von Markus C. Kerber

Was seit langem in Berlin gärt, wird nun etablierte Wut. In keinem öffentlich-rechtlichen Medium kommen unrepräsentative Gestalten der deutschen Gesellschaft so ungeniert zu Wort wie im Deutschlandfunk. Damit sind nicht etwa die Parteipolitiker gemeint, die außer sich selbst niemanden wirklich repräsentieren oder gar repräsentieren wollen, sondern jene Vertreter der Berliner Nischengesellschaft, die meinen, sie seien die Gesellschaft oder zumindest das Establishment Berlins. Ihnen ist auch gemeinsam, dass sie für ihre unterschiedlichen Veranstaltungen den Anspruch vor sich her tragen, ihr Event-Aktivismus allein konstituiere bereits Kunst und Kultur.

So ist es nicht verwunderlich, dass der Deutschlandfunk am Tag der Großdemo am 29. 8. 2020 den unterschiedlichen Betreibern von Clubs und Szene-Tanzgruppen in seinem Wochenendjournal die Möglichkeit gab, ihr durch die Corona Krise arg gebeuteltes Businessmodell der deutschen Öffentlichkeit sowie deren Wut über die Betriebsunterbrechung nahezubringen. Sie hätten, so der Betreiber einer Brache in der Nähe von Charlottenburg und der Veranstalter der Happenings auf der Hasenheide sowie im Volkspark Rehberge, mit dem Gesundheitsamt alles genau abgestimmt, um ihre Veranstaltungen Corona-kompatibel durchzuführen. Nun könne wieder – wenn auch mit gebührendem Abstand – getanzt werden. Den Ravern würde in der europäischen Clubmetropole endlich wieder ein breites kollektives Tanzangebot unterbreitet. Über die Angebote des Senats für Freiflächen habe man sich sehr gefreut. Man finde das ›krass gut‹. Aber schließlich wisse der Senat, dass Berlin vom Zustrom auswärtiger Besucher, die sich vor allem für die Kreativszene und das kollektive Tanzvergnügen interessieren, finanziell abhängig sei.

Auch der Gründer der Loveparade, Matthias Roeingh, bekannt in der Öffentlichkeit unter dem Namen Dr. Motte, kommt üppig zu Wort. Er könne überhaupt nicht verstehen, warum der Senat die gesundheitsbehördlichen Beschränkungen so streng durchführe. Es gäbe in Berlin eine Tanzbewegung. Diese sei von ihm in Gestalt der Loveparade gegründet worden und habe zu einem großen Zustrom ausländischer Besucher geführt. Er bedaure die gegenwärtige Stille im Veranstaltungsgeschäft außerordentlich. Leider könne er zur Zeit seine Musik nur streamen. Dies sei nicht vergleichbar mit dem authentischen Musik- und Tanzerlebnis, das er mit der Loveparade habe anschieben wollen. Er biete den Menschen ›Euphorie durch Bässe‹ und wolle zu einem kollektiven Glücksgefühl beitragen.

Roeingh alias Dr. Motte, der mit der Vermarktung des Namens Loveparade seit der ersten Veranstaltung 1989 nicht wenig Geld verdient hat, lässt nicht mit sich spaßen, wenn es darum geht, zu bestreiten, dass seine Loveparade oder andere Tanzveranstaltungen in Berlin eventuell doch keine Kunst, sondern eine kommerzielle Angelegenheit seien. Dass er Kunst produziere und dass seine als Tanzbewegung getarnten Demonstrationen authentische Veranstaltungen kollektiven Glücks seien, darüber wolle er gar nicht diskutieren. Im Übrigen droht Roeingh alias Dr. Motte mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines Ausbleibens des auswärtigen Besucherstroms in die Berliner Clubs und die unterschiedlichen Raver-Veranstaltungen. Allein die Loveparade habe nach seinen Angaben 1,4 Milliarden Euro Umsatz in die deutsche Hauptstadt gespült. Seine Branche sei damit zweifelsfrei systemrelevant. Die Politik möge dies bedenken und im Licht dieser Erkenntnis ihre Subventionspolitik ausrichten.

Die Kapitulation staatlicher Autorität vor den von Dr. Motte repräsentierten kommerziellen Interessen, die geschickt kulturpolitisch getarnt und verfassungsrechtlich auf die Versammlungsfreiheit gestützt werden, sagt sehr viel über jenen Kulturkampf in Deutschland aus, bei dem Berlin zur Frontstadt geworden ist. Es bleibt abzuwarten, ob die deutsche Demokratie bereit ist, der Mehrheit der Bürger im Lande zu erklären, warum sie die Club- und Raver-Szene in Berlin für systemrelevant und daher förderungswürdig ansieht.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, bekannt für seine Lockerheit, und zu Recht von Merkel ›der Andi‹ genannt, macht als CSU-Politiker schon einen Kotau vor der neuen ›Kultur‹. Sein Ministerium fördert mit 250 Millionen Euro die Entwicklung von Videospielen in Deutschland. Diese mutige Maßnahme ist ein untrügliches Symptom für die Hitze des Kulturkampfes.

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Keine Kulturmacht liegt dem Menschen näher als das Vergessen... so nahe, dass er sie bei seinen Berechnungen regelmäßig vergisst. So vertraut ist ihm die dauernde Bedrohung aus den Tiefen des eigenen Unvermögens, Eindrücke, Dinge, Assoziationen und Gedankenflüsse dauerhaft und verlässlich festzuhalten, dass er nicht anders zu denken vermag, als sei Kultur die unwandelbare Verfügung über alles, was je überliefert wurde. Im kulturellen Gedächtnis, so denkt er

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  • von Don Albino

    Wer schreibt, hat Gegner. Das ist ganz normal. Weniger normal, doch gar nicht selten ist Feindschaft, vor allem dann, wenn sie ins zweite und dritte Jahrzehnt geht: Dann wird sie mehr als lästig, bei manchen sogar gesundheitsbedrohend, vor allem dann, wenn sie sich auf flächendeckende Ignoranz stützen kann. Beschimpft statt gelesen – das trifft häufiger die guten als die miserablen Schriftsteller, weil … nun ja, weil es deutlich einfacher und überdies schneller geht. Es benötigt auch

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Politik / Gesellschaft

  • von Severus Magnos

    Atze ist auch so einer. Kennen Sie Atze? Nein? Dann haben Sie was verpasst! Der Typ ist ein echtes Vorbild – seit Jahren alimentierter Künstler, eigentlich Bürgergeldempfänger, weil seine »kreativen Jahre« schon lange im Museum der Vergangenheit verstauben. Sein einziger Kumpel ist ein kleiner Hund, der ihn komplett an der Leine hat. Wenn Matze vor ihm steht und mit rehbraunen Kulleraugen um Futter bettelt, dann kann er einfach nicht »Nein!« sagen. Gleich denkt er daran, wie

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  • von Jobst Landgrebe

    Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Markt für Mobiltelefonie stetig gewachsen, nach einiger Zeit gab es keine Telefonzellen mehr, und seit zehn Jahren verzichten immer mehr Privatpersonen auf einen Festnetzanschluss, da die meisten ein Mobiltelefon haben – ohne Mobiltelefon ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben deutlich schwieriger. Videoübertragung hat einen sehr hohen Bedarf an Datenübertragung geschaffen, der schließlich zur Einführung des 5G Mobilfunkstandards

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Souverän für Amerika

  • von Vade Retro

    Die Welt ist ein Dschungel, sprach das Eichhörnchen und verschwand im Wipfel des Baumes, wo bereits Shir Khan, der Herrscher der Wildnis, auf es wartete und es verdrückte.

    Verdrück dich selbst, entfuhr es dem Straßenarbeiter, der die Szene beobachtet hatte, und er warf die Maschine an, die er beherrschte. Sie war groß und stark und kein Dschungel war ihr gewachsen. 

    Amerika ist groß, seufzte der Dschungel, wer mich für die Welt hält, der muss eine beschränkte Weltsicht sein eigen

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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  • von Vade Retro

    Arnold Schelsky: The Hype Cycle. Uppers and Downers in Our Bipolar Culture, Chicago (Carus Books) 2025, 320 Seiten.

    Was ist ein Hype? Wie bei Allerweltswörtern üblich, reicht die Bedeutung weit über das ursprüngliche Feld – in diesem Fall das der Werbung – hinaus. Sie reicht von gruppenbezogener ›künstlicher Aufregung‹ bis zu mittleren und schwereren Fällen von künstlich ausgelöster ›Massenpsychose‹, ›Massenhysterie‹ und dergleichen. Es handelt sich also um Emanationen der

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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