Ende nur noch einige wenige etwas davon hatten, kam neuer Unmut in der Bevölkerung als politischer Schaden noch hinzu.

Am Ende blieben die DDR-Betriebe weit abschlagen hinter der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zurück und der Gesamtstaat stand mehrfach kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Schon Anfang der 80er Jahre steckte die DDR in einer akuten Finanzierungskrise gegenüber ihren westlichen Gläubigern. Damals gelang es noch durch eine massive Ausweitung des Exports, durch windige Transaktionen im Koko-Bereich sowie durch die sogenannten ›Strauß-Kredite‹ das angeschlagene Schiff über Wasser zu halten. Nun, im Jahr 1989, befürchtete man erneut in eine Liquiditätskrise hineinzuschlittern. Nach der Absetzung Honeckers im Oktober 1989 sollte deshalb jetzt auch im SED-Politbüro endlich Klartext über die wirtschaftliche Lage geredet werden. Deshalb legten am 30. Oktober 1989 Gerhard Schürer (Vorsitzender der Staatliche Plankommission), Gerhard Beil (Minister für Außenhandel), Alexander Schalk (Leiter des geheimen Koko-Bereichs), Ernst Höfner (Minister der Finanzen) und Arno Donda (Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik) dem Politbüro eine gemeinsame Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen vor. Darin wurden der Verschleiß der Betriebe und die dramatische ökonomische Gesamtentwicklung ziemlich realistisch beschrieben. Ohne harte Einschnitte sowie Hilfe von außen wurde die Zahlungsunfähigkeit der DDR prognostiziert. Ein geschlossenes Projekt für Wirtschaftsreformen im Land fand sich in diesem Bericht jedoch nicht. Man hielt aber neue Kredite und wirtschaftliche Hilfe durch die westlichen Gläubiger, insbesondere aber durch die Bundesrepublik, für unausweichlich. Im Inland könne künftig nur noch das verbraucht werden, was nach Abzug des erforderlichen Exportüberschusses für die Konsumtion und Akkumulation tatsächlich zur Verfügung steht. Der seit dem 70er Jahren präferierte Kurs eines kreditfinanzierten ›Konsumsozialismus‹ sollte möglichst zügig beendet werden. Der komplexe Wohnungsbau, der 75 Prozent aller Investitionen im nichtproduzierenden Bereich verschlang, sollte reduziert werden. Hier hoffte man auf freiwerdende Mittel für Investitionen im produzierenden Bereich. Die Subventionspolitik sollte beendet und die Preise im Inland erhöht werden. Ein voller Ausgleich dafür war für die Bevölkerung nicht geplant – schließlich wollte man den über Jahre aufgebauten Kaufkraftüberschuss abschöpfen. Am Ende des Berichts wurde noch einmal eindringlich festgehalten: Alle aufgezeigten Maßnahmen müssten nun auch zügig umgesetzt werden. Wollte man den Kurs einer weiteren Verschuldung der DDR stoppen, müsse im Jahr 1990 mit einer Senkung des Lebensstandards um 25 – 30 Prozent gerechnet werden, was die DDR faktisch unregierbar gemacht hätte.

Wir wissen heute, dass es – glücklicherweise – anders kam. Die Menschen erkämpften sich friedlich einen Weg zur Demokratie. Die SED verlor als Staatspartei ihre Macht. In freien und geheimen Wahlen wurde in der DDR ein demokratisches Parlament legitimiert, über den Beitritt zur Bundesrepublik zügig den Weg zur deutschen Einheit zu beschreiten. Die politischen Prozesse unterlagen einer enormen Beschleunigung und gerade die Sozialdemokraten hatten alle Hände voll zu tun, damit die deutsche Einheit für den Osten keine regel- und vertragslose Sturzgeburt wurde. Die Treuhandanstalt erhielt noch in der DDR den Auftrag zur Privatisierung der ostdeutschen Staatsbetriebe. Die Zeichen dafür standen aber schlecht und dies nicht nur wegen des enormen Produktions- und Leistungspotenzials der auf den ostdeutschen Markt drängenden Wirtschaft im Westen. Noch verhängnisvoller war, dass den Betrieben durch die Währungsumstellung über Nacht faktisch eine Vervielfachung ihrer Kosten verordnet wurde, sie in Osteuropa die alten Märkte verloren und auch die eigene Bevölkerung nicht mehr bereit war, für ihre neue D-Mark die früheren, meist auch schlechteren DDR-Produkte zu kaufen. Über den Privatisierungs- und Sanierungsauftrag der Treuhandanstalt und über die strukturpolitischen Verantwortlichkeiten entbrannte im vereinigten Deutschland eine harte politische Auseinandersetzung, die fast die gesamten 90er Jahre hindurch prägend war. Trotz aller in dieser Transformation geschehenen industriellen Wegbrüche und der massiven Arbeitslosigkeit ist der Lebensstandard der Ostdeutschen in dieser Zeit weder um 25 Prozent, geschweige denn um 30 Prozent, gesunken. Im Gegenteil. Der Lebensstandard der früheren DDR-Bürger hat sich trotz härtester Einschnitte schnell und erheblich verbessert, was nicht zuletzt auf das Konto der Sozialdemokraten ging, die im Einigungsprozess eine umfassende Erstreckung der westdeutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf Ostdeutschland erreichten. Wenn heute also erneut eine Bilanz der Treuhandarbeit gezogen werden soll, darf die marode wirtschaftliche Ausgangslage am Ende der DDR nicht unter den Tisch fallen.

Schlussbemerkung:

Im Sommer 1999 veröffentlichte die Bundesbank einen Bericht über die Zahlungsbilanz der DDR von 1975 bis 1989. Sie kam in dieser künstlichen Analyse, in der die verschiedenen Bilanzen der DDR nachträglich nach IFW-Standards zusammengefasst worden sind, zu dem Ergebnis, dass die (saldierte) Nettoverschuldung der DDR im Westen für das Jahr 1989, anders als im ›Schürer-Bericht‹ ausgewiesen, lediglich bei knapp 20 Milliarden Valutamark lag. Die Bruttoverschuldung der DDR wurde von der Bundesbank für Ende 1989 mit knapp 49 Milliarden Valutamark eingeschätzt, was auch den Berechnungen im sogenannten ›Schürer-Bericht‹ entsprach. Die Differenz zwischen diesen Brutto- und Nettowerten hing mit Reserven zusammen, die sich – teils real, teils buchmäßig – aus überhöhten Zinsrechnungen, aus geheimen Sonderfonds sowie aus dem Koko-Bereich ergaben. Sie waren im ›Schürer-Bericht‹ unberücksichtigt geblieben. Im Jahr 2011 griffen dann verschiedene Medien den Bundesbankbericht auf und verkündeten, die DDR sei ja überhaupt nicht pleite gewesen. Das war gerade als Megabotschaft eine gewagte These, denn an der desolaten Lage der Betriebe am Ende der DDR hatte sich dadurch natürlich nichts geändert. Weitere Sendungen, zum Beispiel unter dem Titel Wem gehört der Osten, haben dann die Legende vom an den Westen verscherbelten Volkseigentum weiter vertieft. Leider hatte man vergessen zu fragen, ob die Betriebe in der DDR wirklich dem Volk oder nicht eher dem diktatorisch herrschenden SED-Politbüro gehört haben. Ganz unschuldig an dieser bis heute fortlebenden Legende ist die Politik allerdings nicht. Man denke nur an die aus der Volkseigentumsthese kommende, bis in den Einigungsvertrag laufende Illusion, die Ostdeutschen nach 1990 über verbriefte Anteilsrechte am volkseigenen Vermögen, also an den Treuhandgewinnen, beteiligen zu wollen. Man stelle sich einmal vor, was geschehen wäre, hätte man 1995 versucht, die Negativbilanz der Treuhandanstalt, die am Ende im Erblastentilgungsfonds gesamtdeutsch geschultert wurde, auf die Ostdeutschen zu verteilen. Die rund 172 Milliarden Euro Schulden hätten jeden Ostdeutschen vom Baby bis zum Greis mit rund 11.000 Euro belastet und die deutsche Einheit völlig diskreditiert. Bei der Erinnerung an die Transformationszeit im Osten, bei der die Treuhandanstalt ohne Zweifel eine zentrale Rolle gespielt hat, sollten weder regionale noch gruppenbezogene Ressentiments bedient werden. Hier hilft nur eine nüchterne und unvoreingenommene Bilanz. Man braucht dafür Fakten statt Legenden.

 

 

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