von Peter Brandt

Edelbert Richter ist ein bemerkenswerter Mann. Ich kenne ihn seit den späten 80er Jahren (schon davor war er mir ein Begriff) und stehe seit den mittleren 90er Jahren mit ihm in regelmäßigem Diskussionskontakt. Promovierter Theologe aus Thüringen, entsprechend geisteswissenschaftlich gebildet und geübt in der Textinterpretation, in der Honecker-Ära Oppositioneller demokratisch-sozialistischer Ausrichtung mit besonderem Gespür für die potentielle Brisanz der offenen ›deutschen Frage‹, Mitbegründer des »Demokratischen Aufbruchs«, bei deren Schwenk zu Helmut Kohls »Allianz für Deutschland« mit Schorlemmer und anderen Übertritt zur Sozialdemokratie, dort Europa-, dann Bundestagsabgeordneter, 2007 Wechsel zur Linkspartei. Dabei ist Edelbert Richters politische Position im Wesentlichen unverändert geblieben.

 

Edelbert Richter: die Linke im Epochenumbruch. Eine historische Ortsbestimmung, Hamburg (VSA-Verlag) 2009, 304 Seiten

In dem jüngsten seiner im VSA-Verlag erschienenen Bücher über Die Linke im Epochenumbruch versucht er eine »historische Ortsbestimmung«; sie ist, wie stets, nicht nur geistreich, sondern im besten Sinne aufklärerisch. Anders als manche Akteure mit ähnlichem Hintergrund hat Edelbert Richter sich nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands nicht auf die kritische, nicht selten auf Personen verengte ›Aufarbeitung‹ der DDR-Vergangenheit fixiert bzw. sich darauf abdrängen lassen, sondern die mit den veränderten Bedingungen gegebenen neuen Herausforderungen sofort angenommen. Dazu passt, dass er sich kompetent auch in die ›harten‹ Themen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, namentlich Kapitalismusanalyse und Wirtschaftspolitik (einschließlich Wirtschafts- und Sozialgeschichte), vertieft hat. Und man sollte dem vorliegenden Buch schon deshalb eine weite Verbreitung wünschen, weil Edelbert Richter zu den Autoren gehört, die auch kompliziertere Zusammenhänge, ohne unzulässig zu vereinfachen, einem über die einschlägigen Fachwissenschaften hinausreichenden, breiteren interessierten Publikum zu erläutern versteht.
Die Kernaussage: Aufgrund der globalen Krise von 2008/09 stünden wir nach drei Jahrzehnten Vorherrschaft des Neoliberalismus vor einem neuen Epochenumbruch, der der deutschen und europäischen Linken objektiv große Chancen eröffnete, die Entwicklungsrichtung qualitativ zu ändern, während sogar die Träger der bisherigen Politik nicht umhin kämen, Korrekturen vorzunehmen. Das größte Hindernis für eine erfolgreiche Intervention progressiver Kräfte sieht der Autor in konzeptionell-programmatischen Unzulänglichkeiten, die im reinen Pragmatismus ebenso ihren Niederschlag finden könnten wie im abstrakten Philosophieren über das Wesen ›des‹ Kapitalismus (anstelle der konkreten Analyse).
Es mindert nicht den Wert des vorliegenden Werkes, dass es nicht wie eine geschlossene Monographie, sondern eher wie die Sammlung verschiedener, wenn auch gedanklich miteinander verbundener Abhandlungen wirkt. Vier Großkapitel behandeln: »Das deutsche Kapitalismusmodell und die Globalisierung«, »Europa und der Dritte Weg«, »Die Natur als Markt? Abschied vom Darwinismus« sowie »Die erwartete und doch überraschende Krise«.

Im ersten Teil rekonstruiert der Verfasser die Hilferding´sche Theorie des Finanzkapitals und die reformistische Wendung des Konzepts ›organisierter Kapitalismus‹, schließlich die Hinwendung nicht nur Hilferdings zum Primat des Antitotalitären. (Davor lag übrigens, von Richter nicht erwähnt, die Phase der programmatischen Selbstkritik und Radikalisierung der Exil-SPD 1933/34, und danach folgten nach 1945 noch einmal einige Jahre eines erneuerten reformsozialistischen Ansatzes; die Programmentwicklung der SPD lief jedenfalls nicht so glatt, wie es bei Betrachtung der langfristigen Tendenz erscheinen mag.) Davon ausgehend analysiert Richter in mehreren Schritten Idee und Realität des globalen Freihandels im 19. und 20. Jahrhundert, die Grundelemente des deutschen Weges, namentlich die Export- und Hartwährungsorientierung, sowie die bundesdeutsche Außenwirtschafts- und Währungspolitik in ihrem spezifischem Verhältnis zum Prozess der weltweiten Entgrenzung des Kapitalismus in Gestalt des Finanzmarkt-Kapitalismus seit den 1970er Jahren.
Im zweiten Teil geht es zunächst um die in marxistischen Debatten oft unterschätzen kulturellen, nicht zuletzt konfessionell-religiösen Aspekte der politischen Szenerie, namentlich der Existenz und des Charakters einer sozialistischen Linken Europas, gegenüber einerseits Russland mit seinen Traditionen der Selbstherrschaft, der Orthodoxie usw., andererseits der USA mit dem stark kalvinistisch geprägten, individualistischen Freiheitsverständnis, ferner China mit dem Erbe des Konfuzianismus. In einer weiteren Annäherung an die – wie er meint – sträfliche außenpolitische Enthaltsamkeit der Linken beleuchtet der Verfasser die 68er-Bewegung in West und Ost im Lichte der den internationalen Beziehungen eigenen Dynamik und macht einen der Gründe des Scheiterns bzw. Versandens der Protestbewegung in der Unfähigkeit der Neuen Linken fest, ein europäisches Projekt zu entwerfen und voranzubringen. Auch das diesen Teil abschließende Unterkapitel thematisiert das »außenpolitische Defizit« der Linken. In einer gründlichen Reflexion stellt Richter ›idealistische‹ Konzepte und ›realistische‹ Sichtweisen der Außenpolitik im Liberalismus (zurückgehend bis auf Kant) und im Sozialismus heraus. Er wendet sich gegen die Neigung, im Bezug auf die EU allein die negativen Funktionen und potentiellen Gefahren, nicht aber die historische Errungenschaft – ein qualitativ neues Verhältnis zwischen den europäischen Staaten im Sinne einer kooperativen, demokratischen Friedens- und Rechtsordnung – und die Fähigkeit, ein zivilisatorisches Gegenmodell zu den USA und zu Ostasien zu entwickeln, zu sehen.
Der dritte Teil des Buches ist eine tief schürfende und in der Grundtendenz überzeugende Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, dessen Passfähigkeit gegenüber Wirtschaftsliberalismus und Imperialismus, und auch mit dem darwinistischen Erbe in der Sozialdemokratie und im Leninismus. Der Anlass ist offenbar das Darwin-Jubiläum 2009. Hier wie anderswo zeigt der Autor, dass er die sozialistischen Klassiker, namentlich Marx, gut kennt, sie ›historisieren‹ kann und somit ohne Buchstabengläubigkeit, aber auch ohne jede Berührungsangst souverän zu benutzen versteht. Er bekennt sich zu »konstruktiver Zivilisationskritik« und zu einem »ethischen Sozialismus«, den er aber nicht im Gegensatz zu marxianisch bzw. marxistisch inspirierter Kapitalismusanalyse begreift.
Im vierten Teil wagt Edelbert Richter einen originellen Vergleich zwischen Leninismus (= ›Real existierendem Sozialismus‹) und Neoliberalismus (= Finanzmarkt-Kapitalismus) im Hinblick auf die Untergangskrise der späten 80er Jahre und die derzeitige Krise. Die Gegenüberstellung bezieht sich hauptsächlich auf die in vieler Hinsicht ähnliche Art des Denkens in objektivistischen und ökonomistischen Bahnen, einer Denkweise, die also letztlich dogmatisch und eindimensional bleibe. Der Verfasser verharrt nicht bei der Ideologiekritik, wenn er die Bedeutung konkreter politischer Entscheidungen für die Durchsetzung des neoliberalen Projekts betont, sondern wendet sich in der zweiten Hälfte des Beitrags dem fatalen »Bündnis zwischen (US-)Hegemonialpolitik und globalem Kapitalmarkt« zu, wobei die ökonomische Vormachtstellung der USA am Ende nur noch durch politisch-militärische Überlegenheit und strukturellen ›Betrug‹ hätte aufrecht erhalten werden können. Der Aufstieg der großen Schwellenländer, namentlich Chinas, Indiens und Brasiliens, die wirtschaftlichen Unabhängigkeitsbestrebungen anderer lateinamerikanischer Staaten usw. machen Richter zufolge eine erneute Befestigung des neoliberalen Paradigmas und der US-amerikanischen Hegemonie unwahrscheinlich.
Das Fazit des Buches beinhaltet ein Plädoyer für den ›Dritten Weg‹ nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern zwischen liberalistischem Marktkapitalismus und pseudosozialistischem Etatismus. Dabei sollte nach Meinung des Autors an frühere, auf die Produktion und andere Wirtschaftssektoren gerichtete Demokratisierungs-, Mitbestimmungs- und Humanisierungsbestrebungen angeknüpft werden, und in Verbindung damit handele es sich darum, das Bewusstsein für die Legitimität egalitärer Forderungen und gesamtgesellschaftlich solidarischer Lösungen wiederzuerwecken. Die Dringlichkeit dieses Appells ergibt sich für Edelbert Richter aus der schwerwiegendsten, nämlich der ökologischen Krise, die er in allen Teilen seines Buches anspricht – und zwar nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Ökonomie und der internationalen Politik.

Im Verhältnis zu den Verdiensten dieser anregenden und lehrreichen Publikation fallen die Kritikpunkte wenig ins Gewicht. Es kann bei der interdisziplinären Breite des Werkes nicht überraschen, dass es gelegentlich zu kleineren Unstimmigkeiten faktischer Art oder zu anfechtbarer Sachurteilen im Detail kommt, so pars pro toto – bei der Datierung von Jahresangaben sowjetischer Niederlagen in der südlichen Hemisphäre (Irak: tatsächlich 1963, und Indonesien: tatsächlich 1965/66, im Übrigen noch mehr eine Niederlage Chinas), auch wenn die Zahlen vom berühmten Paul Kennedy übernommen sind, oder bei der irrtümlichen Benennung der Trennung des SDS von der SPD als ›Abspaltung‹ (tatsächlich ein Ausschluss, und zwar erst im November 1961, allerdings schon 1960 Gegengründung in Gestalt des SHB). Und ob man vom Bismarck´schen und wilhelminischen Deutschland als einem Land »nachholender Modernisierung gegenüber dem Westen« sprechen kann, also von einem relativ rückständigen Land, ist selbst außerhalb der ökonomischen Sphäre mehr als fraglich, wenn man vom Pionierstaat Großbritannien absieht (ebenfalls pars pro toto).

Analytisch bzw. konzeptionell gebe ich dreierlei zu bedenken:
– Bei der klugen und in vieler Hinsicht schlüssigen »historischen Ortsbestimmung«, die Edelbert Richter vorgenommen hat, fehlt weitestgehend die Dimension des innerstaatlichen Streits lebendiger politischer und sozialer Kontrahenten, altmodisch formuliert: des Klassenkampfs. Natürlich kann nicht immer alles an sich Wesentliche beschrieben werden, unabhängig von der Problemstellung. Meine Kritik zielt auf die Ausblendung eines Faktors, der bei jedem Kapitel des Buches relevant wäre, zum Beispiel wenn man an ›1968‹ denkt, als im späten Frühling der größte Generalstreik der französischen Geschichte stattfand, oder an die Durchsetzung des Thatcherismus (Bergarbeiterstreik von 1985). Was bedeutet die Diffusion der tradierten Arbeiterklasse (zumindest der Klasse ›für sich‹) und die veränderte soziale Gliederung der nicht privilegierten Arbeitnehmerschaft in den vergangenen Jahrzehnten für ›die Linke‹?
– Zu Recht und in Übereinstimmung mit der Forschung unterstreicht der Autor die relative Beständigkeit der jeweiligen Kapitalismus-Typen trotz Hegemonie des Finanzkapitals, welches die tradierten, auch kulturell verankerten, besonderen Mechanismen in der Regel bisher eher überlagert als eliminiert hat. So hat sich das skandinavische Modell (unter Inkaufnahme nicht unerheblicher Anpassungserfordernisse) als eine ökonomisch erfolgreiche Kapitalismus-Variante wieder stabilisieren können. Sicher macht es wenig Sinn, nur darauf herumzureiten, dass es sich in Skandinavien ebenfalls um Kapitalismus handelt (zudem auch spezifische Bedingungen den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaat ermöglicht haben und ermöglichen). Aber ganz kann die Frage nach den Grenzen der ökonomisch-sozialen Ordnung, nach den Systemgrenzen nicht ausgespart werden, auch wenn ich mit Richter der Meinung bin, dass für die nächste Etappe eine Umsteuerung innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ansteht, die dann günstigenfalls eine Zukunft »jenseits des Kapitalismus« öffnen würde. Mit anderen Worten: Die Metapher vom ›Dritten Weg‹ »zwischen Wettbewerbsprinzip und sozialer Gerechtigkeit« steht eigentlich für mindestens zwei Wege mit weiteren Differenzierungen.
– Nicht ganz nachvollziehen kann ich schließlich den Optimismus des Autors bezüglich des vermeintlichen Endes der marktliberalistischen und US-hegemonialen Phase. Zurzeit erleben wir offenbar die Rekonsolidierung und erneute Expansion der Finanzmärkte. Führt man sich die nach Angaben der Bank of International Settlement im Lauf des Jahres 2008 auf 863 Billionen (nicht »billions«) US-Dollar angewachsene Summe der Finanzderivate vor Augen und setzt sie zu den rund 50 Billionen des weltweit jährlich Produzierten in Beziehung, dann wird nicht nur das astronomische Ausmaß der Spekulation deutlich, sondern auch die Destruktivität, Aggressivität und Gefährlichkeit des internationalen Finanzkapitals, das seine wirtschaftliche und politische Basis hauptsächlich in den USA und in Großbritannien besitzt. Es ist schwer vorstellbar, wie die Aktivierung von Rationalität und Verantwortungsethik zur Entschärfung dieser Mega-Bombe führen soll.


Auch in: Sozialismus 338 (Januar 2010)

 

 

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