von Peter Brandt

Die Themenstellung enthält zwei Begriffe, die sich nicht von selbst verstehen: zunächst ›Sozialismus‹. Ist mit dem Ende des sogenannten ›real existierenden Sozialismus‹ zwischen Magdeburg und Wladiwostok, gekennzeichnet durch die Diktatur des obersten Zirkels der führenden Partei und Kommandowirtschaft im Rahmen einer weitgehend verstaatlichten bzw. entprivatisierten Ökonomie sowie – unterschiedlich stark ausgeprägte – Privilegierung der Staats-, Partei- und Wirtschaftsbürokratie sowie bestimmter Berufsgruppen in einer ansonsten relativ egalitären Gesellschaft, ist also mit dem Ende dieses Systems, dessen Wiederkehr in Europa höchst unwahrscheinlich ist, jede gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus, gekennzeichnet durch Privateigentum an den Produktionsmitteln, den Markt als Steuerungsmechanismus und das Profitprinzip, hinfällig? Und wie sehr hat der Zusammenbruch der oft als ›Staatssozialismus‹, auch als ›Nominalsozialismus‹ (statt ›Realsozialismus‹) bezeichneten Ordnung auch diejenigen Teile einer sich irgendwie als sozialistisch verstehenden Linken, die diesem System schon vor 1989/90 kritisch gegenüberstanden, tangiert?

›Rechts‹ und ›links‹ sind eigentlich relative Begriffe der ideologisch-politischen Zuordnung, entstanden aus der Sitzanordnung der Parlamente des 19. Jahrhunderts, bevor es eine sozialistische Arbeiterbewegung gab; und viele denken inzwischen gar nicht mehr so sehr an Kernfragen der Gesellschaftsordnung, wenn sie beides unterscheiden, sondern an Themen wie die sogenannte Ehe für alle und Multikulti. Von der ›Linken‹ in Verbindung mit dem Geschichtsbruch von 1989/90 zu sprechen, macht indessen nur Sinn, wenn jene als eine – wie vage auch immer – mit Sozialismus konnotierte Grundströmung ins Auge gefasst wird. In gewisser Weise gilt das bis heute selbst für die Sozialdemokratie, die sich schon in den 1950er Jahren von der Vorstellung des ›demokratischen Sozialismus‹ als einer Systemalternative zum Kapitalismus gelöst hatte, weil dieser seinerseits nicht mehr als System verstanden wurde. Spätestens seit dem Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 ist der ›demokratische Sozialismus‹, von Teilen des linken Parteiflügels abgesehen, im SPD-Verständnis nur noch eine regulative Idee und eine ständige Aufgabe, doch in allen Programmen seitdem wieder aufgenommen als symbolische Formel.

Dabei ließ sich, namentlich in dem während der späten 1980er Jahre entstandenen Berliner Programm, durchaus eine eigene, ganz spezifische wirtschafts- und gesellschaftspolitische Orientierung erkennen, die zu weitergehenden antikapitalistischen Positionen nicht rigoros abgeriegelt war: Erhaltung und Ausbau des Sozialstaats, keynesianische Wirtschaftspolitik, demokratische Partizipation der Bevölkerung, auch im Wirtschaftsleben (›Wirtschaftsdemokratie‹) sowie schon damals: sozial-ökologische Weiterentwicklung bzw. Umgestaltung des Gemeinwesens. Unverbrüchlich schien damals auch noch die Verbindung der SPD zu den Gewerkschaften, insbesondere auf der oberen Ebene.

Unter Druck geraten war der sogenannte ›Rheinische Kapitalismus‹, die koordinierte Marktwirtschaft, schon im Verlauf der 1970er und 80er Jahre, weil die Kapitalseite in den hochentwickelten Ländern durch langsamere Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität, die Sättigung der Märkte und durch die starke Position der Gewerkschaften in eine Profitklemme geriet und nach Auswegen suchte, die das (keineswegs nur von der Sozialdemokratie getragene) Nachkriegsmodell infrage stellten. Allerdings verlief dieser Prozess in der Bundesrepublik erheblich zögernder und weniger durchgreifend als in den angelsächsischen Ländern, wo mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher 1979 und Ronald Reagan 1981 eine marktradikale, wie man – begriffsgeschichtlich nicht ganz sauber – mehr und mehr sagte: ›neoliberale‹, Politik gezielt vorangetrieben wurde. Sie richtete sich außenpolitisch nicht nur, schärfer als in der Phase davor, gegen die Sowjetunion und ihren Einflussbereich, sondern auch gegen staatsinterventionistische, sozialstaatliche und gewerkschaftsfreundliche Praktiken und Konzepte in der westlichen Welt. Globalisierung, Privatisierung, Entfesselung der Finanzmärkte, Deregulierung der Märkte überhaupt und der Sozialsysteme, Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen sind die bekannten Stichworte. Die Anwendung der neuen Mikroelektronik setzte nach und nach ein gewaltiges Rationalisierungspotential frei.

Die Auflösung festgefügter soziokultureller Milieus wie des Arbeitermilieus war schon länger in Gange. Der Anteil der Industriearbeiter an der Erwerbsbevölkerung nahm zugunsten anderer Arbeitnehmergruppen ab. Die traditionelle Linke, sei sie mehrheitlich kommunistisch wie in Frankreich und Italien oder sozialdemokratisch geprägt gewesen wie in den germanischen Ländern, verlor gewissermaßen ihre Kerntruppe. Die soziale Polarisierung und die Arbeitslosigkeit nahmen dabei auch in Deutschland seit den mittleren 70er Jahren wieder zu. Die Migration lieferte das Personal für die Unterschichtung der alten Industriearbeiterschaft und daneben für ein neues Dienstleistungsproletariat.

Die Sozialdemokratie, nicht nur in Deutschland, hätte ihren Kurs der 1960er und 70er Jahre nur mit großer Konfliktbereitschaft verteidigen können (vorausgesetzt, das wäre möglich gewesen). Stattdessen erfolgte, wo sie an der Regierung war, in Westdeutschland nach dem Wechsel von 1982 erst wieder seit 1998, die vermeintlich unausweichliche Anpassung, programmatisch formuliert, aber lange vorher eingeleitet, im sogenannten Schröder / Blair-Papier von 1999. Selbstverständlich wurde der Positionswechsel nicht einfach als Anpassung an Unvermeidliches, sondern als Weiterentwicklung der Sozialdemokratie zu einer ›neuen Mitte‹, gekennzeichnet durch Modernität und Ausweitung von Freiheitsspielräumen, verstanden und beschrieben.

An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass vor dem Herbst 1989 weithin mit der Abwahl der Regierung Kohl-Genscher bei der kommenden Bundestagswahl gerechnet wurde. Neben den Sozialdemokraten saßen seit 1983 Abgeordnete der Grünen im Parlament. Diese ökologisch, pazifistisch und basisdemokratisch orientierte Gründung von 1980 schloss, zumal anfangs, zwar auch Wertkonservative ein, war aber mehrheitlich linksorientiert im kapitalismuskritischen Sinn. Etliche frühere Angehörige sogenannter K-Gruppen ›marxistisch-leninistischer‹, ursprünglich prochinesischer Ausrichtung hatten sich den Grünen angeschlossen, ebenso Linksradikale eher spontaneistischen Charakters; der Bekannteste ist der spätere Außenminister Joseph Fischer. Just in den Reihen der Grünen begann – und zwar schon deutlich vor dem Herbst 1989 – die Infragestellung der Möglichkeit einer humanen sozialistischen Alternative zum Kapitalismus. Auf dem sogenannten Realo-Flügel und dann in der Gesamtpartei setzte sich diese Skepsis dann schnell durch; die längst marginalisierten sogenannten Fundamentalisten und die Öko-Sozialisten um Rainer Trampert und Thomas Ebermann verließen die Partei, die sich nach und nach komplett in den Politik- und Parlamentsbetrieb der erweiterten Bundesrepublik integrierte und alternative Koalitionsmöglichkeiten nutzte. Das minoritäre Linke Forum innerhalb der Grünen arrangierte sich in Anbetracht der Lage mit den Realos und einer Mittelfraktion; einige gingen schon 1990 zur PDS über, so der spätere Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf. Als Links im eingangs definierten, themenbezogenen Sinn kann man möglicherweise noch einen Teil der Mitgliederschaft und der Wähler, aber inzwischen sicher nicht mehr die Partei als Ganze oder auch nur überwiegend ansehen.

Neben der SPD und den Grünen gab es in der alten und dann reduziert auch in der erweiterten Bundesrepublik ein nicht irrelevantes Spektrum, das im Wesentlichen aus zwei Komponenten bestand: Der Einfluss der DDR-finanzierten DKP mit bis zu 40 000 Mitgliedern vor 1989 war größer als es die blamablen Bundestagswahlergebnisse im Promille-Bereich anzeigten, wenn man z. B. die Zahl der Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre mit Mitgliedsbuch oder im Sympathisantenstatus einbezieht, die die Partei unterstützten. Schon von inneren Auseinandersetzungen über Gorbatschows Perestroika tief zerstritten, geriet die DKP durch die Wende im Osten in eine Existenzkrise und konnte sich erst nach Jahren auf deutlich niedrigerem Niveau fangen. Sie schloss sich nicht der PDS an, die sie als revisionistisch und reformistisch ansah, ebenso heute die Linkspartei. Die relativ bedeutenderen der maoistischen (›marxistisch-leninistischen‹) Miniparteien hatten sich schon 1980 bzw. 1985 selbst aufgelöst. Einige Zeit weiterexistieren konnte der besonders in Norddeutschland verankerte Kommunistische Bund (KB), der geistig beweglicher war. Schon in der Altbundesrepublik hatte der KB die These von der tendenziellen, ständig drohenden Faschisierung des deutschen Staates vertreten, die ihn nach 1989, bald danach gespalten, zu einem Ferment der sogenannten ›Antideutschen‹ machte.

Neben den traditionalistischen bzw. auf Parteiaufbau orientierenden Richtungen existierte das, was man als Bewegungslinke bezeichnen könnte: Frauenbewegung, Antiatomkraft- und Umweltbewegung sowie Friedensbewegung als die bedeutendsten der Neuen Sozialen Bewegungen, darunter auch das Milieu der ›Autonomen‹. Neben dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben in kleinen Kollektiven, nicht selten in besetzten Häusern, sind die Gruppen der Autonomen gekennzeichnet durch eine Art negative Staatsfixierung. Wenn in den Medien aus bestimmten Anlässen vom Randalieren linker Demonstranten berichtet wird, sind fast durchweg die Autonomen gemeint, deren Zahl nach 1989 übrigens zunahm. Wir sprechen vom Tausender-Bereich.

Obwohl die verstärkten Krisenerscheinungen im Ostblock während der 1980er Jahre, hier namentlich in der DDR, nicht unbemerkt blieben, kam der Umbruch vom Herbst 1989 für alle politischen Akteure im Westen überraschend, und so auch für die gesamte Linke. Die Sozialdemokraten und weite Teile der radikaleren Linken hatten in die Reformpolitik Gorbatschows große Hoffnungen gesetzt. Einer derjenigen Sozialdemokraten – unter den führenden sogar am entschiedensten –, die sich seit jeher für die Oppositionsströmungen im Ostblock, z. B. für Solidarność, engagierten, war übrigens der bekennende Marxist Peter von Oertzen, der seine Partei wiederholt aufforderte, neben der Entspannung nach Osten Solidarität mit den Regime-Gegnern zu zeigen. Eine demokratische Erneuerung bzw. Transformation des Sowjetsystems und damit des Sozialismus schien 1988/89 vielen möglich: ›Radio Moskau sendet wieder!‹ hieß es. Und die DDR-Führung würde sich, so nahm man an, nicht mehr lange einer Öffnung und Veränderungen verweigern können. Dass damit fast zwangsläufig auch die deutsche Teilungsproblematik aktualisiert werden würde, sahen vor dem Herbst 1989 nur wenige Linke.

In der ersten Phase der revolutionär-demokratischen Volksbewegung in der DDR, zumindest bis zur Öffnung der Mauer, ließ sich die Entwicklung noch gut mit linksgerichteten Erwartungen verbinden. Die Oppositionsgruppen und jetzt deutlicher hervortretende SED-Reformer mit einem Großteil der Basis in der SED sowie nach Meinungsumfragen auch die große Bevölkerungsmehrheit zielten noch auf eine demokratisch-sozialistische DDR. Doch die regelrechte Auflösung des Staates seit Mitte November 1989 bei anhaltender Massenausreise, forciert durch die wenig entgegenkommende Haltung der Bundesregierung Kohl / Genscher gegenüber der neuen, von Hans Modrow geführten Regierung in Ost-Berlin, ließ die Stimmung in der DDR schnell umschlagen, und Heilserwartungen im Sinn einer möglichst raschen und unkomplizierten Wiedervereinigung fielen in Ostdeutschland auf fruchtbaren Boden. Bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 siegte, für viele trotzdem überraschend, die CDU-geführte ›Allianz für Deutschland‹, während die SPD und vor allem die im Bündnis 90 vereinigten Oppositionsgruppen eine herbe Niederlage einstecken mussten, während die in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umbenannte SED ihre 16,4 Prozent unter den gegebenen Umständen als passabel betrachten durfte. Das Wahlergebnis ebnete den Weg für die Lösung der deutschen Frage durch Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.

Vollends in die Defensive geriet die Gesamtlinke mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990: Die SPD (jetzt 33,5 Prozent) mit dem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine büßte prozentual 3,5  Prozent ein (was überwiegend dem erneut schlechten Abschneiden im Osten geschuldet war); die PDS kam nur aufgrund der getrennten Berücksichtigung der Wahlgebiete Ost und West im Hinblick auf die Sperrklausel in den Bundestag, während der Verbund aus den Grünen und dem Bürgerrechts-Bündnis 90 just wegen dieser Teilung nur durch ostdeutsche Abgeordnete vertreten war. Im Lauf des Jahres 1990 schien zudem die Auffassung übermächtig geworden zu sein, dass nun jede Möglichkeit der Überwindung des Kapitalismus als illusorisch erwiesen sei. Dabei war es keineswegs so, dass es keine sozialen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen mehr gegeben hätte, die man von linker Seite hätte als Klassenkämpfe verstehen können. Im Osten stach der monatelange, letztlich erfolglose Abwehrkampf der Kumpel des Kali-Bergwerks in Bischoferode 1992/93 hervor; im Westen eskalierte die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu einer starken und durchschlagenden Protestbewegung. Und im Juni 1996 mobilisierte der DGB 350 000 Menschen zu einer Kundgebung gegen das Sparpaket der Regierung Kohl.

Dass ›die Linke‹ in Ost- wie in Westdeutschland gegen die deutsche Einheit gewesen sei, wie man häufig lesen kann, trifft so nicht zu (abgesehen von Gruppen, von denen noch die Rede sein wird). Richtig ist aber, dass sie sich in den entscheidenden Monaten dem zunehmenden Einheitsverlangen gegenüber stets defensiv verhalten hat, statt frühzeitig mit eigenen deutschlandpolitischen Ideen hervorzutreten. Gegen eine schlichte Übernahme der bundesdeutschen Ordnung durch die DDR – von Beitritt konnte anfangs noch keine Rede sein – hatte sich im Herbst 1989 und Winter 1989/90 allerdings die gesamte westdeutsche Linke positioniert, einschließlich derjenigen, die eine selbstbestimmte staatliche Einigung Deutschlands grundsätzlich befürworteten oder zumindest nicht ausschlossen. Die Haltung zugunsten der DDR ergab sich gerade aus der Sympathie für die revolutionär-demokratische Volksbewegung dort und den in sie (letzten Endes vergeblich) gesetzten Hoffnungen, auch im Hinblick auf die vermutete Ausstrahlung auf den Westen Deutschlands.

Ein beträchtlicher Teil des linken Gesamtspektrums empfand aber zunehmend Unbehagen über die nationaldeutsche Komponente des Geschehens. Gegen eine jetzt immerhin wieder denkbare Vereinigung und für den dauerhaften Fortbestand der DDR artikulierten sich schon seit Anfang Dezember 1989 relativ breite Bündnisse. Diese Position fand dann im Jahr 1990 aus Teilen der außerparlamentarischen Linken eine Zuspitzung unter dem bemerkenswerten Motto: ›Deutschland? Nie wieder!‹, das zehntausende Menschen auf die Straße brachte. Wie selbstverständlich wurde das aktuelle Geschehen vor der Folie des NS-Faschismus wahrgenommen. Das Bewusstsein dafür, dass nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auf ihre Weise auch die SED (unter Walter Ulbricht mit seiner ›nationalen Konzeption‹) die Teilungsproblematik lange zentral thematisiert hatte, existierte nicht mehr, wohl auch wegen des fortlaufenden Generationswechsels. Die Parole vom ›Vierten Reich‹ machte die Runde. Das war keine reine Polemik, sondern durchaus ernst gemeint und gipfelte in Überlegungen, die ehemaligen Kriegsalliierten zum koordinierten Eingreifen zu veranlassen. Hier sind die Wurzeln dessen zu suchen, was dann als ›antideutsche‹ Richtung ins Leben trat.

Die publikumswirksamste Zeitschrift dieser spezifischen Tendenz war die seit Ende der 1950er Jahre existierende, verschiedene Etappen der Entwicklung der westdeutschen Linken begleitende konkret unter ihrem Chefredakteur Hermann L. Gremliza. Während des zweiten Golfkriegs 1991 stellte sich die Zeitung gegen die vor allem aus Schülern bestehenden Friedensdemonstrationen, die nicht allein lächerlich gemacht, sondern namentlich von Gremliza selbst und von seinem Autor Wolfgang Pohrt als quasi neonazistisch attackiert wurden. Die Forderung nach Beendigung des Krieges seitens der PDS sei Teil einer ›völkischen Generalmobilmachung‹ im Stil der NS-Propaganda. Die Bombardierung des Irak durch die von den USA geführte Koalition wurde in konkret ausdrücklich begrüßt, während die traditionelle Suche der Zeitschrift nach faschistischen Kontinuitäten in der Bundesrepublik nun vorrangig auf die Linke bezogen wurde. Noch einmal Pohrt: »… man braucht keine Phantasie mehr, um sich die Antiimpis oder die Autonomen als Volkssturmabteilungen der Hitlerjugend oder als Verbände der Aktion Werwolf vorzustellen.« Das war – wohlgemerkt – keine Übernahme der Totalitarismus-Theorie oder des Extremismus-Konzepts – man verstand sich weiterhin als Marxist und Kommunist –, sondern eine Reaktion auf die vermeintliche Konterrevolution im Ostblock. Wie das?

Da keine weltpolitische Alternative mehr existierte, blieb als konkrete Aufgabe, so der Gedankengang, nur noch die vorbehaltlose Unterstützung des Judenstaates Israel und – da dessen Existenz letztlich von den USA garantiert werde, der USA, die immerhin persönliche Freiheit und Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft garantierten. Im Kontrast dazu wurde alles spezifisch Deutsche und wurden ›die Deutschen‹ als untrennbar und unvermeidlich mit dem Nationalsozialismus verbunden betrachtet. Und so erschien bald jede Kapitalismus-Kritik, die nicht den Abstraktionsgrad der Frankfurter Schule erreichte und gar an Erfahrungen der Massen anknüpfen wollte, als eigentlich antisemitisch. Der universelle Antisemitismus-Vorwurf, vor allem gegen Linke, wurde zum Markenzeichen der antideutschen Strömung. Soziale Kämpfe wurden jetzt zu rassistischen Besitzstandsbemühungen. Und nationale Befreiungsbewegungen in der südlichen Hemisphäre, sofern sie noch Erwähnung fanden, mit Hohn überschüttet. Als zahlreiche Menschen hierzulande zu Beginn der 90er Jahre ihren Abscheu über mehrere rechtsextrem motivierte Anschläge und die pogromartigen Unruhen in Rostock-Lichtenhagen und in Hoyerswerda durch Lichterketten ausdrückten, sahen die Macher von konkret darin »feierliche Dankgottesdienste für die Abschaffung des Asylrechts«. (Gemeint war dessen Einschränkung 1993.) Die Zahl der absurd wirkenden Zitate ließe sich beliebig vermehren.

Außer konkret mit einer Zehntausender-Auflage sind weitere Publikationsorgane zu Sprachrohren der antideutschen Strömung geworden, neben der Jungle World, einer Abspaltung der Jungen Welt, vor allem die Bahamas. Ein prominenter Vertreter der Antideutschen war übrigens der Journalist Jürgen Elsässer, der später einen großen Rechtsschwenk gemacht hat und seit einigen Jahren publizistisch für Pegida und die AfD trommelt. Ein realer Anknüpfungspunkt für die zahlenmäßig kaum festzumachenden, doch auch jenseits des harten Kerns in die Antifa-Szene und in Kreise der Autonomen hineinwirkenden Antideutschen, die Mitte der 90er Jahren den Höhepunkt ihres Einflusses erreichten, ist die tatsächlich nonchalante und oft grobschlächtige Israel-Kritik in der radikalen Linken in den 1970er und 80er Jahren.

Die zahlenmäßig auf einen Bruchteil schrumpfende SED / PDS, wie sie bis Februar 1990 noch hieß – bei den die Partei Verlassenden dürfte es sich neben den Desillusionierten vor allem um solche gehandelt haben, die aus opportunistischen Motiven der führenden Partei der DDR angehört hatten –, brach weitgehend mit ihrer eigenen Geschichte und veränderte tiefgreifend ihr Programm. Die Programmarbeit fand einen verbindlichen Niederschlag im Grundsatzprogramm von 1993, das man als linkssozialistisch (im Unterschied zu: sowjetkommunistisch) bezeichnen kann.

Der Aufstieg der PDS zur ostdeutschen Regionalpartei im Verlauf der 1990er Jahre mit einer Wählerunterstützung bis zu 30 Prozent auf regionaler Ebene ist ohne die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des deutschen Einigungsprozesses kaum vorstellbar. Um diese Feststellung zu treffen, ist es unerheblich, ob der eingeschlagene Weg falsch oder richtig bzw. alternativlos war (gemessen an den damit verbundenen Zielsetzungen). Die PDS wurde in der Wahrnehmung ihrer selbst, aber auch einer großen Zahl Ostdeutscher (über die eigene Wählerschaft hinaus) die Interessenpartei des Ostens. Währenddessen blieb die Partei im Westen eine (in den PDS-Gliederungen der neuen Ländern wenig geschätzte) Ansammlung heimatlos gewordener radikaler Linker, bei Wahlen auf früherem DKP-Niveau.

Zweifellos wurde die Westausdehnung der PDS nicht zuletzt behindert durch die SED-Erbschaft. Trotz aller programmatisch unzweideutigen Abkehr vom sowjetkommunistischen Modell – ›Stalinismus‹ im weiteren Sinn – war ja die Herkunft aus der führenden Partei der DDR, woher die Masse der Mitglieder, darunter nicht wenige frühere Angehörige der Repressionsapparate, kam, offensichtlich. Weniger bekannt wurde die intensive selbstkritische Auseinandersetzung, die die Historische Kommission der PDS in den 90er Jahren entfaltete – natürlich nach eigenen Kriterien und nicht nach denen des politischen Gegners. Allerdings wurden diese in einer Reihe tiefer schürfender Papiere niedergelegte Arbeit gegen Ende der 90er Jahre von der Gesamtpartei einschließlich ihrer Führung nicht mehr nachdrücklich unterstützt. Viele PDSler meinten, da würde schmutzige Wäsche gewaschen im Interesse des Klassenfeindes.

Die Beteiligung der PDS an mehreren Landesregierungen seit 1998, namentlich in Berlin, ermöglichten als eine Art Eintrittsbillett Entschuldigungsformeln, die sich hauptsächlich auf die Zwangsfusion von SPD und KPD 1946 in der Sowjetzone und auf die Errichtung der Berliner Mauer 1961 bezogen. Auffällig war (und ist bis heute), dass diesen Unterwerfungsgesten keine ernsthaften kritischen Debatten folgten, und das gilt nicht nur für die PDS bzw. die Linkspartei, sondern auch für ihre jeweiligen Koalitions- bzw. Kooperationspartner. Die genannten Erklärungen und generell das Einfordern von bestimmten Formeln wie ›Zwangsvereinigung‹ und ›Unrechtsstaat‹ hat die gebotene Auseinandersetzung mit der SED-Vergangenheit nach meiner Wahrnehmung nicht vorangebracht, sondern eher behindert, weil sie einen zynischen Umgang mit der Problematik gefördert hat.

Westdeutsche Vorbehalte gegenüber dem SED-Erbe machten sich im Gründungsprozess der Partei Die Linke seit 2004 geltend, spielten aber inzwischen, anderthalb Jahrzehnte nach dem Sturz der politbürokratischen Diktatur in Ostdeutschland und angesichts der aktuellen Herausforderungen, die zur Entstehung der neuen Partei führten (Stichwort: Agenda 2010) und die im Vordergrund standen, keine wesentliche Rolle, zumal man, wenn man wollte, die Distanzierung der PDS von diesem Erbe als vollzogen abhaken konnte. Die Verständigungsschwierigkeiten zwischen der PDS und ihren westdeutschen Partnern bezogen sich hauptsächlich auf Fragen der politischen Strategie und Taktik.

Die demonstrative Abkehr vom Stalinismus 1989/90 beinhaltete zugleich die Abschaffung des sogenannten ›demokratischen Zentralismus‹ und die Anerkennung des Nebeneinanders von verschiedenen, auch organisierten Strömungen in der Partei. Seitens der Gegner wird bis heute gern die Kommunistische Plattform herausgestellt, deren Name die positive Bezugnahme auf den spezifisch kommunistischen Traditionsstrang anzeigt. (Die Kommunistische Plattform war übrigens ursprünglich nicht stalinistisch im engeren Sinn). Auf dem linken Flügel formierten sich aber auch andere wechselnde Gruppierungen, die den Kurs der Parteiführung als anpasslerisch und zu wenig kämpferisch kritisierten, darunter jetzt z. B. auch Trotzkisten, ehedem scharfe Gegner des damals bestehenden Systems Links-Rechts-Kontroversen in der PDS, später der Linkspartei sind also nicht unbedingt identisch mit mehr oder weniger Distanz zur SED-Vergangenheit.

Einer uneinheitlichen Parteilinken standen innerhalb der PDS, grob gesprochen, von Anfang an zwei Tendenzen gegenüber, die unterschieden werden sollten, auch wenn sie oft zusammengingen und in den Landesverbänden der Partei bestimmend wurden: eine kleine Gruppe von intellektuellen reformstrategischen Denkern um Dieter Klein und die Brüder Brie, die sich schon in der Endphase der SED – vor der friedlichen Revolution – zusammengefunden hatte auf der Suche nach einem ›modernen Sozialismus‹, der befreiend und lebensfähig wäre; zweitens die reinen Pragmatiker, hauptsächlich unter den nach und nach Tausenden von Kommunalpolitikern, die im Interesse ihrer Klientel unter den gegebenen Bedingungen zu gestalten versuchten und außerdem häufig Ansichten vertraten, die weit entfernt waren vom Weltbild ›prinzipientreuer‹ Linker, insbesondere derer aus Westdeutschland. Die bekannten Führungsfiguren wie Gregor Gysi, Lothar Bisky und die meisten Landesvorsitzenden bzw. Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen standen zwischen den Reformstrategen und den Pragmatikern. Dazu kamen als weitere Strömung jüngere Mitglieder ohne SED-Vergangenheit, eher antiautoritär im Stil und in den Auffassungen. Streit galt immer wieder der Frage, ob man Regierungskoalitionen mit der SPD und den Grünen anstreben sollte in der Hoffnung auf eine progressive Dynamik – trotz deren von der Gesamtpartei kritisierter, vermeintlich neoliberaler Politik. Dabei ging und geht es offenkundig auch um die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Partei. Mit am entschiedensten vertrat die Berliner PDS/Linkspartei in der Zeit ihrer Mitregierung in der Stadt 2001-2011 (einschließlich des strikten Sparkurses) den Regierungssozialismus, was starke Einbußen bei Wahlen zur Folge hatte – und das nicht nur in Berlin.

Hinzufügen sollte man vielleicht, dass die aus der SED kommenden Mitglieder gewohnt waren, der Parteiführung zu folgen, was dieser eine Neupositionierung im vereinten Deutschland erleichterte. Einen Mangel an innerparteilicher Demokratie – verglichen mit anderen deutschen Parteien – wird man der PDS, später der Linkspartei nicht bescheinigen können, ungeachtet gelegentlicher Manipulationen der Spitze, wie man sie auch in Konkurrenzparteien findet.

In einer vom Allensbacher Institut in ganz Deutschland durchgeführten repräsentativen Meinungsumfrage stimmten 1991 in den alten Bundesländern immerhin 36 Prozent der Aussage zu, der Sozialismus sei eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde; in den neuen Ländern waren es sogar 60 Prozent . Allzuviel lässt sich daraus allerdings nicht ableiten, weil unklar bleibt, was die Zustimmenden genau damit sagen wollten. Bis 1996 veränderten sich die Aussagen insofern, als nun auch im Westen mehr Menschen die schlecht ausgeführte, aber eigentlich gute Idee bejahten. Allerdings wollten zwei Drittel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen auf einen neuen Versuch lieber verzichten. Auch bei zurückhaltender Deutung lässt sich doch zumindest feststellen, dass ein großes Bevölkerungssegment dem Begriff ›Sozialismus‹ nicht von vornherein ablehnend gegenüberstand, anders als nach der veröffentlichten Meinung zu vermuten.

Im Frühjahr 2004 bildeten enttäuschte Sozialdemokraten und Gewerkschafter, unterstützt von linken Intellektuellen, die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), zu der dann auch der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine stieß. Im November 2003 hatte der Druck von der Basis den DGB veranlasst, in Berlin eine Massenkundgebung gegen die Politik der angekündigten Agenda 2010, die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung, durchzuführen, ein Hinweis neben anderen, dass die Situation für die Etablierung einer entschieden sozialstaatlich orientierten Partei günstig war. 62 Prozent der repräsentativ befragten Deutschen meinten 2006, dass die Marktwirtschaft keine soziale mehr sei, über 80 Prozent beklagten die Einkommens- und Vermögensunterschiede. Über die Wahlerfolge der in einem mehrjährigen Fusionsprozess entstandenen Partei Die Linke im Bund 2005 mit 8,7 Prozent, mehr noch 2009 mit 11,9 Prozent (Wahlgebiet Ost: 29,1 Prozent ) und jetzt auch in westdeutschen Ländern, zu denen auch ein im Westen rasanter Mitgliederzuwachs auf insgesamt fast 80 000 gehörte (seitdem wieder schrumpfend), wird oft vergessen, dass der Vereinigungsprozess keineswegs ganz glatt lief, vor allem in Berlin, wo eine relativ radikale WASG mit der im Senat vertretenen PDS aneinander geriet.

Bei dem Fremdeln der beiden Partner spielte die stark voneinander abweichende politische Sozialisation eine beträchtliche Rolle; dazu gehörte auch das anfangs gänzliche Fehlen eines linksalternativen, zum Anarchoiden tendierenden Milieus in den östlichen Bundesländern und die damit verbundene antiautoritäre Mentalität. Insgesamt waren die WASG-Leute mehr als die PDSler auf Opposition orientiert im doppelten Sinn der parlamentarischen Opposition und der Opposition gegen den gesellschaftlichen Status quo bzw. gegen die Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung.

Beide Ursprungsformationen, die sich im Vereinigungsprozess nicht mit dem Charakter und der Politik der jeweils anderen systematisch auseinandersetzten, namentlich auch die PDS, kannten nun keine Programmatik bzw. nicht mehr, die von einer marxistisch inspirierten Analyse ausgegangen wäre. Anstößige Termini wie ›Klassenkampf‹ werden seit langem ebenso vermieden wie eine (abgesehen von Demokratie-Erweiterung) Konkretisierung des angestrebten Sozialismus. Die zentrale Frage der Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft wird nur vage dadurch beantwortet, dass privatwirtschaftliche Entscheidungsstrukturen durch ›gesellschaftliche Gegenmächte‹ dominiert werden sollen, der Fokus also nicht mehr auf das Eigentum im juristischen Sinn, sondern auf die Verfügungsgewalt gelegt wird.

Gegen die neoliberale, finanzmarktgesteuerte Phase bzw. Variante des Kapitalismus erhoben sich spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 wieder vermehrt und lauter als zuvor kritische Stimmen, keineswegs nur von Linkssozialisten dieser oder jener Sorte. Beispielhaft verweise ich auf diverse Stellungnahmen der Kirchen und von Kirchenvertretern sowie auf die Wahlprogramme von SPD und Grünen, wo 2013 die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, der gesetzliche Mindestlohn usw. gar nicht mehr als unrealistisch oder gar staatssozialistisch galten.

Der kritische Neoliberalismus-Diskurs ermöglichte es der Partei Die Linke, Kapitalismus-Kritik zu artikulieren und sich dabei positiv auf die Alt-Bundesrepublik vor den 80er Jahren und ihre ›soziale Marktwirtschaft‹ (ein inzwischen affirmativ übernommener Terminus) zu beziehen. Das machte ihr Agieren anschlussfähig für immer größere Segmente der Politik und der Medien. Die 1990 weit verbreitete Vorstellung vom Ende des ideologischen Zeitalters begünstigte letztlich die Integration der PDS bzw. der Partei Die Linke in das politische System der Bundesrepublik, zuerst im Osten, dann mehr und mehr auch im Westen. Ein immer wieder angeführtes ›strategisches Dreieck‹ der PDS- und später der Linkspartei-Politik: außerparlamentarische Bewegung, politische Gestaltung in den Institutionen und Alternativen über den Kapitalismus hinaus, kann indessen ja ganz unterschiedlich akzentuiert werden.

Das ›Ankommen‹ im bundesdeutschen Staat und in der bundesdeutschen Gesellschaft hat aber seinen Preis: Die Linkspartei ist immer weniger imstande, den Protest der Einigungs- wie der Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer zu bündeln und politisch zu artikulieren. Das Ausscheiden Oskar Lafontaines, des begnadeten Populisten (oder, wie ich neutraler sagen würde: des Meisters der popularen Anrufungen) aus der Bundespolitik 2010 hat sicher verstärkend gewirkt. Das ist aber nicht der entscheidende Faktor. In etlichen Staaten Europas wird sozialer Protest heute überwiegend durch die Wahl von rechten und rechtsextremen Parteien ausgedrückt, bis tief in die Reihen der gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter. Die Migrations- und Flüchtlingsproblematik spielt eine große Rolle – Lafontaine hat das frühzeitig erkannt –, aber ebenso (und bis zu einem gewissen Grad damit verbunden) der jüngst viel diskutierte soziokulturelle Konflikt zwischen den häufig als ›Kosmopoliten‹ bezeichneten gebildeten und mobilen großstädtischen Schichten einerseits und den sogenannten ›Kommunitaristen‹, den im Einkommen und in der formalen Bildung eher schlechter gestellten und eher provinziellen Gruppen. Zu den Letztgenannten hat die Partei Die Linke ihre in Ostdeutschland zeitweise sehr enge Verbindung weitgehend verloren, gerade weil sie sich etabliert hat und in Ländern mitregiert, wohl auch durch Anpassung an linksalternative westdeutsche Milieus. Wie Grüne und SPD werden die Vertreter der Linken von den einfachen Menschen, die sich auch früher nicht unbedingt politisch korrekt ausgedrückt haben, heutzutage offenbar als belehrend-überheblich und Teil des Establishments wahrgenommen. Die SPD hat ein ähnliches Problem, und zwar noch weitaus gravierender, während die Klientel der Grünen seit jeher hauptsächlich aus dem Bereich der sogenannten Kosmopoliten stammt. Bei den Einbußen der relativ linken Parteien bei der letzten Bundestagswahl und in mehreren Landtagswahlen könnte es sich somit um einen längerfristigen Trend handeln.

SPD und Die Linke verloren in der Bundestagswahl 2017 zusammen etwa ebenso viele Wähler an die AfD wie die CDU/CSU (ein dritter, noch größerer Anteil kam aus dem Reservoir früherer Nichtwähler). Mit 1989 hat das insoweit zu tun, als die Brüche in der ostdeutschen Gesellschaft und die damit verbundenen Deklassierungsempfindungen eine größere Empfänglichkeit für blinde Rebellion gegen Eliten oder vermeintliche Eliten begünstigen. Ob die Terminologie Kosmopoliten / Kommunitaristen stimmig ist oder nicht: die soziokulturelle Fraktionierung in der Bevölkerung spiegelt sich innerhalb der relativ linken Parteien wider, hauptsächlich in der Linkspartei, wo die Meinungen zu den zeitweilig in den Vordergrund gerückten Themen Einwanderung und europäische Integration seit jeher geteilt sind. Das wurde besonders deutlich bei der innerparteilichen Kontroverse zwischen der Parteivorsitzenden Katja Kipping und der ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Sahra Wagenknecht während der letzten Jahre, wobei Frau Kipping als Repräsentantin der ›Kosmopoliten‹ angesehen werden darf und Frau Wagenknecht hauptsächlich die ›Kommunitaristen‹ im Bereich der traditionellen Arbeitnehmer einschließlich der Erwerbslosen als Zielgruppe im Blick hat. Die Fronten sind allerdings nicht mehr identisch mit denen der 90er Jahre, als Sahra Wagenknecht Sprecherin der Kommunistischen Plattform war.

Statt eines Fazits, das schwer zu ziehen wäre, erlaube ich mir folgende Anmerkung zum Schluss: Angesichts der weit verbreiteten Vorstellung, zur ›freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹ der Bundesrepublik würde neben Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch Privateigentum an den Produktionsmitteln und Marktwirtschaft gehören, ist festzustellen: Radikale Systemkritik begründet nicht unbedingt die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat; das Grundgesetz ist in der Frage der Wirtschaftsverfassung keineswegs auf den Vorrang privatwirtschaftlicher Eigentumsverhältnisse festgelegt, verbietet also das Eintreten für sozialistische Veränderungen ebenso wenig wie die Befürwortung plebiszitärer oder basisdemokratischer Demokratiemodelle, solange dies unter den Verfahrensregeln der Legalität und der Demokratie geschieht. Natürlich kann man der Meinung sein, dass alles das nicht funktionieren kann und überdies die Freiheit bedroht, so wie andere die Meinung vertreten dürfen, kapitalistische Marktwirtschaft und Demokratie passen nicht zusammen. 1949 hätte das Grundgesetz ohne diese gesellschaftspolitische Offenheit niemals die Zustimmung der SPD mit ihren damaligen weitgehenden Umbaukonzepten gefunden. Letztlich hat allein der Wähler zu entscheiden.

 

Vortrag am 29. Januar 2020 im Rahmen der Ringvorlesung »1989 – (K)eine Zäsur?« der Humboldt-Universität, der Stiftung Berliner Mauer und des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

 

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