von Ingo Schmidt

Unerwartet und ohne Bedingungen hat das Nobelpreiskomitee in Oslo der EU politischen Kredit gegeben. Die Vergabe des Friedensnobelpreises unterscheidet sich deutlich von dem Gebaren, das EU-Troika und Gläubiger den Schuldnerländern der EU gegenüber an den Tag legen. Da werden Kredite verweigert, bis das gesamte Finanzsystem der EU, und damit auch die ausstehenden Forderungen der Gläubiger, am Rande des Abgrunds stehen.

Last Minute Kredite werden ausschließlich zur Bedienung solcher Forderungen vergeben. Sie werden zudem mit Steuergeldern der Gläubigerländer abgesichert und an Sparauflagen gebunden, die die Wirtschaft in den Schuldnerländern weiter in den Graben fahren und dadurch deren Schuldenlast weiter vergrößert. Am Ende ist die EU überall diskreditiert. In den Schuldnerländern gilt sie, im Bunde mit den Regierungen der Gläubigerstaaten, als Ursache von eskalierender Arbeitslosigkeit und Armut, während sie in den Gläubigerstaaten als eine Umverteilungsmaschine erscheint, die mit hart verdienten Einkommen das ausschweifende Leben in den Krisenländern alimentiert. In Gläubiger- und Schuldnerländern gilt: Wenn die oben von Europa reden, wissen die unten, dass es ihnen ans Leder geht. Euroskepsis wird zu offener Ablehnung, die Nation gilt als letzte Zuflucht vor der Macht der anonymen Hände von Finanzmärkten und Eurokraten. Ganz am Ende gehen die unten im Namen der Nation wieder aufeinander los, während die oben grenzenlose Kriegsgewinne einstreichen.

So oder so ähnlich könnte sich das Osloer Komitee die Zukunft Europas vorgestellt haben. Der Friedensnobelpreis wäre dann keine Anerkennung bereits erbrachter Leistungen sondern Auftrag, das Umschlagen der Eurokrise in Staatenkonkurrenz und Krieg zu vermeiden. Ob EU-Institutionen und Regierungen der Mitgliedsstaaten so einen Auftrag annehmen würden, mag man bezweifeln, schließlich gilt ihnen die Standortkonkurrenz als Quelle wirtschaftlichen Wohlstands. Eine andere Frage ist, weshalb Troika und Gläubigerstaaten eine Politik betreiben, die seit drei Jahren zur Verschärfung der Eurokrise beigetragen hat und weshalb sich in den Schuldnerstaaten immer noch Regierungen finden, die dabei mitspielen. Es gibt doch gegenwärtig gar keinen Grund, Gewinne in einem europäischen Krieg zu suchen. Die europäische Rüstungsindustrie verdient prächtig am Hindukusch, zwischen Euphrat und Tigris und in anderen (Bürger-)Kriegsgebieten der Welt. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen insgesamt sprudeln kräftig, seit die Wirtschaftskrise Sozialpolitikern und Gewerkschaftern eine weitere Lektion im Maßhalten erteilt hat. Warum die Gewinne, die sich mit einer eingedämmten Krise verdienen lassen, durch eine Politik aufs Spiel setzen, die gerade dabei ist, eine Negativspirale aus Umsatzausfällen, sinkenden Investitionen und damit verbundenen Profiteinbrüchen loszutreten? Sind die da oben denn von allen guten Geistern verlassen?

Bundeskanzlerin Merkel, Bundesbankpräsident Weidmann und ihr Gefolge in der EU sind natürlich davon überzeugt, dass der gesunde Menschenverstand Einsparungen als einzig wirksame Medizin gegen ausufernde Schulden vorschreibt, und dass gerade diejenigen von den guten Geistern der Haushaltsdisziplin verlassen sind, die ihre Sparpolitik kritisieren. Was man nicht hat, kann man nicht ausgeben. Wer’s trotzdem tut, muss es zurückgeben. Die Logik ist einfach zu begreifen und daher attraktiv für Politiker, die anderes zu tun haben als die wirklichen Ursachen der Wirtschaftskrise zu erkunden. Über Jahrzehnte hat die politische Klasse der Öffentlichkeit ausgeglichene Haushalte gepredigt und den Kredit verweigert, während sich Unternehmer und Bankiers dem Rausch entfesselter Finanzmärkte ergaben. Die privaten Schulden, die zum Kauf immer teurer werdender Wertpapiere aufgenommen wurden, waren freilich immer noch da, nachdem die Spekulationsblase 2008 geplatzt war. Jetzt war es der Bestand fauler Kredite, der in die Höhe schoss und private Banken zur drastischen Einschränkung ihrer Kreditvergabe veranlasste. Um ein völliges Austrocknen des Finanzsystems, wodurch außer der glitzernden Börsenwelt auch jegliche andere wirtschaftliche Tätigkeit zum Erliegen gekommen wäre, zu vermeiden und die Verluste privater Gläubiger zu minimieren, zeigten sich Zentralbanken und Regierungen ungewohnt großzügig. Erstere pumpten frisch gedrucktes Zentralbankgeld in den Finanzkreislauf, letztere übernahmen riesige Bestände privater Schulden in öffentliche Haushalte und trieben letztere auf diese Weise selbst in die roten Zahlen. Dem Börsenrausch folgten die staatlich verabreichten Ersatzdrogen, auf Entzug setzen private Vermögensbesitzer und Sparkommissare die wenig bis gar nicht Begüterten, die schon von den Gewinnen der Spekulationszeit nichts abbekommen haben. Höchste Zeit den Geldhahn wieder zuzudrehen, meinen Merkel und ihr Anhang.

Vorsichtigere Gemüter wie EZB-Chef Draghi warnen dagegen, die Privatwirtschaft habe sich noch nicht hinreichend von der Finanzkrise erholt und sei weiterhin auf Geldzufuhr von der Zentralbank angewiesen. Dies gelte umso mehr, als die privaten Banken weitere Kredite stunden oder ganz abschreiben müssten und strengere Eigenkapitalvorschriften die private Kreditvergabe auf unbestimmte Zeit beschränken würden. In dieser Richtung argumentiert auch IWF-Chefin Lagarde. Um die Zahlungsfähigkeit der europäischen Schuldnerstaaten zu erhalten, will sie die Zielvorgaben zur Haushaltssanierung lockern. Prinzipienreiter vom Schlage Weidmann wittern hinter solchen Vorschlägen die Komplizenschaft des Italieners Draghi und der Französin Lagarde mit ihren Vergeudungskumpanen in Griechenland, Portugal und Spanien. Weil sie selbst vorübergehend von den verbotenen Früchten des Gelddruckens und Staatskredits genascht haben, bestehen sie nun darauf, anderen ihre Tugend aufzuzwingen. Andererseits ist der Verdacht, Zahlungsaufschub und eine Fortsetzung des Gelddruckens seien keine vorübergehenden Notmaßnahmen, sondern markierten die dauerhafte Abkehr von den Prinzipien Haushaltsdisziplin und knapper Geldversorgung, nicht völlig aus der Luft gegriffen. Er richtet sich lediglich gegen die falschen Personen. Seit sie ihre Ämter angetreten haben, agieren Samaras, Coelho und Rajoy, die Ministerpräsidenten in Athen, Lissabon und Madrid, als willige Vollstrecker der Spardiktate von Troika und Gläubigerstaaten. Es sind vielmehr versprengte keynesianische Ökonomen, darunter so prominente Figuren wie die Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman und Stiglitz, aber auch Sachverständigenratsmitglied Bofinger und der Gewerkschaftsökonom Horn, die sich ob des neuen Pragmatismus von EZB und IWF die Hände reiben. Sie wollen die Wirtschaft in der Eurozone mit massiven Ausgabenprogrammen des Staates ankurbeln und begrüßen daher jedes Argument, dass die Weisheit von ausgeglichenen Haushalten und knappem Geld in Frage stellt. Ihr Argument: Jeder Versuch, sich aus der Krise herauszusparen, führt zu mehr Schulden, weil die Steuereinnahmen schneller wegbrechen, als die Ausgaben gekürzt werden können. Statt öffentliche Kredite in ein Fass ohne Boden zu werfen, sollten sie zur Finanzierung zusätzlicher Staatsausgaben verwendet werden. Diese Ausgaben würden schließlich auch die Privatwirtschaft ankurbeln und steigende Einkommen würden dann zu höheren Steuereinnahmen führen, aus denen die öffentlichen Schulden bedient werden könnten. Und natürlich ist der Schuldenabbau umso leichter zu bewerkstelligen, je zinsgünstiger die Zentralbank Kredit zur Verfügung stellt.

Das klingt plausibel, und höheres Wachstum wollen Sparkommissare wie Weidmann und Merkel ja auch. Der Gedanke an staatliche Ausgabenprogramme weckt bei ihnen allerdings Erinnerungen an eine Vergangenheit, in der solche Programme kuschelige Sozialstaatsnischen finanziert und damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beinahe ruiniert hätten. Weder wollen sie in diese Vergangenheit zurück noch wünschen sie eine Zukunft, in der keynesianische Wirtschaftspolitik und Sozialstaat sich bei EZB und EU-Kommission breitmachen und Europa in der Konkurrenz mit Amerika und China zurückwerfen. Das Europäische Sozialmodell, das Gewerkschafter, Linkspartei und eine Handvoll Sozialdemokraten als Alternative zu Sparprogrammen und der damit verbundenen Gefahr des Zerfalls Europas vorschlagen, kommt aber nicht nur bei Merkel, Weidmann & Co. schlecht an, sondern auch bei vielen, deren Lebenslage durch höhere Sozialstandards verbessert würde. In Umfragen erfreut sich der Sozialstaat großer Beliebtheit und die EU wird unter anderem deswegen kritisch beäugt, weil der Sozialabbau in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten im Namen von europäischem Binnenmarkt und internationaler Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Europa durchgesetzt wurde. Angesichts solcher Präferenzen und Wahrnehmungen stellt sich allerdings schon die Frage, weshalb die Idee eines Europäischen Sozialmodells kaum jemanden hinter dem Ofen vorholt. Die Antwort auf diese Frage hat weniger mit wirtschaftstheoretischen Kontroversen oder wirtschaftspolitischen Vorlieben der politischen Klasse zu tun als damit, wie diese Klasse ihre Politik dem zu regierenden Volke verkauft. Da mischen sich dann theoretische Versatzstücke und moralische Werturteile mit bewältigter Vergangenheit aber auch verklärter oder verdrängter Geschichte.

Der Konflikt zwischen sozialen Standards und Sicherungssystemen auf der einen und Konkurrenzdruck auf der anderen Seite ist ja keine Erfindung der EU-Kommission. Es gab ihn schon, als keynesianische Ökonomen in der Volkswirtschaftslehre noch den Ton angaben und als Berater bei den Regierungschefs der westlichen Welt ein und aus gingen. Auch als Sozialstaaten noch aus- statt abgebaut wurden, haben Unternehmen mittels Kostensenkungen um Marktanteile und hohe Profite gerungen. Gegenüber ausländischen Konkurrenten hatten deutsche Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganzes Bündel an Wettbewerbsvorteilen. Unter der Nazi-Herrschaft war der Produktionsapparat in Deutschland erheblich modernisiert worden, während die Wirtschaft in den Ländern, die von den Nazis besetzt waren, bis aufs Letzte ausgepowert wurde. Während Wohngebiete und Verkehrsinfrastruktur in riesigem Umfang zerstört wurden, hatten diese modernisierten Produktionsanlagen den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. Zudem war das Lohnniveau als Erbe der terroristischen Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch die Nazis in Nachkriegsdeutschland niedrig und die USA gewährten der Bundesrepublik über einen günstigen Wechselkurs den Wiedereintritt in den Weltmarkt. Marshallplangelder von 1948 bis 1952 und Londoner Schuldenabkommen, in dem 1953 die Vor- und Nachkriegsschulden Deutschlands fast vollständig gestrichen wurden, trugen weiter dazu bei, dass sich Deutschland nach dem Scheitern seiner Weltmachtambitionen auf dem Weltmarkt als führende Exportmacht etablieren konnte. Dabei sorgten die USA mit ihrer staatlichen Ausgabenpolitik, die den Aufbau einer weltweiten Militärpräsenz einschloss, für ein mehr oder minder beständiges Wachstum des Weltmarktes. Die Arbeiter und Arbeiterinnen im Nachkriegsdeutschland konnten ranklotzen wie sie bzw. ihre Chefs wollten – ohne die günstigen Bedingungen, zu denen die neue Führungsmacht USA die Bundesrepublik in die westliche, d.h. vor allem antikommunistische, Welt aufgenommen hat, wäre Deutschland niemals Exportweltmeister geworden.

Der Erfolg des exportgeleiteten Wachstums hat einen gesellschaftlichen Konsens geschaffen, der weit über die Wirtschaftswunderjahre von den frühen 1950ern bis zum Ende der 1960er hinausreicht und die Politik in Deutschland auch gegenwärtig noch prägt. Dieser Konsens besagt, dass der Sozialstaat gut, Exporte aber besser und wichtiger sind. Wenn der Exportmotor stottert, müssen Sozialausgaben und Standards runter. Wenn Auslands- und Staatsverschuldung in anderen Ländern steigen, haben sie über ihre Verhältnisse gelebt und müssen sich das Exportmodell Deutschland zum Vorbild nehmen, um wieder auf die Beine zu kommen. Wenn andere Länder, wie Japan in den 1980ern, die asiatischen Tigerstaaten in den 1990ern und China seit der Jahrtausendwende, Exportüberschüsse erwirtschaften und Deutschland den Titel des Exportweltmeisters streitig machen, haben sie sich unlauterer Wettbewerbsmethoden bedient. Dass Lauterkeit und gleiche Marktzugangsbedingungen nur in den Märchenbüchern neoklassischer Ökonomen – das sind die, die Merkel, Weidmann & Co. gelesen haben – vorkommen und Westdeutschland seinen wirtschaftlichen Aufstieg selbst der Vorzugsbehandlung durch die Weltmacht USA zu verdanken hat, wird dabei vergessen oder verdrängt. Die exportbesessene Verblendung reicht so weit, dass selbst das offenkundige Scheitern des Modells Westdeutschland die politische Klasse dieses Landes nicht von ihrem Sparkurs abbringt oder das Volk zum Protest treibt. 1990, als der aufmüpfige Ossi-Slogan »Wir sind DAS Volk« in die deutsch-nationale Parole »Wir sind EIN Volk« umgemünzt wurde, wurden den alten Bezirken bzw. neuen Ländern blühende Landschaften versprochen. Nach 40 Jahren staatlicher Misswirtschaft sollten sie das Wirtschaftswunder nachholen, das im Westen in den 1950ern begonnen hatte, in den 1990er aber selbst schon Gegenstand nostalgischer Erinnerung geworden war.

Der Einheitsvertrag sah die Übernahme der DDR-Schulden durch die nunmehr vergrößerte BRD vor. Die Beträge waren im Vergleich zu dem Schuldenberg den das BRD-Vorgängerregime 3. Reich aufgehäuft hatte, allerdings vernachlässigbar niedrig. Um gegenüber dem Ausland nicht schlecht dazustehen, wurden trotzdem Schattenhaushalte geschaffen, in denen dann auch erhebliche Teile der Kosten, die im Laufe des Vereinigungsprozesses aufgelaufen sind, verbucht wurden. Ein klarer Fall von kreativer Buchführung, die deutsche Sparkommissare stets kritisch anmerken, wenn sie anderswo angewendet wird. Das Lohnniveau im Osten blieb zwar hinter dem des Westens zurück, und da ist es bis heute auch geblieben, trotzdem reichte dieser Kostenunterschied nicht aus, um ein exportgeleitetes Wirtschaftswunder nach westdeutschem Vorbild der 1950er einzuleiten. Unternehmen, die in den 1990ern auf niedrige Löhne aus waren, darunter viele mit Stammsitz in Westdeutschland, sind meistens nach Polen, Rumänien oder China weitergezogen. In den neuen Ländern wurde zumeist nur Zwischenstopp gemacht, um ein paar Subventionen mitzunehmen. Und was den Wechselkurs angeht, war die deutsch-deutsche Währungsunion für Ostdeutschland ein noch größeres Desaster als die europäische Währungsunion für Griechenland. Was ein ungünstiger Umtauschkurs von Drachme zum Euro der griechischen Wirtschaft in knapp zehn Jahren angetan hat, schaffte der Übergang von Aluchips Ost zu D-Mark West in zehn Monaten. Die Löhne hätten noch so niedrig sein können, der Wettbewerbsnachteil, den die letzte DDR-Regierung unter dem Merkel-Parteifreund de Maizière den neuen Ländern eingehandelt hat, ließ sich nicht wettmachen. Massenhaft brachen die volkseigenen Betriebe der ehemaligen DDR zusammen und wurden, sofern Interesse bestand, für wenig Geld bzw. sogar unter Draufgabe von Staatsknete an alte Kapitalisten aus dem Westen und eine kleine Zahl neuer Kapitalisten aus dem Osten verscherbelt. Produktion, Beschäftigung und Steuereinnahmen brachen nach Einführung der D-Mark so stark ein, dass die Wirtschaft in den neuen Ländern dauerhaft von Länderfinanzausgleich und Solidarbeitrag abhängig wurde. Ohne diese Finanztransfers wäre die gesamte Bevölkerung der neuen Ländern in den Westen rübergemacht. Nach 1990 sind ja trotz solcher Stützungsgelder und der Übernahme der westdeutschen Sozialversicherungen mehr Menschen aus dem Osten abgehauen als vor dem Mauerbau 1961.

Statt aus solchen Erfahrungen zu lernen und Griechenland vom Spardiktat zu befreien, hat Eurogruppen-Chef Juncker, ein überzeugter Europäer und Sparkommissar, die Treuhandanstalt, von der die Abwicklung der ehemaligen DDR-Wirtschaft vorgenommen wurde, als Vorbild für die Lösung der Krise in Griechenland bezeichnet. Die Botschaft ›Kaputt machen und dann übernehmen‹ ist auch in Lissabon und Madrid verstanden worden. Die Ministerpräsidenten Coelho und Rajoy bereiten sich bereits auf ihre Rolle als Gerichtsvollzieher vor. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit bieten sie portugiesisches und spanisches Tafelsilber auf dem Weltmarkt feil. Die Reichen aller Herren Länder gehen auf Schnäppchenjagd, Arbeiter und Arbeiterinnen in Südeuropa sind genauso angeschmiert wie die in Ostdeutschland nach 1990. Und auch bei denen in Westdeutschland dürfte sich die Freude über die finanzpolitisch erschlossenen Investitionsfelder in Grenzen halten. Der Exportkonsens hält zwar noch irgendwie, aber die Zweifel werden größer. Das westdeutsche Unternehmertum hat den nach deutscher Einheit und Zusammenbruch der Sowjetunion vergrößerten Weltmarkt zwar gern und erfolgreich beliefert, die Logik der Wirtschaftswunderjahre – erst der Export und dann der Sozialstaat – hat aber nicht mehr funktioniert. Für die einen gab es Rekordumsätze und -profite, für die anderen im besten Falle Lohnzurückhaltung, in immer häufigeren Fällen aber Leiharbeit, Zeitarbeit oder Hartz IV.

Mit den Zweifeln am Exportmodell Deutschland wächst das Interesse an Alternativen, aber nicht unbedingt das am Europäischen Sozialmodell. Jedenfalls nicht in der Form, wie es von seinen Protagonisten häufig vorgestellt wird. Danach erlaubt es eine Rückkehr zur guten alten Zeit des Sozialstaates auf europäischer statt auf nationalstaatlicher Ebene. Dieses Modell beruhte aber auf den einmaligen Wachstumsbedingen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Nur unter diesen Bedingungen konnten Löhne und Sozialausgaben steigen ohne gleich zu niedrigeren Gewinnen zu führen und nur deshalb wurden sie von den Unternehmern mehr oder minder zähneknirschend akzeptiert. Mit dem Wirtschaftswunder ist in den 1970ern auch dieser Kompromiss zwischen Kapital, Gewerkschaften und Sozialstaat zu Ende gegangen. Da ein neues Wirtschaftswunder nicht absehbar ist, stellt sich die Frage nach Wiederherstellung eines solchen Kompromisses weder auf nationalstaatlicher, europäischer oder irgendeiner anderen Ebene. Das Soziale muss heute gegen das Kapital erkämpft werden, in Griechenland, Deutschland und anderswo. Das Gespenst des Kommunismus geht wieder um. Es ist aber auch bei denen, die es in eine bessere Zukunft zu führen verspricht, nicht beliebt und das ist nach den Verwüstungen, die im 20. Jahrhundert im Namen des Kommunismus angerichtet wurden, auch kein Wunder. So bleibt das Paradox, dass der Exportkonsens in Deutschland langsam zerfällt, ein Europäisches Sozialmodell zu recht als utopisch gilt, realisierbare Alternativen zu Exportfixierung und Sozialmodell aber nicht undenkbar scheinen. Solange sich daran nichts ändert, werden die europäischen Sparkommissare weitermachen wie bisher. Die Wirtschaft wird in den Dreck gefahren, Europa gespalten und der vom Friedensnobelpreis Komitee verliehene Vertrauensvorschuss verspielt werden.

 

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