von Johannes Eisleben

Wir leben, wie Joel Kotkin (The coming of Neo-Feudalism) griffig formuliert hat, in einem Übergang zum Neofeudalismus. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich der Krieg in der Ukraine verstehen. Was bedeutet das?

Kein Mittelerde

Für viele Beobachter ist Putin ein irrationaler Aggressor, der aus Russland wieder ein globales Imperium nach dem Vorbild der UdSSR machen will und zu diesem Zweck die Ukraine überfallen hat. Der Westen kämpft nach dieser Lesart durch Waffenlieferungen und Bereitstellung von Söldnern als militärischem Führungs- und Ausbildungspersonal um die westlichen Werte: Freiheit und Demokratie. Der Konflikt ist also aus Sicht dieser Zeitgenossen ein klassischer Antagonismus zwischen den Kräften des Guten, uns, dem Westen, und dem bösen, fremden Osten, den Russen. Wir werden gewissermaßen Zeugen eines epischen Ringens um Werte, wie er in vielen literarischen Werken geschildert wird, beispielsweise dem Herrn der Ringe des Sprachwissenschaftlers J.R.R. Tolkien, in dem ein Kampf um ›Mittelerde‹ tobt. Putin ist in dieser Interpretation der ›Sauron‹ aus dem ›Mordor‹ im Osten, oder auch ganz einfach ›Hitler‹. Seine gnadenlosen, hilflose Zivilisten abschlachtenden Truppen gleichen den Orks des bösen Sauron. Russlands Atomwaffen sind der ›Ring der Macht‹. Der Westen, das sind im Wesentlichen ›Eriador‹, ›Rohan‹, ›Gondor‹ und das ›Elbenland‹, muss daher Russland-›Mordor‹ besiegen, damit ›Sauron‹ mit seinen ›Orks‹ nicht ganz Europa unterjochen kann, was zweifelsohne sein ›Kriegsziel‹ ist.

Das Leben wäre einfach, wenn diese Interpretation der Realität entspräche. Der Krieg wäre immer noch furchtbar und in seinen Mitteln leider grausam, aber unser Handeln moralisch gerechtfertigt und sinnvoll, wie wären Zeugen einer Renaissance der so lange vermissten Verantwortungsethik – und zwar gerade im Lager der grünen Gesinnungsethiker. Doch leider ist dies kein episches Gefecht um Werte, sondern der erste Neofeudalkrieg einer neuen Epoche, hier kämpfen zwei Lager von Neofeudalherren um geostrategische Macht und Kapitalisierungsinteressen.

Die internationale Konstellation des Neofeudalismus

Der Westen, dies ist in den letzten 10 Jahren immer klarer geworden, besteht nicht mehr aus Rechtsstaaten mit partizipativer Demokratie, sondern die Europäer und ihre ehemaligen angelsächsisch-französischen Siedlerkolonien in Nordamerika und dem Pazifik sowie Israel haben sich zu neofeudal-usurpatorischen Gesellschaften (im Sinne Benjamin Constants) entwickelt. Diese zeichnen sich durch folgende wesentliche Merkmale aus:
1. Drastische Dichotomisierung des Eigentums an Produktionsmitteln (Unternehmen, Land) mit riesigen Einzelvermögen und dem Anspruch der totalen Machtausübung der ultrareichen Putokraten. 1. Abschaffung des Rechtsstaats mit Ersatz des ›rule of law‹ durch eine vom Naturrecht befreite ›rule by law‹, bei der das Recht in erster Linie als Machtmittel und nicht mehr dem Schutz des Individuums dient.
2. Ablösung der kurzen Phase des klassischen Konkurrenzkapitalismus (bis etwa 1880, dann erneut ansatzweise 1950 bis 1970) durch einen konkurrenzarmen, nur noch teilweise marktwirtschaftlichen Oligopolkapitalismus mit Fusion von Kapitalverwaltern, Anlageobjekten dieser Verwalter (international agierenden Großunternehmen) und staatlichen Institutionen zu einem kohärenten Machtgebilde mit einer massiven Machtkonzentration im digital-finanziellen staatlich-korporatistischen Komplex (der Megamaschine Lewis Mumfords) mit hocheffektiver Verwaltung.
3. Staatlich-korporatistische Kontrolle über Wahrnehmung (Medien, Bildungsinstitutionen, Kultur), Bewegung und neuerdings seit Einführung der mittelbar erzwungenen somatischen Nukleinsäuretherapie (sog. ›Impfung‹) auch der Körper aller Menschen.
4 Abschaffung der politischen Bedeutung der Nationalstaaten, Ersatz durch transnationale, nicht-partizipative Herrschaftsinstitutionen, die die nationalen Institutionen zusammen mit dem digital-finanziellen Komplex steuern und zu nahezu reinen Legitimierungsfassaden machen.
5 Neopositivistisch-technokratische Sicht der Menschen als Herrschafts- und Verwertungsobjekte, der einzelne Mensch ist bedeutungslos, Menschenwürde ist ein antiquierter Begriff.
6. Kultur des Nominalismus, Transhumanismus und der Weltuntergangsideologie, technokratischer Neopositivismus als Religion (Harari, Schwab).

Neben dem westlichen neofeudalen Block, dessen Zukunft so ungewiss ist wie die aller usurpatorischen Machtgebilde, gibt es noch zwei weitere Blöcke von geopolitischer Bedeutung: den russischen und den chinesischen Neofeudalismus. Beide sind ähnlich strukturiert wie der westliche Neofeudalismus, allerdings mit dem Unterschied, dass es in beiden Blöcken niemals nennenswerte Ansätze zum Naturrecht, Rechtsstaat mit Isonomie zum Schutz des Individuums oder Ansätze zur partizipativen Demokratie gab, wohl aber sehr differenzierte Herrschafts- und Verwaltungssysteme und ausdifferenzierte Industriegesellschaften im Sinne Ernst Forsthoffs. Beide Blöcke waren bis zum Ende des kalten Krieges innerlich kulturell heterogen, nach dem Zerfall der UdSSR ist der slavische Block aus Russland und seinen Satellitenstaaten wie Weißrussland recht homogen, China weiterhin sehr heterogen.

Die Herrschaftssysteme aller drei Blöcke konvergieren, alle zeichnen sich durch Oligopolkapitalismus, Nutzung des Rechts als Herrschaftsmittel und einen totalen Herrschaftsanspruch der Eliten aus. Im Westen ist aufgrund der störenden, noch lebhaften kulturellen Tradition von Christentum, Humanismus, Naturrecht und Rechtsstaatlichkeit die Notwendigkeit der propagandistischen Umdeutung der Herrschaft am größten, Angstnarrative vom Weltuntergang zur Durchsetzung der Herrschaftsansprüche am wichtigsten. Die Menschen, die aus Tradition noch Bürgerrechte und Freiheit gewohnt sind, geben diese nur unter großer Angst vor der Klimakatastrophe und vor allem tödlichen Pandemien ab. Diese kulturelle Konstellation ist auch die Hauptquelle der Instabilität und Illegitimität westlicher Neofeudalsysteme.

Selbstverständlich gibt es auch innerhalb der Blöcke Konflikte zwischen plutokratischen Teilgruppen mit unterschiedlichen Interessen, im Westen beispielsweise zwischen dem woken und politische korrekten, hypermoralischen digitalen Sektor und der klassischen Industrie, für die extensive Kohlenwasserstoffnutzung essentiell ist. Ein wichtiges Charakteristikum des westlichen und chinesischen Oligopolkapitalismus ist die Dysfunktionalität des Finanzsystems (in Russland ist die Lage anders), das zwar den rapiden Aufstieg der heutigen Plutokraten mit ermöglicht hat, aufgrund der exponentiell steigender Verschuldung und Geldproduktion jedoch vor dem Zusammenbruch steht.

Seit den 1970er Jahren haben sich die westlichen Neofeudalherren in verschiedenen Verbänden wie WEF, Group of Thirty oder Bilderberg-Konferenz organisiert und Schritt für Schritt internationale Organisationen wie die UNO ihren Zielen unterworfen. Dabei ist es nach 1990 auch zu einer Kollusion mit Russland und China gekommen; insbesondere bestehen mit China noch jetzt starke Überlappungen der Interessen von Teilen der chinesischen Machtzentralen und westlicher Plutokraten, wie beispielsweise am gemeinsamen Vorgehen bei der sogenannten COVID-›Pandemie‹ oder der US-Finanzierung chinesischer mikrobiologischer und virologischer Gain-of-function-Forschung erkennbar ist. Ein starker Treiber dieses Globalismus war der Abschied der US-Plutokraten vom Nationalstaat als Mittel der Durchsetzung der eigenen Interessen. Über Dollarsystem, WTO, Weltbank und IWF haben die USA die Globalisierung stark vorangetrieben und jahrzehntelang auch in deutlicher Kollusion mit China agiert. Globalisierung bedeutete für die US-Plutokraten letztlich Zugriff auf Kapitalisierungsmöglichkeiten in der ganzen Welt.

Die Situation in ›Mordor‹

Nach dem Zerfall der UdSSR haben westliche Plutokraten sich auch Kapitalisierungsquellen in Russland angeeignet, was auch mit der Ausweitung der G7 auf die G8 durch Aufnahme Russlands zum Ausdruck kam. Doch seit dem Wechsel von Jelzin zu Putin vor gut 20 Jahren haben sich die russischen Plutokraten, die man dort Oligarchen nennt, der westlichen Beteiligung an der Kapitalisierung von Rohstoffen und Landwirtschaft entzogen, es kam zu einer Exilierung oder Inhaftierung von mit dem Westen arbeitenden Plutokraten wie Berezovsky und Khodorkovsky. Danach kam es zu einer Abspaltung und Autonomisierung einer neuen, Putin tragenden Generation russischer Oligarchen mit einer Abwendung vom Westen, der den Anspruch auf nationale Verwertung der Bodenschätze und Ländereien nicht akzeptieren wollte.

Der Gegensatz zwischen westlichem Globalismus und russischem Anspruch auf eigene Ressourcenkapitalisierung und einen imperialen Status mit geostrategischem Einfluss in vielen Grenzregionen ist in den letzten 15 Jahren immer weiter eskaliert. Wichtige Stationen waren die kontinuierliche NATO-Erweiterung, der Ausschluss Russlands auf den G8, die militärischen Interventionen Russlands in Georgien oder die Annexion der Krim, der Stellvertreterkrieg gegen die USA in Syrien, bei dem es um Transitrouten für Kohlenwasserstoffe ging, die vom Westen gesteuerte Maidan-Revolution zur Einsetzung eines NATO-freundlichen Regimes in der Ukraine, dem Verbot des Russischen als Verwaltungs- und Bildungssprache in der Ukraine und die Aufrüstung des Landes durch den Westen unter Duldung eines Bruchs der Minsker Abkommen mit Förderung des ukrainischen Neonationalsozialismus, der eine schleichende ethnische Säuberung im Dombâs angestrebt und mit tausenden von Opfern vorangetrieben hat sowie die massive Eskalation der ukrainischen Angriffe auf Luhansk und Donezk und der geplante Ukrainische Angriff auf die Krim im Februar 2022.

Im Verlauf dieses Prozesses wurden die geostrategischen Sicherheitsansprüche Russlands immer stärker verletzt, während Russland ökonomisch immer autarker und stärker wurde, und die Abhängigkeit Westeuropas von russischen Kohlenwasserstoffen gleichzeitig immer mehr zunahm. In der zweiten Jahreshälfte 2021 muss die russische Elite entschieden haben, dass ihre Sicherheitsansprüche durch das Vorgehen der NATO so stark verletzt wurden, dass ein Eroberungskrieg zur Annektierung von Teilen der Ostukraine und der Erzwingung eines Regiemewechsels in der Westukraine opportun und machbar erschien, man begann mit der dafür nötigen Dislozierung von Waffen und Truppen. Sicherheitsansprüche bedeuten letztlich Sicherheit für die Oligarchen, die Bodenschätze und Landwirtschaftserträge weiterhin kapitalisieren zu können. Die Elite scheint zu kalkulieren, dass der Gesamtabsatz an Kohlenwasserstoffen, Kohle, anderen Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Industrieprodukten dadurch mittelfristig nicht tangiert wird.

Für Russland geht es also um die langfristige Sicherung der Kapitalerträge aus den nationalen Ressourcen und – abgesehen von der Grenze zu China, die verhältnismäßig kurz ist – den geostrategischen Einfluss in den riesigen Regionen, die es umgeben. Keinesfalls sieht sich die russische Führung noch in der Rolle der UdSSR bis 1991 als Weltmacht, sondern eher als sehr starke regionale Macht mit riesigen Bodenschätzen, einer punktuell extrem leistungsfähigen und in einigen Bereichen weltweit führenden Industrie (einige Waffengattungen, Nukleartechnologie), einer guten Wirtschaftsleistung (BIP wie Brasilien oder Südkorea, allerdings Pro-Kopf-Einkommen nur wie China), einer sehr differenzierten Hochkultur mit starker historisch gewachsener Identität und der insgesamt etwa drittstärksten Militärmacht der Welt (nach den USA und wohl auch nach China), aber ohne Ambition zum globalen Superimperialismus (Michael Hudson), den die USA weiterhin aufrecht erhalten und der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in einen militärischen Konflikt mit China münden wird.

Bisweilen wird die russische Position als Partikularismus bezeichnet, der im Gegensatz zum westlichen Globalismus und Universalismus stehe, doch ist das lediglich eine ideologische Kategorie. Letztlich geht es den russischen Oligarchen darum, sich selbst die Kapitalisierungserträge zu sichern. Der nationalistische Partikularismus, der öffentlich vorgetragen wird, ist dafür die Herrschaftsideologie. Aber es ist immerhin anders als im Westen, wo ein um die Menschenwürde entkernter, verlogener Universalismus vorgetragen wird, eine Ideologie, die der tradierten Kultur entspricht.

Die Situation in ›Eriador‹, ›Rohan‹ und ›Gondor‹

Was sind die Interessen des Westens? Die US-Legislative hat soeben ein neues 40-Milliarden-USD Paket für die Aufrüstung der Ukraine beschlossen, die geplanten Gesamtausgaben der USA für die Militarisierung der Ukraine übersteigen nun 55 Mrd. USD. Russland soll damit ›geschwächt‹ und aus der ›Ukraine herausgedrängt‹ werden, weil die russische Aggression unseren Werten widerspräche. Solche universalistischen Aussagen sind genauso ideologisch wie der nationalistische Partikularismus der Russen. In Wirklichkeit haben die USA und ihre engen Verbündeten folgende Ziele: 1. Zurückdrängung Russlands aus seiner heutigen Rolle als imperialer Regionalmacht.
2. Regimewechsel in Russland mit dem Ziel einer Wiederherstellung des Zustands vor 2000 (Jelzin-Status) mit Partizipation des Westens an der Kapitalisierung der russischen Rohstoffe.
3. Zerstörung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Westeuropa (insbesondere Deutschlands) und Russland zur Verhinderung einer vertieften Zusammenarbeit auf dem europäischen Kontinent vom Atlantik zum Ural, die den US-Interessen widerspricht.
4. Abräumung eines wichtigen Kontrahenten angesichts des aufziehenden Konflikts mit China.
5. Inflation der Rohstoff- und Lebensmittelpreise zur Beschleunigung des Übergangs zur digitalen Zentralbankwährung im Sinne des Great Reset.

Keiner dieser Punkte ist im nationalen Interesse Deutschlands, im Gegenteil ist Deutschland nach der Ukraine und Russland das am drittstärksten von diesem Konflikt betroffene Land, da uns durch diesen Krieg riesige und sinnlose wirtschaftliche Schäden entstehen. Doch unsere Eliten dienen nicht den Interessen der deutschen Bevölkerung, sondern einer Fraktion der westlichen Plutokraten, die derzeit die wesentlichen gesellschaftlichen Institutionen kontrolliert.

Diese Plutokraten wissen, dass ein chaotischer Zusammenbruch des Finanzsystems ihre Machtstellung gefährden würde. Daher arbeiten sie fieberhaft am Übergang zum digitalen Vollgeld, einer Zentralbankwährung, mit der die heutigen Vermögensverhältnisse trotz der exorbitanten Schulden erhalten werden könnten. Der Krieg könnte als Katalysator des Great Reset dienen, so wie die ›Pandemie‹-Politik zuvor.

Der erste Neofeudalkrieg

Wir haben es hier insgesamt mit dem ersten offenen Konflikt des neuen Zeitalters des Neofeudalismus zu tun – der Krieg in Syrien war noch ein verdeckter Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen. Nun werden die einander widerstrebenden Interessen zweier Gruppen von Plutokraten in der Ukraine offen ausgefochten. Auch die Feudalgesellschaft des Mittelalters befand sich in ständigem Kriegszustand, weil die Feudalherren sich laufend Machtkämpfe lieferten, es gab in dieser Gesellschaftsordnung kein natürliches Gleichgewicht zwischen den dynastisch organisierten Eliten. Da die Erträge der Landwirtschaft die dominierende Ertragsquelle waren, war die Zerstörung der Ländereien des Gegners ein wesentliches Kriegsmittel.

Im heutige Neofeudalkrieg geht es ebenfalls um Macht, die direkt proportional zu den Kapitalisierungserträgen ist. Zerstörung der gegnerischen Kapitalisierungsquellen ist nicht mehr das Hauptziel der Kriegsführung, doch kann sie in Kauf genommen werden, da man sie auch wieder aufbauen kann, selbst nach einem taktischen Atomkrieg.

Selbstverständlich sind die russischen Oligarchen schwächer als die westlichen Plutokraten, die ein viel höheres Gesamtkapital und über viel mehr staatliche Macht gebieten. Da Russland aber über Atomwaffen verfügt, ist der Ausgang des Krieges unsicher, ob der Westen seine Ziele erreichen wird, ist unklar. Da die dem Krieg zugrunde liegenden Konflikte sehr fundamental sind, müssen wir uns auf eine dauerhafte Kriegsphase einrichten, ein Krieg des Westens gegen China zeichnet sich bereits ab. Der Krieg in der Ukraine wird nicht der einzige Neofeudalkrieg bleiben.

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