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Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

war wieder einmal zu spüren, dass die Medien-& Meinungsmacher über nichts so empört-beleidigt sind wie über jenes ›Lemma‹, mit dem manche Leser ihre jeweiligen Tagesleistungen qualifizieren.

Warum eigentlich? Kaum einer der Betroffenen reklamiert gegenüber jenem Vorwurf sein Gegenteil – die Wahrheit. Zu Recht natürlich, denn letztere im Rhizomatischen der Ereignisse jedesmal rekonstruieren zu wollen, würde den dem Augenblick verpflichteten journalistischen Auftrag überfordern. Eine die Vielfalt, Sachhaftigkeit und das Provisorische jedes Eindrucks widerspiegelnde Medienarbeit würde natürlich auch gar nicht jenen Vorwurf evozieren. Der meint eine ganz bestimmte Verfahrenstechnik im Herbeischaffen von Informationen, Nachrichten und Beurteilungen. – Was wir, Leser & Hörer, heute als ›Lügenpresse‹ wahrnehmen könnten, ist nun aber gar nichts Neues, nichts, was etwa nur den neuen politischen Lebensformen heute eigen wäre. Darüber, wie täuschungsverbunden Journale & Gazetten ihrer ›Informationspflicht‹ nachkommen, klagten bereits aufklärerische Leser wie Jonathan Swift, fin-de-siècle-Ästheten wie Oscar Wilde, oder Wiener Moderne wie Karl Kraus. Der musste schon 1917 wahrnehmen, daß die Lüge mit ihren kurzen Beinen jetzt gezwungen ist, rund um die Welt zu laufen, und daß sie’s aushält, ist das Überraschende an dem Zustand. – Wenn ein Blatt heute mit dem Diktum wirbt, Sie lügen wie gedruckt, wir drucken wie sie lügen, dann ist das der klassische performative Selbstwiderspruch: ›Wir verraten das Redaktionsgeheimnis Aller, händeln die Lüge, gehören aber nicht dazu…‹ Dabei ist es gerade dieser aufklärerische Gestus (das überlegene Gewissen), der Informationsware als Lüge indiziert. Wie funktioniert das? Es sind die (felsenfesten) Überzeugungen, die dann zu Täuschungen werden, wenn das Mitzuteilende (die Nachricht) nicht in seiner Eigenform und Eigenart belassen wird, sondern gemessen und bewertet wird am Abstand, den die (potentielle) Nachricht zur eigenen (felsenfesten) Überzeugung aufweist. Indem dann dieser Abstand zur Mitteilung kommt (und nicht der ›rohe‹ Sachverhalt!), wird diese Mitteilung zur Lüge… Die (felsenfesten) Überzeugungen in Redaktionen, bei Moderatoren oder Reportern etc. sind natürlich gar nicht so fest, sondern mainstream-geformt, d.h. sie umfassen die jeweils kurrenten Werte über das Eigene, das Zusammenleben, über die Politik, die Natur, die Anderen. Medienarbeit gilt dann als gelungen, wenn möglichst Vielen – und unisono – der Abstand dieser Werte und der Wirklichkeit als denkbar gering vermittelt wird. Das nannte man früher ideologische Arbeit, es war die Praxis, wirkliche Differenzen und Schwierigkeiten aus der Gesprächs- und Dialogwirklichkeit auszusondern.

Die ›Lügenpresse‹ lügt in der Regel nicht aus einem zynischen Kalkül (etwa Menschenverachtung), sondern sie ist menschenverachtend durch ihre (gutgemeinte!) Vormundschaft, durch ihre Tribunalisierung der falschen, d.h. abweichenden Meinungsäußerung, durch ihre Polarisierung des WIR (die Guten) gegen EUCH (die Ewiggestrigen). Das In-sich-Geschlossene einer Publizistik, die nicht nur mit Falschem und Halbwahrem, sondern auch mit der Wahrheit zu lügen in der Lage ist, hat der deutsche Philosoph Max Scheler – zwischen den Kriegen – mit dem eindrücklichen Begriff organische Verlogenheit umrissen; wer organisch verlogen ist, braucht nicht erst zu lügen.

Steffen Dietzsch

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