von Siegfried Heimann

Als anlässlich des 80. Jahrestages der Oktoberrevolution Bilder von einer großen Demonstration in Moskau in der Presse zu sehen waren, gab es ein Bild, das für mich bemerkenswert ehrlich - wenn auch von den Demonstranten wohl so nicht gemeint - an die Oktoberrevolution erinnerte. Es war ein Bild, auf dem Stalin und Lenin zusammen zu sehen waren.

 

Und in der Tat: Wer Stalin sagt, muss auch Lenin sagen, wer von stalinistischen Verbrechen spricht, muss auch von der Oktoberrevolution reden.
Freilich: auch hier steckt der Teufel im Detail und nicht alle teuflischen Details können benannt werden, um den Zusammenhang von Oktoberrevolution und Stalinismus zu verdeutlichen ohne bei der pauschalen Reihung stehen zu bleiben. Ich meine aber, dass ein Blick auf die Urteile der deutschen Arbeiterbewegung über die Oktoberrevolution helfen kann, diesen Zusammenhang zu erklären.

Die Urteile deutscher Sozialdemokraten über die Oktoberrevolution waren natürlich mitbestimmt von der Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber Russland und der russischen  Arbeiterbewegung schon lange vor der Jahrhundertwende. Deutsche Sozialdemokraten - von Bebel bis Bernstein - sahen in Russland vor allem den despotischen Zarismus. Sie betrachteten die russische Arbeiterbewegung mit Wohlwollen und die verfolgten russischen Sozialdemokraten erfuhren solidarische Unterstützung nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten. Gelder, Zeitungen und Bücher wurden nach Russland geschmuggelt, nicht zuletzt wurde 1902 Lenins Schrift "Was tun" im Dietz-Verlag auf russisch gedruckt und nach Russland gebracht. Aber letztlich war das alles weit weg. Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie 1903 wurde in Deutschland erst spät registriert und bald auch von den, Bewunderung auslösenden, Nachrichten über die russische Revolution im Jahre 1905 überlagert.

Rosa Luxemburgs Kritik am Bolschewismus

Die erste, die genauer und kritischer über die russischen Verhältnisse  und besonders über die Parteientwicklung in Russland informierte, war Rosa Luxemburg. Ihr berühmter Artikel "Über Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie" aus der Iskra war im Sommer 1903 von Kautsky in der "Neuen Zeit" nachgedruckt worden (und übrigens nicht von ungefähr erst 1963 von dem gerade aus der SPD ausgetretenen Professor Ossip Flechtheim wieder herausgegeben worden).  Sie sah in der von Lenin geschaffenen Organisation "eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung  von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen", die aus der besonderen russischen Situation erklärlich, aber keineswegs ein Vorbild für eine revolutionäre Arbeiterpartei sein könne. Diese - wie Peter Lösche dazu schrieb - "schärfste, weitsichtigste und fundierteste Kritik am Bolschewismus ... bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution" blieb allerdings in der deutschen Sozialdemokratie ohne großen Einfluss. Auch Kautsky, der nur anfänglich im Konflikt mit Lenin vermitteln wollte, ließ sich im Urteil über die Bolschewiki eher von der Kritik der Menschewiki leiten, die den Bolschewiki Anarchismus vorwarfen. Ein Vorwurf, der dann 1918 von Sozialdemokraten noch weniger begründet wiederholt werden sollte.
Die Nachrichten über die Revolution 1905 in Russland aber ließen allen Streit in der russischen Arbeiterbewegung als "Emigrantengezänk" erscheinen. Sympathiekundgebungen fanden statt und über eine halbe Million Mark wurde gesammelt. Führende Sozialdemokraten waren sich zwar nicht einig, wie der Charakter der russischen Revolution einzuschätzen sei, aber die Verteilung der gesammelten Gelder dokumentiert, dass man sich letztlich aus dem Streit doch heraushalten wollte: die Bolschewiki erhielten wie die Menschewiki 22,5%, der jüdische Bund und die polnisch-litauischen und die lettischen  Sozialdemokraten den Rest. Lediglich in den "Sozialistischen Monatsheften" und im "Correspondenzblatt" der Gewerkschaften fiel die Distanzierung von den revolutionären Ereignissen in Russland schon 1905 eindeutig aus.
Im Frühjahr 1917 war aber auch diese Distanz zunächst vergessen. Die Nachricht von der russischen Februarrevolution war diesmal auch in Deutschland sofort zur Kenntnis genommen worden und alle der inzwischen zahlreicher gewordenen Fraktionen der deutschen Arbeiterbewegung knüpften daran die unterschiedlichsten positiven  Erwartungen. Der Parteiausschuss der Mehrheitssozialdemokratie begrüßte im Mai 1917 mit "leidenschaftlicher Anteilnahme den Sieg der russischen Revolution  und das durch ihn entfachte Wiederaufleben der internationalen Friedensbestrebungen".
Eine Partei in der russischen Revolution - die Partei der Bolschewiki - trat besonders für den Frieden ein. Nach der Veröffentlichung der Leninschen Aprilthesen, in denen "die sofortige Beendigung des Krieges" gefordert worden war, wurde die  Partei der Bolschewiki für die MSPD wie für die USPD  zur eigentlichen "Friedenspartei", die durch ihr Eintreten - damals noch - für die verfassungsgebende Nationalversammlung sogar als Garant eines demokratischen Parlamentarismus in Russland galt.

Revolution und Friedensschluss

Die wohlwollende Beurteilung der Politik der Bolschewiki durch die deutschen Sozialdemokraten aller Schattierungen änderte sich auch nach dem 7. November 1917 zunächst nicht. Die mehrheitssozialdemokratische und die unabhängige Presse berichtete über die Machtübernahme der Bolschewiki vor allem unter dem Aspekt des nun möglich scheinenden Friedens im Osten. Die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung in Petersburg im Februar 1918 irritierte zwar einige Kommentatoren, die immer wieder aufgenommenen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk aber schienen wichtiger zu sein. "Frieden ohne Annexionen" war auch für die Mehrheit der Sozialdemokaten die Parole und der den Bolschewiki schließlich aufgeherrschte Gewaltfrieden wurde deshalb auch - mit Ausnahme einiger weniger Stimmen - einhellig verurteilt.
Vorbehalte kamen dagegen aus den Reihen des Spartakusbundes. Karl Liebknecht - im Gefängnis sitzend -  fürchtete im Dezember 1917, dass aus den Bolschewiki "russische Friedensopportunisten und Demagogen" geworden seien. Er sah ja wie auch andere Spartakusmitglieder in der Oktoberrevolution vor allem die erstmals gelungene politische Machtergreifung einer sozialistischen Partei und er erhoffte sich davon das Signal für weitere Revolutionen in Mitteleuropa (sprich: Deutschland) und in Westeuropa. In den Friedensverhandlungen sah er daher eine Gefahr für ein revolutionäres Europa, das ja erst die Garantie auch für den Erfolg der Oktoberrevolution auch in Russland sein könne.
Die Haltung der deutschen Anarchisten zur Oktoberevolution war auch nicht eindeutig: Sie kritisierten - wie etwa Rudolf Rocker - die "autoritären" Organisationsstrukturen der bolschewistischen Partei, verdammten aber deswegen die Bolschewiki nicht in Bausch und Bogen, denn schließlich seien diese ja eine Partei, die die Revolution nicht nur predige, sondern gemacht habe. Erst als die Bolschewiki die Räte der Diktatur der Partei unterwarfen - wie die deutschen Syndikalisten formulierten -  kam es zu einer eindeutigen Kritik. In den Worten Rockers: "Sowjetismus, nicht Bolschewismus; Freiheit, nicht Diktatur; Sozialismus, nicht Staatskapitalismus".
Die Anarchisten in der ersten Münchner Räterepublik waren gegenüber der Oktoberrevolution viel schwärmerischer. Erich Mühsam widmete Lenin noch 1921 seine im Gefängnis geschriebene Darstellung der Räterepublik. Erst später kritisierte auch er die "Diktatur der bolschewistischen Partei", die die "Rätemacht" zunichte gemacht habe.
Angesichts dieser schon früh laut geäußerten Differenzen war natürlich der von einem Teil der Mehrheitssozialdemokraten geäußerte Vorwurf, die Bolschewiki seien eigentlich Anarchisten, umso absurder. Der Vorwurf war - wie Peter Lösche es formulierte - Ausdruck der "Bolschewismusfurcht" der Mehrheitssozialdemokratie, die mit ihrem Zerrbild vom Anarchismus die Bolschewiki gleich mit treffen wollten.

Kautsky zur Differenz zwischen demokratischen Sozialisten und revolutionären Kommunisten

Der erste Sozialdemokrat, der seit Januar 1918 entschieden Kritik an der seit November 1917 erkennbaren Politik der Bolschewiki übte, war ein Unabhängiger Sozialdemokrat. Es war Karl Kautsky. In mehreren kleinen Broschüren formulierte er seine Einwände gegen die in Russland praktizierte Diktatur. Nach dem Auseinanderjagen der Konstituante im Januar 1918  nannte er es in seiner Schrift "Die Diktatur des Proletariats" eine "kurzsichtige Augenblickspolitik" der Bolschewiki, "wenn sie, um sich an der Macht zu erhalten, zu den Methoden der Diktatur greifen, nicht um die gefährdete Demokratie zu retten, sondern sich gegen diese zu behaupten". Er hoffte aber, dass die "Errungenschaften der Revolution" zu retten seien, "wenn es gelingt, die Diktatur zu ersetzen durch die Demokratie", wie er am Schluss schrieb. Die Kritik traf die Bolschewiki im Nerv, wie die heftigen Reaktionen Lenins und auch Trotzkis gegen den "Renegaten Kautsky" erkennen lassen. Kautsky ließ sich freilich nicht beeindrucken, sondern formulierte seine Kritik von mal zu mal schärfer und er formulierte damit zugleich die grundlegende Differenz zwischen demokratischen Sozialisten und revolutionären Kommunisten. In seiner Schrift - auch im Jahre 1918 erstmals erschienen und seither in hoher Auflage immer wieder veröffentlicht - schrieb er einige noch heute gültigen Sätze:
"Für uns also ist Sozialismus ohne Demokratie undenkbar. Wir verstehen unter dem modernen Sozialismus nicht bloß gesellschaftliche Organisierung der Produktion, sondern auch demokratische Organisierung der Gesellschaft. Der Sozialismus ist demnach für uns untrennbar mit der Demokratie. Kein Sozialismus ohne Demokratie." Dieser Satz wurde zur Essenz des sozialdemokratischen Bildes von der Oktoberrevolution. Zu der Essenz kam aber - weniger durch Kautsky, aber auch durch ihn - noch allerlei Beiwerk, das dazu führte, dass aus der berechtigten und immer noch gültigen Kritik an der Oktoberrevolution in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein platter "Anti-Bolschewismus" wurde. Zu dem Beiwerk gehörte, dass die  kleine Spartakusgruppe bzw. die Kommunistische Partei zu einem gefährlichen Popanz stilisiert werden konnte, der angeblich die bolschewistische Revolution mit all ihren tatsächlichen und propagandistisch übertriebenen Schrecknissen nach Deutschland importieren wollte. Abgesehen davon, dass die KPD zu Beginn des Jahres 1919 noch sehr einflusslos war, kam aber gerade die allerschärfste Kritik an der Partei der Bolschewiki aus den Reihen der Spartakusgruppe.
Sie kam erneut - wie schon 1904/05  - von Rosa Luxemburg. Über ihre Schrift ist viel geschrieben worden, sie ist auch sicherlich oft nur in "Versatzstücken" zitiert worden, die kaum eine wirkliche  Auseinandersetzung mit der sozialistischen Theoretikerin zum Anlaß hatten. Auf der anderen Seite aber ist die kleine, erst 1922 erstmals veröffentlichte Schrift "Die russische Revolution" stets eine Herausforderung für die kommunistische Bewegung gewesen, die diese nie angenommen hat. Verschweigen und Verfälschen der historischen Bedeutung Luxemburgs war die einzige Antwort. (Auch in der Geschichtsschreibung der DDR übrigens, davon zeugt nicht zuletzt der Eiertanz, der bis zum Jahre 1990 um die Veröffentlichung dieser Schrift aufgeführt wurde und der die Herausgeber zu wahren dialektischen Sprüngen in ihren Einleitungen zwang).
Anders als Clara Zetkin später behauptete steht heute fest, dass Rosa Luxemburg ihre Kritik an der russischen Oktoberrevolution nicht für die Schublade geschrieben hatte, sondern dass sie sie  veröffentlicht sehen wollte, denn - wie sie an Bratman-Brodowski schrieb - "ganz zu schweigen ist unmöglich"  und es steht auch fest, dass ihre Kritik noch schärfer ausgefallen wäre, wenn sie nicht in der Tat etwas auf die Lage der Bolschewiki Rücksicht genommen hätte.

Der Terror als Prinzip oder die Freiheit des anders Denkenden

Rosa Luxemburg stand allerdings mit ihrer Kritik an der bolschewistischen Revolution in der Spartakusgruppe nicht allein. Einige ihrer engsten Freunde hatten ihr zwar die Veröffentlichung ihrer Abrechnung mit den Bolschewiki ausreden wollen, war doch - wie Leo Jogiches im September 1918 schrieb - das möglich scheinende  sozialistische Russland "zwar ein krüppliges, aber immerhin doch unser Kind". Die Skepsis begann aber nicht nur bei Jogiches größer zu werden. Einige sahen schon im Jahre 1918 den Versuch einer sozialistischen Revolution in Russland gescheitert. So schrieb Käte Dunker im September 1918 an ihren Mann: "Die Sache der Bolschewiki muss man ja als verloren betrachten. Die Mittel, durch die sie sich zu halten suchen, beweisen, dass sie verloren sind. Nicht als ob ich ihnen moralische Vorwürfe machen wollte, - aber ein System, da sich nur dadurch halten kann, dass es den Terror als Prinzip erklärt; ein System, bei dem Unbeteiligte als Geiseln erschossen werden, das kann sich nicht halten, das trägt den Todeskeim in sich. Ihr Wille war der beste, aber die Verhältnisse sind stärker als sie, sie haben sie gezwungen, das Gegenteil von dem zu tun, was sie eigentlich wollten."
Deutlicher und auch radikaler in der Konsequenz des Urteil aber war Rosa Luxemburg, wenn sie in ihrer Polemik, die sich gegen Kautsky ebenso wie gegen Lenin und Trotzki richtete, ihren Begriff von der Diktatur des Proletariats definierte: "Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen...".
Was aber ist mit der Revolution, wenn diese Massen die Gefolgschaft versagen, wenn sie anders darüber denken als die Revolutionsführer? Auch für diesen Fall bleibt Rosa Luxemburg die Antwort nicht schuldig. Die Antwort war für die kommunistische Bewegung so brisant, dass nicht zuletzt deswegen dieser Satz in der Mitte der siebziger Jahre veröffentlichten Ausgabe der Schriften Luxemburgs in eine Fußnote unter mehreren anderen versteckt worden ist, weil der Satz angeblich eine Randbemerkung gewesen sei, die ohne Hinweis auf seine Zuordnung geblieben sei.
Rosa Luxemburg schrieb: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird."
Mit diesem Satz - aber nicht nur mit diesem - steht Rosa Luxemburg mehr in der Tradition des demokratischen Sozialismus als in der Tradition der von Lenin geprägten kommunistischen Bewegung. Es ist freilich müßig, zu spekulieren, wie ihr Schicksal in der bolschewisierten Kommunistischen Partei ausgesehen hätte, wenn es ihr denn vergönnt gewesen wäre. Wir können es uns vorstellen, wenn wir uns das Schicksal einiger Volkskommissare der ersten Regierung der Bolschewiki, die schon im Dezember 1917 eine ähnliche Kritik am Verlauf der bolschewistischen Revolution geübt hatten, vor Augen halten. Sie überlebten bis auf einen nicht die stalinistischen Verfolgungen.
Rosa Luxemburg wurde von der Konterevolution ermordet, die Rolle eines Gustav Noske dabei bleibt bis heute dubios und fragwürdig. Ihre Ermordung verhinderte, dass ihre Kritik in der eben erst gegründeten Kommunistischen Partei Wirkung zeigen konnte.

Mythologisches Bild von der Oktoberrevolution

In der kommunistischen Bewegung war nach der Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter die Vorgaben der Kommunistischen Internationale die Oktoberrevolution nur noch ein - freilich propagandistisch gerade dadurch sehr wirkungsmächtiger - wichtiger Bestandteil einer "proletarisch-sozialistischen Mythologie". In seiner "Geschichte des Bolschewismus" hat Arthur Rosenberg - und er wusste als ehemals führender deutscher Kommunist, wovon er sprach - den ideologischen Charakter dieser Mythologie und ihrer Wirkung deutlich beschrieben. Dieses mythologische Bild von der Oktoberrevolution verband sich - wie Gert Schäfer erst jüngst im Rückblick auf die Oktoberrevolution erneut und zu Recht betonte - mit einer fast religiös zu nennenden "Gewaltverherrlichung", die die Gewaltanwendung in der Oktoberrevolution und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren als "notwendig" verklärte und so auch die in der Dimension so viel furchtbarere Gewaltanwendung in der Hochzeit des Stalinismus praktisch von den mythologischen Anfängen her entschuldete. Daraus erwuchs schon gegen Ende der zwanziger Jahre, aber mehr noch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eine sich auf die Oktoberrevolution berufende "weltrevolutionäre Phraseologie" - wie György Konrad es nannte - , die mit der in der Oktoberrevolution immerhin noch aufscheinenden sozialistischen Utopie nichts mehr zu tun hatte, umso mehr aber mit der "konspirativen außenpolitischen Expansion des bestehenden sowjetischen Systems".
Einer derjenigen, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die deutsche Sozialdemokratie - zunächst noch aus dem Exil, später auch als in Westberlin lehrender Politikwissenschaftler - zu einem programmatischen Neuanfang ermuntern wollte, war Paul Sering - später bekannter unter seinem Namen Richard Löwenthal.
Er schrieb noch im englischen Exil ein in der wiedergegründeten (wohlgemerkt wieder - nicht neugegründeten) SPD viel beachtetes Buch, das allerdings wenig unmittelbare Folgen zeitigte. Der Titel: Jenseits des Kapitalismus.
Mit seinem Buch wollte er - wie er schrieb - "Schutt aus den Köpfen wegräumen" und deshalb "auf die ursprünglichen Inhalte der sozialistischen Idee, auf den Ausgangspunkt der sozialistischen Arbeiterbewegung zurückgreifen".
Natürlich beginnt er bei Marx, lobt die Methoden der marxistischen Analyse, die hochaktuell seien und verdammt jeden Dogmatismus im Namen von Marx, der leider allzu verbreitet sei - auch in der SPD, von der KPD gar nicht zu reden.
Er kommt in dem Zusammenhang (natürlich) auch auf die Oktoberrevolution zu sprechen. Sering resümiert wesentliche Kritikpunkte, die auch schon Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der russischen Revolution benannt hatte und er macht deutlich, wie viele der von Luxemburg vorausgesagten Konsequenzen aus den von Anfang an vorhandenen "Geburtsfehlern" der Oktoberrevolution inzwischen eingetroffen seien: der Einparteienstaat, die fehlende Demokratie in Partei und Staat, die Diktatur einer Minderheit in der Partei, die der inneren und äußeren Feinde bedarf.
Aber: - so resümiert Sering auch - das alles ist nicht erst die Folge späterer Fehlentwicklungen, für die allein Stalin und das von ihm geprägte System des Stalinismus verantwortlich zeichnet, das alles ist bereits von Anfang an in der Oktoberrevolution selbst angelegt, mit anderen Worten - und wie zu Beginn schon von mir gesagt - wer Stalin sagt, muss auch Lenin sagen.

Diktatur der Parteispitze

Freilich - so fährt Sering fort - das alles macht auch die "Tragödie der russischen Revolution" aus.
Mit dieser Einschätzung unterscheidet sich Sering sowohl von den Revolutions-Nostalgikern, die für den Stalinismus immer nur Stalin verantwortlich machen wollen als auch von "platten Antibolschewisten", die während der Oktoberrevolution das Wüten des Antichristen erkennen wollen.
Seine Bilanz ist allerdings für unsere Frage, inwieweit die Oktoberrevolution in eine Sackgasse geführt habe, umso eindeutiger. Diese Frage ist ja zunächst sehr allgemein und muß präzisiert werden: wer oder was ist in eine Sackgasse geführt worden und dann kann die Antwort nur lauten: Es ist die Rede von der Idee einer sozialistischen Alternative zu den kapitalistischen Gesellschaften.
Sering nennt die Stalinsche Terrorherrschaft die Konsequenz aus der Leninschen Oktoberrevolution, aber er nennt das auch zugleich die "Tragödie" dieser Revolution, denn - und ich zitiere jetzt einen längeren Passus, der auch für mich eine Art Quintessenz einer kritischen Sicht auf die Oktoberrevolution darstellt -: "Diese Entwicklung entspricht nicht der Absicht der russischen Revolutionäre: Aber sie entspricht der inneren Widersprüchlichkeit ihrer selbstgestellten Aufgabe. Die Geschichte der Sowjetunion ist die Geschichte des Versuchs einer zielbewussten Minderheit, durch eine Gewaltanstrengung ohne Beispiel in einem riesigen, rückständigen Lande die materiellen und kulturellen Voraussetzungen des Sozialismus zu schaffen. Die Gewaltanstrengung erforderte die Errichtung der totalitären Diktatur und ihre Entwicklung bis zu den letzten Konsequenzen - zur Diktatur der Parteispitze. Die Fortdauer der totalitären Diktatur durch Jahrzehnte ermöglichte die Verwirklichung vieler ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen und machtpolitischen Ziele trotz ungeheurer Schwierigkeiten: sie machte den vom Zerfall bedrohten rückständigen Koloss zur industriellen Großmacht, die dem Ansturm Hitlers standhielt und im Siege über ihn zur Weltmacht wurde. Aber dieselbe Diktatur macht durch die Natur der Mittel, die sie zur Erreichung dieser unmittelbaren Ziele anwenden musste, die Erreichung ihres ursprünglichen Zwecks - die Entwicklung zum Sozialismus - unmöglich.
Und Sering schließt: "Sozialismus und Demokratie. Das ist die wahre Tragödie der russischen Revolution. Sie lehrt uns, dass zwischen den ökonomisch-sozialen Ziel des Sozialismus und der politischen Form ein notwendiger Zusammenhang besteht. Es zeigt sich, dass der weit verbreitete Glaube eine Illusion ist, als könnten Sozialisten zwischen einer diktatorischen und einer freiheitlichen Form des Sozialismus nach Zweckmäßikeitsgründen wählen."

Opfer von Verfolgung

Im revolutionären Rußland gibt es ein Beispiel für eine ähnliche Kritik wie der Rosa Luxemburgs aus den Reihen der Revolutionäre. Nach dem Sieg der Bolschewiki im bewaffneten Aufstand vom 7. November 1917 wurde die alte provisorische Regierung verhaftet und eine neue, der Rat der Volkskommissare, bestehend aus 15 Bolschewiken, gebildet.
Am 17. November legten fünf Volkskommissare ihr Amt unter Protest nieder: Rykow, Miljutin, Nogin. Teodorowitsch und Schlapnikow. Ihr Protest wurde unterstützt von Sinowjew und Kamenjew. Sie forderten die Bildung einer Regierung aus allen drei die Revolution unterstützenden Parteien: den Bolschewiki, den Menschewiki und den Sozialrevolutionären. Falls das nicht zustande käme, drohe das Ende der Revolution, denn: "Wir erklären, dass es andernfalls nur einen Weg gibt: die Aufrechterhaltung einer rein bolschewistischen Regierung mit den Mitteln des politischen Terrors."
Nichts anderes hatte Luxemburg gesagt und nichts anderes ist auch in der Tat eingetroffen.
Die im Dezember 1917 gewählte verfassungsgebende Versammlung - die Konstituante - zu 85% bestehend aus Mitgliedern der drei oben genannten Parteien, darunter freilich nur 175 Bolschewiki (von 707 Abgeordneten im ganzen) wurde im Januar 1918 bereits durch Soldaten auseinandergejagt. Die Bolschewiki regierten diktatorisch als Minderheitsregierung mithilfe der schon im Dezember 1917 gebildeten Tscheka. Im Juni 1918 wurden auch aus allen anderen regionalen Sowjets, den vielgerühmten Räten der Revolution, alle Mitglieder der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre ausgeschlossen. Die Diktatur der mit politischen Terror regierenden bolschewistischen Partei war bereits ein halbes Jahr nach der Sturm auf das Winterpalais Wirklichkeit geworden.
Von den Warnern vom Novembern 1917 ist nur einer eines natürlichen Todes gestorben, alle anderen wurden Opfer der stalinistischen Verfolgungen.
Wolfgang Leonhard hat auf dieses Vermächtnis der vergessenen Volkskommissare aufmerksam gemacht. Er schließt seinen kurzen Artikel (im ND vom 7.11.1997 nachzulesen) mit dem Satz: "Weit mehr als dem später einseitig verherrlichten Lenin gebührt ihnen Respekt."

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