Der SED-Abgrenzungsbeschluss als faktische Voraussetzung gegen den Dritten Weg und damit für die Deutsche Einheit

von Gunter Weißgerber

Am 7. Oktober 1989 wurde die Sozialdemokratische Partei der DDR gegründet. War der Gründungsakt auch das Ergebnis langjähriger Vorbereitungsarbeit vor allem von Martin Gutzeit und Markus Meckel im gefährlichen Untergrund, so war es ebenso ein von vielen politisch dem SED-Regime kritisch bis ablehnend gegenüberstehenden Ostdeutschen lange erwartetes Ereignis. Darunter waren viele, die ebenso eigene Vorstellungen über eine ostdeutsche Sozialdemokratie hatten und die den Gründern von Schwante nur den organisatorischen Vorlauf lassen wollten, weil es keinen Sinn machte, das Rad mehrfach zu erfinden, um es dann unter zusätzlichen Geburtswehen analog denen der Lassalleaner und Eisenacher 1875 in Gotha zu vereinigen.

Die Überwindung der Diktatur war einfach viel zu wichtig, um diese durch absehbare Fusionsstreitigkeiten innerhalb einer ostdeutschen sozialdemokratischen Entstehungsgeschichte zu gefährden. Das ›Fahrrad Sozialdemokratie‹ war endlich da, um die Verbesserung der Ausstattung konnten wir uns später kümmern.

Anders als Bebel und Liebknecht, die eine autokratische Monarchie demokratisch und sozialer gestalten wollten, legten die ostdeutschen SDP-Gründer die Axt an eine brutale Diktatur. Die mit Weiterbildungsmöglichkeiten für politische Gefangene verbundene Festungshaft von Bebel und Liebknecht zu Sozialistengesetzzeiten wäre für Gutzeit, Meckel und Co. ein unerreichbares Paradies gewesen in Anbetracht der in NS- und kommunistischen Gefängnissen obligatorischen Unrechtspraxis.

Die ostdeutsche Sozialdemokratie war das schärfste Schwert innerhalb der Friedlichen Revolution 1989/90. Es setzte wie ein Skalpell am Gründungsmärchen der DDR an. Vonwegen Kommunisten und Sozialdemokraten vereinigten sich 1946 fair und bildeten die ebenso faire Grundlage des demokratischen Ostteils Deutschlands. Weder war die Zwangsvereinigung fair, noch war die DDR demokratisch und frei, noch gab es einen tatsächlichen sozialdemokratischen Anteil an der Führung der DDR zwischen 1949 und 1989. Die Einheits-Sozialisten nannten sich bis zum Zusammenbruch ihrer Herrschaft stringent Kommunisten. Das mit dem Sozialistenleim war nur etwas für den Fall der eigenen Nicht-Herrschaft. Genau diese Zusammenhänge waren den SDP-Gründern in der ganzen DDR in übereinstimmender Mehrheit bekannt. Die SED-Diktatur war nur mit gestandenen SED- und DDR-Kritikern zu überwinden. Mit wohlmeinenden SED- und DDR-Gläubigen war dies nicht zu stemmen. Das war Basiswissen Teil eins.

Die DDR-Bevölkerung war eine Nischengesellschaft fast hermetisch abgetrennter Einzelnischen. Inner-Nischen-Kommunikationen gab es, doch waren diese infolge der drückenden Präsenz des Stasi- und Polizeistaates eher unpolitisch, mehr blumig auf sich selbst verbergender Ebene. Fremden wurde überhaupt nicht getraut, Bekannten erzählte man politische Gedanken eher nicht, selbst Freunde wurden nicht komplett in die eigene Politik einbezogen. Ansatzweise schon, tiefer gehend meist nicht. Jeder/jede konnte Stasiknecht sein. Den Lehrern in der Schule wurde das Gegenteil von dem zuhause Gehörten erzählt. Das war alles tief in den Menschen drin. In dieser Betrachtung waren SED-Mitglieder gläubige Vertreter der Diktatur und wenn sie nicht selbst Zuträger waren, so waren sie eben nur gefährdet, ihr Wissen gutgläubig den Hundertprozentern in der SED weiterzuerzählen. So wäre es auch bei der Stasi angekommen.

Zusätzlich wurden die SED-Mitglieder monatlich politisch geschult. Denen wurde nicht getraut und wie dort gedacht wurde, konnte nur am Tagewerk der SED und aus dem Gesülze ihrer Mitglieder erfasst werden. Auch hatten die SED-Mitglieder auf dem Boden ihres Wissens der Herrschaft und Bevorzugung ihrer Partei eine gewisse Attitüde eigener Wichtigkeit. Kurz, niemand außerhalb der SED traute den SED-Mitgliedern. Selbst sehr gute Freunde, die SED-Mitglieder waren, zog man nicht ins tiefste politische Vertrauen. Die Zone war eine miefige, unehrliche Veranstaltung. Punkt. In Revolutionszeiten das Vertrauen zu SED-Mitgliedern zu entwickeln, war nicht möglich. Individuelle spätere Erkenntnisse waren nicht auszuschließen. Aber eben erst später, nach Gelingen von Freiheit und Demokratie unter dem Dach der Einheit. Das war Basiswissen Teil zwei.

SED-Mitglieder, die vor dem Herbst 1989 ›ausgetreten wurden‹, hatten sich für einen sehr schweren Weg entschieden. Für die SED waren sie Verräter. Die Austrittsverfahren waren lang und nicht berechenbar, auch durfte aus Staatsräson niemand austreten. Das wäre eine Blamage der Genossen gewesen. Die SED schmiss höchstens von sich aus sozusagen in Unehren raus. Wer austreten wollte, wusste überhaupt nicht, was ihm widerfahren würde. So ein Austritt erforderte mehr Mut als die Eintrittsverweigerung in die SED.

Mit Verrätern gingen Kommunisten nicht gut um. Für die aus der SED vor der Friedlichen Revolution Ausgetretenen war die ostdeutsche Sozialdemokratie von 1989 immer offen. Gewissermaßen waren diese Menschen sogar von Interesse, weil sie aus dem Innenleben der SED berichten konnten und vor allem, weil sie sich der SED ideologisch entwunden hatten. Das war Basiswissen Teil drei.

Die SED war ein Einheitskonglomerat aus politischen Richtungen von links- bis rechtsaußen. Viele SED-Gläubige waren Mitglieder, auch sich eher sozialdemokratisch ansehende in unbekannter kleiner Zahl, sture Kommunisten, Rechtsradikale und vor allem sehr viele Opportunisten, die nur um des Vorteils willen in der Staatspartei waren. Von letzteren ging gegenüber den Strenggläubigen die geringere Gefahr aus. Die lieferten nicht ans Messer. So dreckig wollten sie sich die Hände auch nicht machen. Man kannte sie nur nicht und verlässlich waren sie natürlich nicht. Im Parteilehrjahr regelmäßig eingesülzt wurden sie alle. Mit dieser Masse war keine Revolution zu machen, allenfalls Tapezieren. Das war Basiswissen Teil vier.

Dies alles persönlich erfahren und wissend, mussten die neuen Sozialdemokraten um der Entstehung ihrer eigenen Parteientwicklung willen darauf achten, nicht Millionen sehr anders denkender und anders fühlender SED-Mitglieder zu bekommen. Aus der SDP wäre niemals eine eigenständige politische Partei geworden. Die Mengenverhältnisse hätten aus der SDP binnen weniger Wochen die PDS werden lassen. Das war so klar wie das Amen in der Kirche. Das musste verhindert werden. Wir wollten eine SDP/SPD, die die DDR in Freiheit in die Einheit führen sollte. Für die allermeisten SED-Mitglieder jener Zeit war genau das undenkbar. Die meisten waren im Hinterkopf bei den DDR-Erhaltern auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Das ging nicht und war Basiswissen Teil fünf.

 

Die Ostdeutschen Sozialdemokraten wollten sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen und sie mussten strategisch denken. Der Zerrüttung der SED und ihrer Macht mussten demokratische Wahlen folgen. Die freiheitlichen Ergebnisse des 89er Herbstes bedurften der institutionellen Sicherung auf breiter demokratischer Grundlage. Letztlich kam es darauf an, für die richtige SDP/SPD-Politik ein geeignetes und passendes Personalangebot an das Wahlvolk zu machen. Die Kandidaten wurden wenige Monate später von Delegiertenversammlungen nominiert. Diese Delegiertenversammlungen setzten sich aus den Vertretern der neuen Parteibasis zusammen. Wäre die SDP/SPD-Ost nun auf die Avancen der SED-Mitglieder und auf den Druck des Lafontaine-Bahrschen SPD-Westflügels eingegangen, hätten womöglich hunderttausende Ex-SED-Mitglieder die Kandidaten der SDP/SPD bestimmt. Anders wäre dies angesichts der Mengenverhältnisse nicht geworden. Genau diese Ex-SED-Mitglieder hätten aber mit absoluter Sicherheit ihre eigenen Leute auf die Wahllisten gesetzt. Organisationsfragen sind Machtfragen, das galt nicht nur für Lenin.

Viel Phantasie muss jetzt nicht mehr aufgebracht werden, um zu ahnen, dass statt der 88 SPD-Ostabgeordneten politisch gänzlich anders ausgerichtete Leute die SPD-Fraktion in der Volkskammer gestellt hätten. Ich fuhr jedenfalls zur ersten Fraktionssitzung nach der Volkskammerwahl mit dem unumstößlichen Vorsatz im selben Jahr noch aus Bonn nach Leipzig zurück zu kommen. Von Ex-SED-Mitgliedern war so ein Vorsatz nicht anzunehmen. Mit absoluter Sicherheit nicht! Das war Basiswissen Teil sechs.

Angenommen, aus der SDP wäre so etwas wie die SED-PDS geworden, wie hätte sich das auf den Wahlkampf und die Wahlkampfaussagen ausgewirkt? Die Stimmung pro Dritter Weg hätte stärker werden können. Überall im sogenannten linken Spektrum hätte es schlagartig Kronzeugen für die Gangbarkeit des Dritten Weges gegeben. Das hätte sich auf das Stimmungsbild in der Bevölkerung ausgewirkt. Auf die vormaligen Blockparteien war damals jedenfalls kein Verlass. Diese ›Helden in gebückter Haltung‹ waren im Winde schwankend. Die eigentliche SDP-Gründerbasis und ihre Anhängerschaft in der Bevölkerung wären im anstehenden Volkskammerwahlkampf politisch heimatlos geworden. Das war Basiswissen sieben.

Weiterhin angenommen, die Ex-SED-Mitglieder hätten die Volkskammerfraktion in ihrer Zusammensetzung bestimmt und dominiert. Was hätte das für Folgen für den Beitrittsbeschluss haben können? Auch unter den achtundachtzig historischen SPD-Volkskammerabgeordneten gab es einige, die mit der Einheit und dem Beitritt nicht klar kamen und nur mit Mühe zum ›Ja‹ zum Beitritt am 23. August 1990 überredet werden konnten. Um wie vieles leichter wäre ein ›Nein‹ an dem Tage Ex-SED-Mitgliedern gefallen? Immerhin ging es nicht nur um die Einheit, sondern um die Einheit unter dem Dach der NATO. Nicht nur an der Leninfrage wären die Neusozialisten aus der SED demokratisch und frei gescheitert, spätestens an der imperialistischen NATO wäre Schluss mit lustig gewesen und Lafontaine/Bahr hätten das Zertifikat ›Falsche Entscheidung‹ vom Westen her dazu geliefert.

Die Wahrheit ist schlüssig beschrieben: Die Öffnung der SDP/SPD-Ost für ehemalige SED-Mitglieder hätte der SDP/SPD-Ost eine SED-Mitgliederüberschwemmung gebracht, die die Ostdeutsche Sozialdemokratie der Chance auf Mitwirkung und Realisierung an der Deutschen Einheit zum 3. Oktober 1990 beraubt hätte! Man muss nur nachlesen, wie sich die SED/SED-PDS/PDS zur Deutschen Frage verhielt. Dies wäre die SPD-Osthaltung eins zu eins gewesen, hätten die Ex-SED-Mitglieder die Basis dieser Partei gestellt. Das war damals keine rein theoretische Frage. Es hätte keine Deutsche Einheit gegeben, weil die verfassungsgemäße Zweidrittelmehrheit am 23. August 1990 nicht erreicht worden wäre. Das war Basiswissen Teil acht.

In der Addition des Basiswissen eins bis acht ergab das am 23. August 1990 folgendes Ergebnis: 294 von 363 Abgeordneten stimmten für den Beitrag nach GG 23 was einer verfassungsändernden Mehrheit unter den anwesenden Volkskammerabgeordneten von 81 Prozent entsprach. Eine SED-ähnliche SPD-Volkskammerfraktion wäre an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nahezu komplett auf Seite der Gegenstimmen anzutreffen gewesen. Einen Vorgeschmack hierzu lieferten einige der damals tatsächlich auf dem Dritten Weg befindlichen Fraktionskollegen, über deren Namen an dieser Stelle besser der Schleier des Vergessens zu ziehen ist.

Die DDR war seit dem 18. März 1990 ein demokratischer Rechtsstaat und konnte nur auf diesem Wege die Deutsche Einheit mit dem Einverständnis seiner Nachbarn und ehemaligen Hauptkriegsgegner vollziehen. Die Volkskammer der DDR erwies sich damit den völkerrechtlichen Anforderungen gegenüber als ebenbürtig.

Die SDP/SPD-Basis und ihr Kernwissen

Was war denn nun die historische Basis der SDP/SPD-Ost 1989/90? Gegründet von jungen Theologen und vorwiegend christlichen Mitstreitern im Pfarrhaus von Schwante zog die SDP natürlich sofort weit über christliche Hintergründe hinausreichende Kreise. Mit der Gründung tauchten sozialdemokratisch angehauchte Menschen auf, die auf Grund ihres nicht kirchlichen Daseins in der DDR bis dahin keinen oder kaum Zugang zu den kirchlich beheimateten Oppositionsgruppen fanden. Mit dieser großen Gruppe der technischen Intelligenz, die in der DDR-Wirtschaft eigene praktische Erfahrungen angesammelt hatte, rechneten wohl nicht einmal die Schwantianer. Plötzlich waren tatkräftige Leute dabei, die Politik eher als geradlinig machbar und vor allem sehr realistisch betrachteten. Wer in der sozialistischen Produktion täglich aus Sch… Bonbons drehen musste, der wollte den Saftladen DDR so schnell wie möglich abschaffen und die Karre nicht mit neuem Leben auffüllen.

Es waren auch vor allem diese Ingenieure und Facharbeiter, die durch ihr tägliches Erleben des SED-desaströsen Wirtschaftens genau wussten, dass diese DDR so nie eine Chance haben würde. Auch hatten diese Leute täglichen Umgang mit den Genossen, die den Sozialismus aufbauen und erhalten wollten. Nach Schwante schlug die komplette DDR-Realität auf die SDP ein und setzte sich binnen weniger Monate gründlich durch. Zum Glück für alle Deutschen.

Noch immer wird um den SED-Abgrenzungbeschluss der SDP/SPD viel Unsinn geschrieben und erzählt. Dabei galt er nur zwischen dem 16. Oktober 1989 (Rücktritt Honeckers) und dem 9. Juni 1990. Der SPD-Ost-Parteitag in Halle beschloss die Aufhebung der Aufnahmesperre. Wer sich davon Mitgliederzuwächse erhoffte, sah sich schwer getäuscht. Die SPD-Ost war 1990 für Karrieristen nicht mehr anziehend und für die Verhinderung der Einheit war es zu spät. Die Volkskammerabgeordneten waren seit dem 18. März im Amt und arbeiteten auf die Einheit zu.

Insgesamt blieb das Thema Ex-SED-Mitglieder in der SPD sehr lange umstritten, obwohl es so gut wie keine Eintritte von dieser Seite in den 90ern gab. Persönlich habe ich die Beobachtung gemacht, dass sich leider bei einer Mehrzahl ehemaliger SED-Mitglieder die Befürchtungen der Gründer bestätigten. Es waren vor allem jene in Verbindung mit eher linksevangelischen Kreisen in der SPD, die den sozialdemokratischen Weg des ›Aufpumpens des kleinen hässlichen Frosches SED/PDS‹ gehen wollten und dies bis zum vorläufigen Supergau ›SudelRotGrün‹ in Thüringen seit Dezember 2015 durchzogen, die Marginalisierung der SPD damit garantierend.

Mir als einem im Raum Leipzig für die SPD mit Verantwortung Tragenden konnte das Streitthema ehemalige SED-Mitglieder keine Ruhe lassen. An der Demokratie muss jeder teilhaben können und Menschen muss Lernfähigkeit attestiert werden können. Auch die SPD muss als Grundgesetzpartei an der Willensbildung des Volkes mitwirken und dies dem Volke auch zugestehen. Auf der anderen Seite standen prioritär die Diktaturerfahrungen der eigenen Mitglieder, die diese Partei zu dem gemacht hatten, was sie zur Entstehungszeit des Papieres gerade war: Die erfolgreichste SPD-Gliederung in Sachsen mit dem Leipziger Oberbürgermeister, vielen Bürgermeistern und etlichen Abgeordneten in Dresden, Berlin und Brüssel. Wir hatten auch mit Abstand die meisten Mitglieder innerhalb der Sachsen-SPD.

Mit folgendem Papier bat ich die Aufnahmekritiker um Gehör und zeigte Interessierten aus der SED worauf es zumindest in der Leipzig-Bornaer SPD ankam:

 

 

 

 

 

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