von Markus C. Kerber

Wenigstens einige Medien erinnerten am 13.10.2020 an den Geburtstag des ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD: Kurt Schumacher, geboren am 13. 10. 1985 in Kulm an der Weichsel. Während die SPD-Spitze Schumacher im Zusammenhang mit der Wennigser Konferenz zur offiziellen Neubegründung der SPD nach dem 2. Weltkrieg 1946 mehr versteckt als stolz erwähnt, ist der Erinnerungsverlust in den deutschen Medien noch nicht so weit fortgeschritten, seinen Geburtstag mit Schweigen zu übergehen. Erinnert wird zu Recht an den Lebensweg Schumachers als Sohn einer wohlhabenden westpreußischen Kaufmannsfamilie, der nach schwerer Kriegsverwundung im ersten Weltkrieg sich nicht dem Freikorps, sondern der Sozialdemokratie anschließt und fortan die erste deutsche Republik mit unbändiger Leidenschaft verteidigt. Seine flammenden Appelle im Reichstag angesichts der übermächtig werdenden Nationalsozialisten sind Legende. Dies gilt auch für seinen berühmten Satz vom Nationalsozialismus als Appell an den inneren Schweinehund im Menschen.

Obschon sein Widerstand im Dritten Reich ihm eine besondere Legitimität verleiht, wird Kurt Schumacher nicht der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Trotz unangefochtener Autorität innerhalb seiner eigenen Partei versagen ihm die Deutschen den Auftrag zur Regierungsbildung. Sein Kontrahent, Konrad Adenauer, mit dem er sich persönlich nicht schlecht versteht, auch wenn er sich ihm intellektuell überlegen fühlt, lag strategisch richtig. Er setzte auf Westallianz und Ausbau der Bundesrepublik sowie die Versöhnung mit Frankreich. Schumacher, preußisch geprägt, legte sehr viel mehr Wert auf Deutschland als Gesamtstaat und sah keine Priorität in der europäischen Integration. An dieser Stelle lag er genauso falsch wie mit seiner Prognose eines möglichen Wegs zum ›demokratischen Sozialismus‹. Seine Biografen – darunter Peter Merseburger – belegen, dass Schumacher sich nie aus den Freund/Feind Kategorien der Weimarer Republik und noch weniger aus der Rhetorik dieser ersten deutschen Demokratie verabschieden konnte. Vielleicht hängt es auch mit seiner mehr als zehnjährigen Konzentrationslagerhaft zusammen, dass er den Wandel der Welt in dieser Zeit nicht vollständig mitbekommen hat.

Wer große Stärken hat, hat meist auch große Schwächen. Kurt Schumacher hatte beides. Aber ihm war trotz Problemen der nachwachsenden Generation, so auch Willy Brandts, mit seinem autoritären Stil, der Respekt der Sozialdemokraten stets gewiss.

Dass die heutige SPD eher verlegen an Kurt Schumacher erinnert, belegt, wie wenig sie seine antitotalitäre Geisteshaltung, die sich sowohl gegen Rechts als auch gegen Links wandte, historisch einzuordnen vermag. Die Kurt Schumacher-Gesellschaft, gegründet von Annemarie Renger, seiner zeitweisen Lebensgefährtin, zusammen mit überwiegend konservativen Sozialdemokraten führt im Parteileben der Sozialdemokratie mittlerweile ein Schattendasein. Bereits 1990 erinnerten sich nur noch wenige Sozialdemokraten an die herausragenden Verdienste Schumachers: nicht nur seinen bedingungslosen Kampf gegen den Nationalsozialismus, sondern auch seinen Streit mit Adenauer. Er mag zwar mit der Formulierung, Adenauer sei ein Kanzler der Alliierten, formal falsch gelegen haben, aber Schumachers überzogene Kritik an Adenauer gab diesem die Gelegenheit, gegenüber den Alliierten für ein Mehr an deutscher Souveränität zu streiten. So waren Schumacher und Adenauer retroaktiv betrachtet ein gar nicht so erfolgloses Tandem, das – obschon politisch verfeindet – in einer Ausnahmesituation objektiv Positives für die deutsche Souveränität bewirkt hat.

Dass die gegenwärtige Sozialdemokratie mit Figuren wie Martin Schulz, Hubertus Heil, Kevin Kühnert, Norbert Walter-Borjans – von Saskia Eskens wollen wir besser schweigen – nur pflichtgemäß an Schumacher erinnert, hängt wohl damit zusammen, dass angesichts eines solchen Titanen das gegenwärtige Führungspersonal der SPD, einer Partei auf dem Wege ins 10-Prozent-Ghetto – wie eine Gruppe grauer Mäuse wirkt.

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er

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  • von Don Albino

    Wer schreibt, hat Gegner. Das ist ganz normal. Weniger normal, doch gar nicht selten ist Feindschaft, vor allem dann, wenn sie ins zweite und dritte Jahrzehnt geht: Dann wird sie mehr als lästig, bei manchen sogar gesundheitsbedrohend, vor allem dann, wenn sie sich auf flächendeckende Ignoranz stützen kann. Beschimpft statt gelesen – das trifft häufiger die guten als die miserablen Schriftsteller, weil … nun ja, weil es deutlich einfacher und überdies schneller geht. Es benötigt auch

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Politik / Gesellschaft

  • von Severus Magnos

    Atze ist auch so einer. Kennen Sie Atze? Nein? Dann haben Sie was verpasst! Der Typ ist ein echtes Vorbild – seit Jahren alimentierter Künstler, eigentlich Bürgergeldempfänger, weil seine »kreativen Jahre« schon lange im Museum der Vergangenheit verstauben. Sein einziger Kumpel ist ein kleiner Hund, der ihn komplett an der Leine hat. Wenn Matze vor ihm steht und mit rehbraunen Kulleraugen um Futter bettelt, dann kann er einfach nicht »Nein!« sagen. Gleich denkt er daran, wie

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  • von Jobst Landgrebe

    Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Markt für Mobiltelefonie stetig gewachsen, nach einiger Zeit gab es keine Telefonzellen mehr, und seit zehn Jahren verzichten immer mehr Privatpersonen auf einen Festnetzanschluss, da die meisten ein Mobiltelefon haben – ohne Mobiltelefon ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben deutlich schwieriger. Videoübertragung hat einen sehr hohen Bedarf an Datenübertragung geschaffen, der schließlich zur Einführung des 5G Mobilfunkstandards

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Souverän für Amerika

  • von Vade Retro

    Die Welt ist ein Dschungel, sprach das Eichhörnchen und verschwand im Wipfel des Baumes, wo bereits Shir Khan, der Herrscher der Wildnis, auf es wartete und es verdrückte.

    Verdrück dich selbst, entfuhr es dem Straßenarbeiter, der die Szene beobachtet hatte, und er warf die Maschine an, die er beherrschte. Sie war groß und stark und kein Dschungel war ihr gewachsen. 

    Amerika ist groß, seufzte der Dschungel, wer mich für die Welt hält, der muss eine beschränkte Weltsicht sein eigen

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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  • von Vade Retro

    Arnold Schelsky: The Hype Cycle. Uppers and Downers in Our Bipolar Culture, Chicago (Carus Books) 2025, 320 Seiten.

    Was ist ein Hype? Wie bei Allerweltswörtern üblich, reicht die Bedeutung weit über das ursprüngliche Feld – in diesem Fall das der Werbung – hinaus. Sie reicht von gruppenbezogener ›künstlicher Aufregung‹ bis zu mittleren und schwereren Fällen von künstlich ausgelöster ›Massenpsychose‹, ›Massenhysterie‹ und dergleichen. Es handelt sich also um Emanationen der

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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