Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Haus der Geschichte Bonnvon Herbert Ammon

1.

Realgeschichte, id est die komplexe historische Wirklichkeit, und Geschichtsschreibung sind von der Natur der Sache her nicht deckungsgleich. Erst recht klaffen die historische Realität und die geschichtspolitische Vermittlung – der von politischen Vorgaben und Wertigkeiten geprägte Umgang mit der Vergangenheit – oft weit auseinander. Augenscheinlich greifbar wird derlei Diskrepanz beim Passieren jener Gedenktafeln an diversen Autobahnen, etwa südwestlich von Berlin kurz hinter der Stadtgrenze, welche an die »Deutsche Teilung 1945-1990« erinnern sollen.

Die Aufschrift ignoriert das Faktum, dass die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli – 2. August 1945) von einer gemeinsamen Verwaltung des – aufgrund des in Aussicht gestellten Friedensvertrags in noch unbestimmten Grenzen reduzierten – Landes ausgingen. Ungeachtet der alsbald aufbrechenden Konflikte zwischen den Hauptsiegermächten USA und Sowjetunion setzte der Prozess der ost-westlichen Teilung der vier Besatzungszonen tatsächlich erst 1946/47 ein und führte sodann 1948/49 zur Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, mitsamt der in allen Verträgen festgehaltenen – eklatant im Vier-Mächte-Status des 1961 durch die Mauer geteilten Berlins hervortretenden – Vorbehaltsrechten ›Deutschland als Ganzes betreffend‹ der Alliierten.

Inwieweit derlei halb vergessene Fakten bezüglich der deutschen Nachkriegsgeschichte und deren Einbettung in den jahrzehntelangen Ost-West-Konflikt im Gedenkjahr 2015 einer weithin ahistorisch gestimmten Gesellschaft zu Bewusstsein gebracht werden, steht zu bezweifeln. Selbst die Dramatik der Ereigniskette, die vom Sommer 1989 von der Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze, über die Leipziger Montagsdemonstrationen zum Mauerfall und sodann über die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen zur Wiedergewinnung der deutschen staatlichen Einheit führten, ist nach 25 Jahren einer anderen, jüngeren Generation vermutlich kaum noch präsent.

Das ist höchst bedauerlich. Denn aus vielerlei Gründen – im Hinblick auf die Zukunft Europas, nicht allein auf die Ungewissheiten der durch die deutsche Wiedervereinigung forcierten europäischen Einigung, sowie vor dem aktuellen Hintergrund des neuerlichen, wesentlich geopolitisch begründeten Ost-West-Konfliktes um die Ukraine verdient die Geschichte der deutschen Teilung, des Weiteren die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts von 1914-1989, eine vorurteilslose Betrachtung. In einer weithin antagonistischen Wirklichkeit ist das Hauptaugenmerk auf die machtpolitischen Aspekte zu richten.

2.

Die Hoffnungen, die sich nach dem Mauerfall auf eine Ära des Friedens und der Kooperation im ›gemeinsamen Haus Europa‹ (Michail Gorbatschow) richteten, sind bereits in den Balkankriegen der 1990er Jahre zerstoben. Anders als von dem amerikanischen Politologen Francis Fukuyama 1989/90 prognostiziert, stellt sich anno 2015 die historisch-politische Wirklichkeit als geradezu chaotisch und unbeherrschbar dar. Politisch und militärisch ratlos steht die europäisch-atlantische Allianz unter Führung der USA vor der mörderisch-kriegerischen Wirrnis im arabisch-islamischen Raum. Wenngleich die Wurzeln des allerorts gewaltsam, nicht nur im Nahen Osten, hervorbrechenden islamischen Fundamentalismus (›Islamismus‹) in all seinen Varianten in der Konfrontation der islamischen Welt mit der Moderne, sprich mit dem als ›gottlos‹ wahrgenommenen Westen – in Gestalt der überlegenen kolonialistischen bzw. imperialistischen Mächte – zu suchen sind, vermochte er seine aggressive Wucht erst nach Ende des die Nachkriegsära bestimmenden Kalten Krieges zu entfalten. Darüber sollte nicht vergessen werden, dass als Hauptförderer der islami(sti)schen Expansion das vom Westen sowohl als Öllieferant wie als Ordnungsmacht hofierte Saudi-Arabien fungiert, während das schiitische Regime im Iran das wiedererstarkte Russland unter Putin zu seinen Verbündeten zählen kann.

Dass der Westen vor allem durch den Irak-Krieg 2003, durch den blutigen Sturz des Diktators Gaddafi in Libyen, sodann durch die nicht nur ›moralische‹ Unterstützung der diversen Anti-Assad-Kräfte in Syrien das derzeitige Chaos mit herbeigeführt hat, ist bei all dem nicht zu übersehen. Last but not least: ein äußerlich ›machtneutrales‹, politisch indes überaus bedeutsames Moment der Krisendynamik stellt das im gesamten, von politisch-religiösen Konflikten heimgesuchten Raum stattfindende Bevölkerungswachstum dar. Der Westen, genauer: Europa, gilt ungeachtet aller sonstigen Aversionen, den Flüchtlingsmassen als gelobtes Land. Ein Teil der Schlepperbanden, welche die Massenflucht gewinnbringend organisieren, steckt wiederum mit den Dschihadisten unter einer Decke.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die im nahöstlichen Krisenbogen angelagerten kulturell-religiösen und machtpolitischen Krisen – einschließlich des Israel-Palästina-Konflikts – teils durch den Ost-West-Konflikt überlagert, teils durch den arabischen Nationalismus überformt. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks verloren die jeweiligen diktatorischen Regime ihren potentiellen Partner im Mächtespiel und gerieten unter den doppelten Druck der islamistischen Kräfte sowie der vom Westen inspirierten, vermeintlich demokratischen Bewegungen. Die voraussehbaren Folgen des ›arabischen Frühlings‹ (s. H.A.: Die neue Werteordnung in Libyen (06.11.2011), http://www.globkult.de/herbert-ammon/687-die-neue-werteordnung-in-libyen-. Sowie H.A.: Zum Unfrieden in Nahost: unbequeme Faktenlage (22.04. 2033), http://www.globkult.de/herbert-ammon/866-zum-unfrieden-in-nahost-unbequeme-faktenlage) sind in den zu ›failed states‹ deklarierten Trümmerhaufen in Libyen und Syrien zu besichtigen.

Wie eine ›stabile‹ Ordnung, d.h. halbwegs friedliche Zustände im Nahen und Mittleren Osten zu gewinnen sei, weiß mutmaßlich keiner der ›decision makers‹ in Berlin, Paris, London oder Washington samt ihrer Krisenstäbe. Als Ausnahme sei hier – der Pointe halber – der einstige grüne Außenminister Joschka Fischer genannt. Dieser konstatierte unlängst in einem europaweit gestreuten Artikel, »in diesem neuen Nahen Osten« gäbe es nach dem – als dauerhaft angenommenen – weitgehenden Rückzug der USA, der Nachfolgemacht Englands und Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, »keinen externen stabilisierenden Hegemon mehr«. »An die Stelle eines externen Hegemons ist seit einiger Zeit ein machtpolitisches Vakuum getreten, das von verschiedenen regionalen, staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren versucht wird ausgefüllt zu werden, wobei die meisten nichtstaatlichen Akteure von der Unterstützung durch die eine oder andere regionale Vormacht abhängen.« Der Konflikt um die Vorherrschaft in Nahost werde nunmehr zwischen Iran und Saudi-Arabien ausgetragen.

Weiter: »Und wie immer spielen bei den zentralen machtpolitischen Konflikten in dieser Region auch weitere Faktoren – religiöse und ethnische – eine wesentliche Rolle. Die Spaltung des Islams in Sunniten und Schiiten findet ihre machtpolitische Entsprechung: Iran ist schiitisch, Saudi-Arabien sunnitisch, und hinzu kommt noch die ethnisch-kulturelle Differenz zwischen Iranern und Arabern. – Machtpolitische Interessen, Religion und ethnische Unterschiede bilden im neuen Nahen Osten also eine gefährliche Melange, die sich auch in den anderen akuten Konflikten in der Region wiederfindet. Zugleich lehrt die Erfahrung, dass sich diese Konflikte durch militärische Interventionen von außen weder lösen noch auch nur eindämmen lassen. (Sic! Noch vor wenigen Jahren trat Fischer als Interventionist hervor. H.A.) (J.F.: Der Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten – Iran und Saudi-Arabien April 6, 2015, http://www.project-syndicate.org/commentary/iran-saudi-arabia-regional-struggle-by-joschka-fischer-2015-04/german#Oe5daAsgo5uBl18Q.99.)

»Die regionalen Mächte werden die Konflikte im Nahen Osten also schließlich selbst aussortieren und lösen müssen, was sich allerdings leichter sagt, als es getan ist, denn hinter dieser schlichten Aussage verbirgt sich eine lange Phase nur sehr schwer kalkulierbarer Gewalt mit sehr hohen Risiken der Eskalation hin zu einem Weltkonflikt, und in der Konsequenz davon sowohl eine große humanitäre Katastrophe, wie sie bereits heute in Syrien stattfindet, als auch eine erhebliche wirtschafts- und sicherheitspolitische Gefahr, denn nach wie vor – und das wird noch längere Zeit so bleiben – wird ein wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft, der Ölpreis, faktisch auf der arabischen Halbinsel und durch die Anrainerstaaten des Persischen Golfes gemacht.« Usw. usw. Fischers conclusio: »Ohne Diplomatie und Verständigungsbereitschaft, wie sie sich in dem gerade mit dem Iran ausgehandelten Rahmenabkommen äußern, wird der neue Nahe Osten zum Pulverfass der Weltpolitik mit brennender Lunte werden.« Wie wahr. (Joschka Fischer: Der Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten – Iran und Saudi-Arabien April 6, 2015, http://www.project-syndicate.org/commentary/iran-saudi-arabia-regional-struggle-by-joschka-fischer-2015-04/german#Oe5daAsgo5uBl18Q.99.)

3.

Offenkundig ist die Welt im 21. Jahrhundert, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wieder aus den Fugen. Angesichts der von Krieg, Gewalt und Terror bestimmten Gegenwart mögen bei manchem Zeitgenossen nostalgische Gefühle bezüglich der 1989 zusammengestürzten Nachkriegsordnung, des anscheinend Stabilität und Sicherheit gewährleistenden ›bipolaren Systems‹ aufkommen. Die unschöne politische Wirklichkeit von damals wurde von einigen als Ausdruck einer höheren historischen Vernunft gedeutet, von anderen gar als Folge ›deutscher Schuld‹ moralisch ontologisiert. Gegen eben diese Sicht der Dinge, gegen die deutsche Teilung als unumstößliche Sicherheitskonstruktion in Europa, wandte ich mich – zusammen mit Freunden in West und Ost –, als in den 1980er Jahren im Gefolge des über nukleare Rüstungs- und Nachrüstungsstrategien wiederaufgelegten Ost-West-Konflikts nicht zufällig die ›deutsche Frage‹ wieder hochkam. Im Widerspruch zur etablierten, am Status quo orientierten Politik verwiesen wir auf die ungelöste ›deutsche Frage‹ als zentrale Friedens- und Zukunftsfrage in Europa.

Der Mauerfall ist anno 2015 in historische Ferne gerückt. Dessen ungeachtet scheint es im Blick auf die auf die in der Geschichte von Mal zu Mal unberechenbaren Faktoren gerechtfertigt, einen älteren Text vorzustellen, der nicht unveränderliche ›Ordnung‹ sondern ›Bewegung‹ zum Gegenstand hatte. Es handelt sich um eine leicht redigierte Besprechung des Buches von Wilfried Loth: Ost-West-Konflikt und deutsche Frage. Historische Ortsbestimmungen, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 1989.

Die Rezension unter dem Titel Vernünftigkeit des Wirklichen? Ost-West-Konflikt und deutsche Frage erschien eher zufällig in der FAZ (Nr. 192, S. 6) am 21. August 1989, 21 Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag. Einen Tag später, am 22. August 1989, beschloss die reformkommunistische Führung Ungarns unter Ministerpräsident Miklós Nemeth und Außenminister Gyula Horn die prinzipielle Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze, nachdem bereits in den Tagen zuvor eine größere Anzahl von DDR-Bürger über die nicht mehr militärisch gesicherte Grenze geflüchtet war. Die faktische Grenzöffnung löste die Massenflucht von DDR-Deutschen aus, die wiederum – parallel zu den Leipziger Montagsdemonstrationen – den Kollaps des DDR-Regimes und den Mauerfall nach sich zog. (Siehe http://www.budapest.diplo.de/Vertretung/budapest/de/07__25J/1-Chronik.html.)

Die Lebensverhältnisse in Deutschland und im östlichen Europas haben sich dank der Überwindung der deutschen Teilung trotz mancher Härten fraglos zum Besseren verändert. Dessen ungeachtet hat die staatliche Wiedervereinigung sowie die in den EU-Verträgen angestrebte ›Einbindung‹ der europäischen Mittelmacht – und Zentralmacht – die historisch-politische Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt in einer Weise verändert, die vielerlei Ungewissheiten – im europäischen politisch-ökonomischen Mächtegeflecht, nicht zuletzt im kulturell-sozialen Kontext der postnationalen Einwanderungsgesellschaft – mit sich bringt.

4.

Nachfolgend der aus historischer Distanz zu lesende Text. Er enthält im Blick auf den neuerlichen, von westlicher Seite allein Wladimir Putin zur Last gelegten Ost-West-Konflikt einige aktuelle Bezüge. Er macht vor allem deutlich, dass historische Analysen – erst recht Prognosen – stets unter dem ›revisionistischen‹ Vorbehalt der widerspruchsvollen, nicht immer kalkulierbaren Wirklichkeit stehen.

Vernünftigkeit des Wirklichen? Ost-West-Konflikt und deutsche Frage (1989)

Im spektakulären Umschwung von Breschnews nuklearer Hochrüstungspolitik zu Gorbatschows Abrüstungsoffensive ist der Ost-West-Konflikt in eine neue, grundsätzlich offene Phase eingetreten, akzentuiert von der Krise des östlichen, realsozialistischen Blocksystems. Konfrontation oder Kooperation – im einen wie im anderen Fall geht es um die deutsche Frage: Wer beherrscht das geopolitische und geostrategische Zentrum Europas, wem kommt das deutsch-deutsch separierte Potential zugute, wie reagieren die geteilten Deutschen auf ihre unfreiwillige Favoritenrolle? Mit ›neuem deutschen Größenwahn‹? So schrieb unlängst der Berliner Historiker Arnulf Baring. In ähnlichem Ton polemisiert der an der Universität Essen lehrende Wilfried Loth in der Einleitung zu einem Taschenbuch, in dem er zum Teil noch unveröffentlichte Aufsätze aus den letzten fünf Jahren vorlegt, gegen ›neokonservative Pragmatiker, unbelehrbare Nationalisten und unbedarfte Idealisten, gegen Konjunkturritter aller Schattierungen‹.

Danach geht es wissenschaftlich moderater weiter, auch wenn sogleich der nächstfolgende Aufsatz, erschienen im Nachhall der ›Nachrüstung‹-Debatte (1984) ›Träume vom Deutschen Reich‹ dezidiert zurückweist. Die geläufige These: Der deutsche Nationalstaat verletze die Ratio der europäischen Politik – das Gleichgewicht. Warnte nicht schon Wilhelm von Humboldt 1816 vor einem ›neuen collektiven‹ Staat, vor einem Deutschland, das ›als Deutschland auch ein erobernder Staat würde‹? Der Kampf um die europäische Hegemonie war demnach zwangsläufig, ›nicht wegen einer besonderen Aggressivität der Deutschen, sondern wegen der geopolitischen Lage ihres Landes‹. Schwacher Trost aus dem Munde des Historikers, der hier dezent von der Sonderwegthese abweicht, dennoch: Hegemonie oder Einordnung ins Gleichgewichtssystem durch Teilung, tertium non datur. Die elf Studien zeichnen sich durch gute Lesbarkeit, begrifflich fundierte Analyse und den weitgehenden Verzicht auf politologischen Jargon aus. Die Beiträge zur Genese der Blockbildung, zur Frage nach den Chancen einer ›dritten Kraft‹ in Europa – was in Deutschland auf einen ›dritten Weg‹ hinausgelaufen wäre –, zur Westintegration der Bundesrepublik (in dem Aufsatz Die Kinder des Koreakrieges), nicht zuletzt zur französischen Sicht der deutschen Dinge und der Geschäftsgrundlagen der (west-)deutsch-französischen Entente geben einen leichten Einstieg in die Nachkriegsgeschichte.

In seiner Perspektive folgt Loth den amerikanischen Postrevisionisten (zu nennen ist maßgeblich der Yale-Historiker John Lewis Gaddis), nach deren Auffassung die Blockbildung im beginnenden kalten Krieg auf eine Serie von wechselseitigen Fehleinschätzungen der beiden Hauptsiegermächte zurückzuführensei. Den zugrundeliegenden Ost-West-Konflikt definiert er als Summe der Gegensätze zwischen dem Pluralismus der ›westlichen‹ Zivilisation und ›asiatischen‹ zwangsstaatlichen Herrschaftsformen im Zeitalter der Industrialisierung. Nach dem Scheitern des NS-Imperiums resultierte daraus das bipolare System. Diesem billigt Loth einerseits eine globale Ordnungs- und Kontrollfunktion zu, andererseits übersieht er nicht die ihm innewohnenden Destabilisierungs- und Eskalationsrisiken sowie die technologische Eigendynamik der nuklearen Hochrüstung.

Im Gegensatz zu traditionellen Apologeten der westdeutschen Westintegration sieht Loth gerade im Zuge der Blockbildung, der ›doppelten Eindämmung‹ seitens der Hauptsiegermächte – mit den Vereinigten Staaten als offensiverem Konfliktpartner – wiederholte Chancen für die Bewahrung der Einheit Deutschlands. Zum Thema der 1948 endgültig fixierten Weststaatsgründung wartet er mit unorthodoxen Details auf: Im August 1948 war Präsident Truman fast dazu bereit, dem Neutralisierungskonzept des Planungsstabes um George F. Kennan zu folgen, ›genau zu dem, was Stalin mit der (Berliner) Blockade in erster Linie bezweckt hatte‹. Danach stand für die Entscheidungsträger der westlichen Siegermächte die Zwei-Staaten-Lösung als ›langfristig einzig akzeptable Lösung der offenen deutschen Frage‹ fest. Neue Chancen eröffneten sich mit den Stalin-Noten 1952, deren Ernsthaftigkeit für Loth außer Frage steht.

Die sowjetische Offerte von 1955 sowie die auch von westlicher Seite wiederholt vorgelegten Disengagement-Pläne tauchen in Loths Argumentation danach nicht mehr auf, ebensowenig der SPD-Deutschlandplan von 1959. Das Scheitern des ›Neutralisierungsprojekts‹ betrachtet der Autor ohne große patriotische Wehmut. Bezüglich der Rolle Adenauers, dessen Konzept – Wiedervereinigung durch Westintegration – er jenseits aller Rhetorik als subjektiv ernst gemeint, wenngleich realitätsfern einstuft, legt er sich im Urteil nicht fest. Und über einen möglichen gesamtdeutschen Weg schreibt er: »Es kann im nachhinein nur gerätselt werden, ob am Ende eines gesamtdeutschen Weges eher partizipatorische oder eher etatistische Züge vorgeherrscht hätten und wieweit ein solches Deutschland seiner gesamteuropäischen Vermittlungsmission gerecht geworden wäre.« Also doch ein verstohlenes Liebäugeln mit der gleichsam gemäßigten Variante des ominösen ›deutschen Sonderwegs‹? Kaum. Die Klage Loths gilt mehr den ›verpassten Chancen‹ der Entspannung nach der 1955 abgeschlossenen Blockbildung sowie dem Umstand, dass aufgrund ›wiederholter Verdrängung‹ – der totalen Niederlage von 1945 sowie der Ablehnung des sowjetischen Neutralisierungsangebots 1952 – die Bundesrepublik ›bis heute kein historisch begründetes Selbstbewusstsein‹ besitze.

Zur Perspektive der Bipolarität gesellt sich so die heute vorherrschende Interpretation der sozialliberalen Ostpolitik. Dass es den Architekten der Ostpolitik ursprünglich um mehr ging als um die Bereinigung des ›deutschen Sonderkonflikts mit dem Osten‹, wird auch in Loths Darstellung erkennbar. Auf die befürchtete Dynamik der ›neuen Ostpolitik‹ kam entsprechend prompt die Reaktion des französischen Nachbarn. 1969 reaktivierte der französische Staatspräsident Georges Pompidou die Pläne zur Vollendung des Gemeinsamen Marktes und favorisierte nunmehr den Beitritts Großbritanniens zur EWG.

Loth schreibt als Verfechter jener noch unlängst unter ›gaullistischen‹ Sozialdemokraten populären Entspannungskonzeption, die unter dem Schlagwort der ›Selbstbehauptung Europas‹ den ›Europäern‹ in West und Ost eine interessen-identische progressive Rolle unterstellt, was tendenziell im Widerspruch zur bipolaren Blockstruktur steht. Sind im Zuge der EG-Integration hier, im Zeichen von Perestrojka dort tatsächlich alle Widersprüche in der allseitig verfügbaren Metapher vom ›gemeinsamen Haus Europa‹ aufgehoben? Oder droht das Gleichgewicht nicht stets in die Schieflage zu rutschen? Und was die deutsche Frage angeht: Zwar will Loth den Status quo ›nicht als sakrosankt‹ ansehen, doch plädiert er dafür, auch dessen ›positive Aspekte‹ zu sehen, ›das heißt: nicht nur die Teilung zu beklagen, sondern in dieser Teilung auch eine historisch gewordene, mit vielen Opfern und Irrwegen bezahlte Lösung für das Problem der staatlichen Existenz der Deutschen in Europa zu sehen‹. Hier beschwört der Verfasser ebenjene ›Vernünftigkeit des Wirklichen‹ – jene Kunst, die er eingangs einer ›breiten Schar von neokonservativ getönten Pragmatikern‹ vorhält. Für die Qualität der These spricht keineswegs, dass sie mittlerweile in nämlichen Worten auch von dem Grünen-›Realo‹ Joschka Fischer (unter anderem vor Berliner Publikum) zu Markte getragen wird.

Bildquelle: wikimedia commons

Kolumnen

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