tusk – Biographie der deutschen Jugendbewegung

von Herbert Ammon

I

Es gibt sie noch, die Bündische Jugend, doch die blaue Blume der deutschen Romantik, die zu suchen die Nachfahren der ›Wandervögel‹ noch immer unterwegs sind, blüht heute sehr im Verborgenen. Der Name Eberhard Koebel, selbst dessen Selbstbezeichnung tusk (von schwedisch tysk = deutsch, Deutscher), ist anno 2020 den Jüngeren kein Begriff mehr. Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert, in der Ära der ›68er-Bewegung›, noch anders. In der ›Bündischen Jugend‹ pflegte man das Andenken an die Geschwister Scholl und betonte deren frühe Prägung durch den in einigen Teilen der Hitlerjugend fortlebenden Geist der von tusk gegründeten dj.1.11. Inspiriert von Tusks Reisen nach Lappland und Nowaja Semlja unternahmen Jugendbewegte der frühen Bundesrepublik noch große Nordlandfahrten. Eine ganze Anzahl der Protagonisten von ›1968‹ kam aus der sich weithin als ›links‹ und antibürgerlich verstehenden Deutschen Jungenschaft oder aus den Reihen der Pfadfinderbünde. In diesen Gruppen fungierte der von den Nazis ins Exil getriebene Eberhard Koebel (1907-1955) als Identifikationsfigur, die von ihm erfundene Kohte diente als gleichsam mythischer Ort für Natur- und Gemeinschaftserlebnisse.

Unter Bezug auf seinen Lehrer Ernst Bloch (14, 19, 45), der in Das Prinzip Hoffnung (Bd. 2, 683-687) der ›kleinbürgerlichen‹ Jugendbewegung ein Unterkapitel widmete, sieht Eckard Holler in den Freundschafts- und Gemeinschaftsriten (Singen, Musizieren, Dichten, Zelten, Sport, Auf-Fahrt-Gehen) eine wenn auch zeitlich begrenzte Utopie verwirklicht, ein »vitalistisch« bewegtes, nicht entfremdetes Jugendleben (39). In dem vorliegenden Buch hat es der ›68er‹ Holler, Autor zahlreicher Publikationen zur Jugendbewegung, neben Arno Klönne (gest. 2015), Jürgen Reulecke und anderen Mitherausgeber der zwölfbändigen Schriften von Eberhard Koebel, unternommen, die »großen Umwege« in der Biographie des ehedem verehrten Tusk nachzuzeichnen.

Unter den ›Bündischen‹ war das Bild des Jugendführers Koebel nie ganz eindeutig. Der dem ›Nerother Wandervogel‹ entstammende Werner Helwig betonte in einer tusk-Edition von 1962 die am Ästhetischen und am Zen-Buddhismus interessierte Persönlichkeit des Autors (»lebendiges Kunstwerk«, zit. 92) und vermied politische Zuordnungen. Dagegen hatte 1958 der marxistische Abendroth-Schüler Karl Hermann (Kay) Tjaden Tusk für die politische Linke in Anspruch genommen. Der Publizistikwissenschaftler Harry Pross (»Jugend - Eros - Politik«, 1964) sprach – im Rückblick auf die verführte Jugend des Dritten Reiches – vom »Gift der blauen Blume«, hielt jedoch »im Gegensatz zu Werner Helwig und anderen Wandervogelgroßvätern Tusk auch heute für fast die einzige positive Figur der Jugendbewegung«. (5, 13)

II

Eberhard Koebel entstammte einer schwäbischen Juristen- und Fabrikantenfamilie. Als drittes Kind, körperlich schwach und von der Mutter behütet, durchlief er eine ungerade Schulkarriere, erwarb sich jedoch bereits als15jähriger Schüler Anerkennung als Vogelkundler. Künstlerischer Neigung und Begabung folgend, wählte er nach dem Abitur eine Ausbildung zum Grafiker an der Staatlichen Kunstgewerbeschule Stuttgart.

Seit 1922 Mitglied in einer Abspaltung des ›Wandervogels‹, war Koebel erfasst von der nationalistischen Erregung im Gefolge von ›Versailles‹. Aus Protest gegen die ›nationale Schande‹ störte er mit seiner Gruppe und anderen ›Völkischen‹ eine Aufführung von Georg Büchners Dantons Tod, bei der die ›Marseillaise‹ intoniert wurde. Ein Jahr später, im Frühjahr 1925, fuhr er mit einem Freund nach München, um Adolf Hitler aufzusuchen. Wenngleich anscheinend leicht enttäuscht von der kleinbürgerlichen Atmosphäre in dessen Privatwohnung, veröffentlichte er im Mai 1925 im ›Völkischen Beobachter‹ einen enthusiastischen Artikel, worin er die »deutschen Jungen« in den vielen Vereinen und Bünden aufrief, sich »unter dem reinen, klaren Banner Adolf Hitlers« zu vereinen. Unterzeichnet war der Artikel mit »Eberhard Koebel (Völkischer Wandervogel Stuttgart)«. (29)

Durch den Fahrtenbericht über seinen Aufenthalt in Schwedisch-Lappland, wo Koebel im Herbst 1927 drei Monate mit vermeintlich von der Zivilisation noch unberührten samischen Rentiernomaden verbrachte, leuchtete der Name tusk in den Jugendbünden ruhmvoll auf. In völkisch-nationaler Gedankenwelt befangen, hatte Koebel auf der Rückreise den damals in Stockholm lebenden Hans F. K. Günther (»Rassenkunde des deutschen Volkes«, 1922) – von den Gegnern der NS-Ideologie ironisiert als »Rassegünther« – besucht. Zwei Jahre später machte er 1929 in Stockholm Max Schürer von Waldheim, einem Protagonisten der ›Nordischen Bewegung‹, seine Aufwartung. (Anm.: An Schürers Homosexualität knüpft Robert M. Zoske in seiner Biographie von Hans Scholl, der bei der ›illegalen‹ Nordlandfahrt mit den Ulmer ›Trabanten‹ 1936 bei diesem schwedischen Offizier Station machte, Spekulationen über den Protagonisten der ›Weißen Rose‹. (Siehe hier)

Gleichwohl erscheint Koebel zu keiner Zeit als Antisemit. Spätestens im Zuge seiner Wendung nach ›links‹ hatte tusk ›rassische‹ Kategorien verworfen. Entsprechende Passagen in Hitlers Mein Kampf (»Meise geht zu Meise, Fink zu Fink«) wies er anhand seines ornithologischen Expertenwissens zurück, gipfelnd in dem Satz: »Die beste deutsche Eigenschaft, die Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit, geht dem großen Führer ab!« (zit. 162). Als Führerin eines Mädchenbundes hatte er ein nach NS-Kategorien ›halbjüdisches‹ Mädchen ausersehen. Zu seinen Gefolgsleuten in der dj.1.11 gehörten kurzzeitig (1931/32) auch die Brüder Markus und Konrad Wolf (162, Fn. 231), Söhne des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf. Zu erinnern ist an das tragische Schicksal von Helmut Hirsch, der im Prager Exil auf Anregung von Koebel mit Otto Strasser und dessen ›Schwarzer Front‹ in Verbindung trat. Von Strasser und einem Mitstreiter ließ er sich überzeugen, einen spektakulären Anschlag auf eine Säule der NS-Parteitagstribüne in Nürnberg zu verüben. Von Spitzeln verfolgt, wurde Helle Hirsch in Stuttgart verhaftet, am 8. März 1937 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens unter erschwerenden Umständen« zum Tode verurteilt und nach einem vergeblichen Gnadengesuchs des amerikanischen Botschafters William S. Dodd bei Hitler am 4. Juni 1937 in Plötzensee hingerichtet. (224f.)

III

Ungeachtet all seiner »Großen Umwege« – dies der Titel in der Phase seiner Hinwendung zur KPD verfassten Autobiographie – bewegte sich tusk, nicht anders als die Mehrheit der Bünde, stets im Lager des Weimarer Nationalismus. Dessen Atmosphäre war prägend für Koebels familiäres Umfeld. Seine Verlobte Gabriele Römer – das Paar heiratete 1932 in Berlin – wurde von ihrer religiösen Mutter abgehalten, das beantragte Parteibuch abzuholen. Ihr deutschnationaler Vater, ein Nervenarzt (gest. 1934), trat 1932 in die Partei ein. (32) Immerhin hielt Koebels Mutter, stadtbekanntes Parteimitglied seit 1929, ihre schützende Hand über den Sohn auch in den Jahren seines ›linken‹ Aktivismus und der Verfolgung.

Im Sommer 1928, auf einem internationalen Treffen von Scouts in Luxemburg, provozierte Koebel einen Eklat, als er sich weigerte, die Nationalfahne Schwarz-Rot-Gold zu hissen und als selbsternannter ›Gauführer der Schwäbischen Jungenschaft‹ mit seiner Stuttgarter ›Horde‹ das Lager abbrach. Dafür erteilte ihm der Jugendführer Ernst Buske im Namen der - sich als republiktreu verstehenden, an die 12 000 Mitglieder zählenden – Deutschen Freischar einen Verweis. (71). Bald galt er den einen als rebellischer Neuerer, den anderen als ›schwäbischer Wirrkopf‹. Innerbündische Querelen und Ausschlussverfahren begleiteten Koebel und seine ›Deutsche Jungenschaft‹ – auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten zählte sie etwa 2000 Mitglieder – bis in die Phase des Verbots unter dem NS-Regime. Unberührt davon blieb tusks Ausstrahlung auf die bürgerliche Jugend in der Endphase der Weimarer Republik.

Historiker der Jugendbewegung wie Arno Klönne und Walter Laqueur sprechen im Blick auf die Gründung der dj.1.11 von einer »Dritten Welle« – nach ›Wandervogel‹ und ›Bündischer Jugend‹ – der Jugendbewegung. (88) Die Chiffre dj.1.11 verweist auf den 1. November 1929. Aufsehen erregte der neue Bund durch eine Stuttgarter Festversammlung im Februar 1930, an der bekannte Führungsfiguren aus anderen Bünden, namentlich Max Himmelheber und der Schweizer Alfred Schmid (fred), teilnahmen. (87f.) Mit Himmelheber – in den Nachkriegsjahrzehnten zusammen mit Friedrich Georg Jünger Herausgeber der technikkritischen, ›grünen‹ Zeitschrift Scheidewege – hatte tusk, schon vor seiner neuen Begeisterung für Technik und Bauhaus, Fahrten auf dem Motorrad unternommen. (97) fred, Gründer des ›Grauen Corps‹, hatte das Liedgut und die kämpferisch-wild wirkende Ausstattung der Donkosaken von Serge Jaroff unter Jugendbewegten populär gemacht. Den Kontakt zu dem einflussreichen fred – als wohlhabender Architekt finanzierte dieser die von Harro Schulze-Boysen herausgegebene nationalrevolutionäre Zeitschrift Gegner (126) – hielt Koebel in den Berliner Jahren aufrecht. Allerdings wandte er sich scharf gegen die von fred und anderen Anhängern der ›Blüherei‹ – gemeint war Hans Blüher (»Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft«, 2 Bde., Jena 1917/19) – propagierte Homophilie (211-215).

Im Januar 1930 zog Koebel auf Einladung eines Schweizer Unternehmers als Verlagsleiter nach Berlin – eine Tätigkeit, die den von Tatendrang und Sendungsbewusstsein Erfüllten wenig befriedigte. tusk begann sich der KPD anzunähern. Auf der legendären Expedition nach Nowaja Semlja, die Koebel von Mai bis August 1931 mit Hans Graul vom Österreichischen Jungenkorps unternahm, kam es zum Zerwürfnis mit seinem antikommunistischen Reisegefährten.(118f.) Nach der Rückkehr plante Koebel eine ›Rotgraue Aktion‹, welche die bürgerlichen Bünde für den proletarischen Klassenkampf gewinnen sollte. In einem Aktionszentrum in der Kreuzberger Ritterstraße 63, bekannt als Rot-Graue Garnison, nahm die Idee Gestalt an. Es handelte sich um das in anderen Städten – und Jahrzehnte später im Zeichen von ›68‹ – praktizierte Modell einer politisch aufgeladenen Wohngemeinschaft. Zu den Bewohnern zählte zeitweise Harro Schulze-Boysen, zu den interessierten Mitstreitern der ›Nationalbolschewist‹ Karl Otto Paetel – 1935 in die Emigration getrieben, 1962 Herausgeber einer deutschen Anthologie amerikanischer Beat-Poeten –, der Sexualwissenschaftler Max Hodann, der Rechtsanwalt Hans Litten sowie Alfred Kurella, der spätere Kulturpapst der DDR. (122)

In einem Gespräch mit Eckard Holler behauptete Richard Scheringer (1904-1986), der im Ulmer ›Reichswehrprozess‹“ (1930) zu Festungshaft verurteilt, im März 1931 von der NSDAP zur KPD übergetreten war, tusk sei durch sein Beispiel zum Eintritt in die KPD veranlasst worden. (129) Von März 1932 an gab Koebel die Zeitschrift Pläne heraus (137f.) – ein Titel, der Jahrzehnte später, in der Vorphase von ›1968‹, erneut in ›linke‹, kommunistisch inspirierte Jugendkreise hineinwirkte.

Am 1. Mai 1932 verkündete Koebel in der Zeitschrift Die Kommenden seinen Eintritt in die – auf den nationalkommunistischen ›Scheringerkurs‹ (Progamm der »nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes«) eingeschwenkte – KPD, datiert auf den 20. April 1932 (130f.). Er trat in jener Phase auch als Führer der ›Roten Pfadfinder‹ im Arbeitersportverein ›ASV Fichte‹ hervor.

Linientreuen Kommunisten blieb Koebel als linksradikaler Bohemien, gewiss auch wegen seiner unorthodoxen Neigung zum Zen-Buddhismus, supekt. Auf der anderen, ›bürgerlichen‹ Seite stieß er viele seiner bisherigen Kampfgenossen vor den Kopf, als er bei einem Pfingstlager 1932 in der Pfalz mit seinen Gefolgsleuten unter einer roten Fahne aufmarschierte. Die Mehrheit der Anwesenden trat aus, die dj.1.11 war in eine »rote« und »weiße« Jungenschaft gespalten. (136f.)

IV

Nach Aussage des Weggefährten Heinz Gruber (heigru) versuchte Koebel ihn und ein paar Freunde noch am Vorabend der Reichstagswahl am 5. März »in einem Nachtgespräch in der Kohte« zu einer Demonstration vor dem Karl-Liebkecht-Haus zu gewinnen (166). Ab April/Mai 1933 finden wir Koebel plötzlich auf der anderen Seite. Er trat aus der KPD aus und forderte seine ›roten‹ Anhänger zum Eintritt in die Hitlerjugend auf, während er für sich eine führende Rolle in der Reichsjugendführung unter Baldur von Schirach anstrebte. Gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Mitgliedschaft sowohl in der NSDAP als auch bei der SS. Welche Absicht auch immer Koebel mit dieser Kehrtwendung verfolgte – er selbst deutete eine »Doppelstrategie« an –, beide Anträge wurden abgelehnt (171, 175).

Den Nationalsozialisten waren die mit ihnen konkurrierenden Nationalrevolutionäre besonders verhasst. Bald hielt es auch Koebel für ratsam, nach Stuttgart zurückzukehren. Am 18. Januar 1934 wurde er verhaftet, nach Berlin verbracht und nach Gestapo-Verhör in der Prinz-Albrecht-Straße in das berüchtigte Columbia-Haus eingeliefert. Von der SS-Wachmannschaft bedroht und psychisch gebrochen, unternahm er zwei Selbstmordversuche. Beim zweiten Mal stürzte sich Koebel aus dem Fenster, wobei er schwere Knochenbrüche erlitt, die ihn alsbald zum ständigen Tragen eines Stützkorsetts nötigten. Wenige Wochen später, nach einer schriftlichen Verpflichtung zu politischer Abstinenz, wurde er entlassen. (183-187)

Die Gefahr für tusk bestand fort. Auf eine Warnung hin flüchtete er am 10. Juni 1934 von Stuttgart über Sassnitz auf Rügen nach Schweden. Von dort Ende Oktober 1934 ausgewiesen, gelangte Koebel mit seiner Frau nach England. Auf der Hut vor Spitzeln, hielt er, auch durch Reisen und Treffen auf dem Kontinent, Kontakt zu seinen – teilweise gleichfalls emigrierten – Freunden.

Das Exil bedeutete für Koebel bittere Armut. Er schlug sich und die Familie – die Ehefrau gebar zwei Söhne, 1935 und 1939 – mit Privatunterricht in Deutsch durch. Immerhin gelang es ihm, mit einem Stipendium des Internationalen Studentendienstes einen akademischen Abschluss in Chinesisch erlangen. Für zehn Monate arbeitete er 1942 beim Abhördienst der BBC, bis ihn eine Tuberkulose-Erkrankung wieder dauerhaft arbeitsunfähig machte.

Über Kontakte zu anderen Emigranten kam Koebels Verbindung zu der – laut Holler (236) bereits 1939 in London gegründeten – FDJ zustande. In der im September 1943 unter kommunistischer Ägide gegründeten FDB (›Freie Deutsche Bewegung‹) entfaltete er zum Thema ›Bündische Jugend‹ rege publizistische Aktivität, so dass er sich nach Rückkehr aus dem Exil für die Nachkriegszeit eine Führungsposition in der FDJ erhoffen konnte. Aufgrund von Intrigen des späteren DDR-Kulturministers Horst Brasch sowie eines eigenen »Putschversuchs« wurde daraus nichts, obgleich er aufgrund eines Briefwechsels meinte, die Unterstützung Erich Honeckers zu genießen. (241-246)

V

Erst 1948 konnte Koebel nach Deutschland – in die damalige SBZ – zurückkehren. Trotz Eintritt in SED bekam er anstelle einer FDJ-Führungsrolle nur eine Stelle als Jugendredakteur beim Berliner Rundfunk. Sein Versuch, in der DDR zu reüssieren, war spätestens am 2. Februar 1951gescheitert, als ihn seine SED-Wohngruppe aus der Partei ausschloss. (261) Ein Jahr später musste er sich in einem Prozess einer Altkommunistin erwehren, die ihn bei der Staatssicherheit wegen seiner angeblich persönlichen Kontakte zu dem »Faschisten Schirach« denunziert hatte (152f., 167f.) Schlimmer traf es ihn, als er (als »englischer Spion«) und seine Frau im Mai 1953 für mehrere Wochen verhaftet wurden. All das hinderte Koebel nicht, von seinem Sohn Michael eine schriftliche »Selbstkritik« – nach dessen Weigerung, vor den Volkskammerwahlen 1954 SED-Propaganda zu verteilen –, zu erzwingen. Jetzt brach die Familie auseinander. Seine Frau brachte Michael 1955 zu Verwandten im Westen, flüchtete dann selbst und reichte die Scheidung ein. (265)

Auch Koebels Versuche, über ›Briefe‹ auf die sich erneuernde Jugendbewegung in Westdeutschland Einfluss zu nehmen, waren zum Scheitern verurteilt. Nach einem bündischen Treffen im Winter am Nordrand des Ruhrgebiets 1948/49 gab der neue Bundesführer Walter Scherf (tejo) den Namen dj.1.11 an tusk zurück. Der Bund nannte sich fortan ›Deutsche Jungenschaft.‹ (259f.)

Zuvor hatte sich ein anderer ›Bündischer‹ in einem bitteren Brief von Koebel – anno 1933 Verfasser einer ›Heldenfibel‹ – von ihm abgewandt. Wenngleich von den Nazis abgelehnt, sei die ›Heldenfibel‹ ein pseudoheroisches Machwerk: »Hast Du auch bedacht, wie viele Jungen widerspruchslos und glühend den Zielen des vergangenen Regimes gefolgt sind, weil sie Dir nachlebten? Sind Deine Worte und Briefe Zeugnisse eines gehetzten Gewissens? Wo liegen sie alle, die Besten der dj1.11 […], wer hat sie erzogen, dass sie kalt und lachend in den Tod gingen?« (zit. 181 f.)

In seinem Buch Der Jungenschafter ohne Fortune (1985) beschrieb der einstige ›Gefolgsmann‹ Hans Graul den Auftritt tusks auf einem sogenannten ›Sühnelager‹ 1931 am salzburgischen Traunsee. Koebel erschien ihm als feinnerviger, disziplinierter Mann. »Man kann nicht sagen, er wäre schön gewesen.Viele meinten, er sehe wie ein Falke oder ein anderer Raubvogel aus.« (zit. 117) Es ist das Gesicht des selbstbewussten Jugendführers, wie es auf einem Gedächtnisheft der Jugendbewegung erscheint (Puls 9, Juni 1982).

Hollers Buch enthält Bilder, die im Sommer1955 auf einem bündischen Treffen auf der Neuenburg bei Neuwied aufgenommen wurden. Ein Porträtfoto zeigt tusk mit einem resignativ zerquälten Gesicht (273). Der einstige Charismatiker, Vorkämpfer eines heldenhaften, selbstbestimmten Lebens, starb sechs Wochen später, mit nur 48 Jahren am 31. August 1955.

VI

In seinem Nachwort bekennt Eckard Holler, seine Bewunderung für tusk habe »imVerlauf der Beschäftigung mit seinem Lebensweg etliche Kratzer erhalten« (S. 295) Außer der frühen Hitlerverehrung missfallen dem Verfasser Koebels »autokratischer Führungsstil« sowie sein Agieren in der Nachkriegszeit.

Dieses Urteil ist nicht von der Hand zu weisen. Der ›Mythos tusk‹ verrät eine psychologische Grundlinie: romantische Sensibilität durchmischt mit Egozentrik, das Bedürfnis nach Gemeinschaft gegenüber der ›kalten‹ Zweckrationalität der modernen Gesellschaft. Nicht zufällig ist Koebels Lebensgeschichte die Geschichte eines großen Scheiterns. Sie steht exemplarisch für die deutsche Katastrophe im vergangenen Jahrhundert.

Die Bedeutung des Buches von Eckard Holler hat der 2018 verstorbene Historiker Walter Z. Laqueur (»Young Germany«, New York 1962), in jungen Jahren Mitglied einer Wandervogelgruppe in Breslau, in einem kurzen Vorwort gewürdigt: »tusk – die legendäre Figur der späten Deutschen Jugendbewegung war ein bemerkenswert talentierter Mann. Sein politisches Urteilsvermögen war jedoch nicht beeindruckend. Er wollte Mitglied der KPD und der SS sein, aber beide wiesen ihn ab. Diese Biografie sollte empfohlen werden.« (5)

Zu empfehlen ist das Buch – im weitesten Sinne eine Biographie der deutschen Jugendbewegung – auch dank seiner Ausstattung mit vielen Originalquellen, Faksimiles sowie einer beigelegten DVD mit 46 Liedern der dj.1.11. Wo in Deutschland überhaupt noch gesungen wird, kennt man das auf einer russischen Volksweise beruhende Lied »Über meiner Heimat Frühling«. Gedichtet hat es Eberhard Koebel.

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