Stefan Breuer, einer der besten Kenner der Geschichte des rechtsgerichteten politisch-geistigen Spektrums in Deutschland vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, hat eine weitere, hochinteressante Untersuchung vorgelegt, wie üblich äußerst kenntnisreich auf breiter Quellen- und Literaturbasis, Nachlässe von elf relevanten Akteuren einbeziehend, überzeugend argumentierend und sprachlich gelungen. Breuer versteht es, ohne dass seine Darstellung des Nordizismus affirmativ wird, die Gedankengänge der Protagonisten ›verstehend‹ und dabei präzise und namentlich die Differenzierungen klar herausarbeitend zu rekonstruieren. Auf diese Weise gelingt es ihm, dem Leser einen Eindruck von der Attraktivität des Nordischen Gedankens für ein bestimmtes Segment der sozialen Eliten und der bürgerlichen Intelligenz in der Zwischenkriegszeit zu vermitteln.

Zu Breuers sezierendem Herangehen an die Objekte seiner Forschung gehört das Beharren auf einer genauen und dadurch aussagekräftigen Begrifflichkeit. So wendet er sich gegen die heute übliche inflationäre, analytisch blinde Benutzung des Terminus ›Rassismus‹ als ›Omnibus-Begriff‹ und dringt z. B. darauf, radikalen Nationalismus von Rassismus im eigentlichen Sinn (um den es in einer seiner Varianten hier geht) zu unterscheiden, auch wenn in der politischen Auseinandersetzung und der Publizistik Überschneidungen und Mischungen gängig waren und sind.

Auch wenn geistesgeschichtliche Anknüpfungspunkte der deutschen ›Idolatrie des Nordens‹ bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden können, bis zu Johann Gottfried Herder, nahmen Germanen- und Nordlandkult erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen systematischen Charakter an, parallel zu den völkisch-antisemitischen Bestrebungen. Die Aktualisierung und Politisierung der Vererbungslehre, das Auftreten der Anthroposoziologie und der Rassenhygiene machten sich ebenso geltend wie Ansätze der Wagnerianer mit H. Chamberlain, des ›Rembrandt-Deutschen‹ Langbehn und einer vielgestaltigen Weltanschauungsliteratur. Als ein gemeinsamer Nenner kristallisierte sich die Überzeugung von der in ihrer Qualität und Wertigkeit ungleichen ›Rassen‹ heraus mit der nordischen Rasse an der Spitze, dem historischen Kulturträger schlechthin – und Nordeuropa einschließlich Niederdeutschlands (oder Niederdeutschland im Besonderen) als Ausgangspunkt und wichtigste Bastion der Bestrassigen.

Grundlegend für die ›wissenschaftliche‹ Elaboration des Nordischen Gedankens waren zwei Personen, gleichzeitig vor dem Ersten Weltkrieg in Freiburg aufgewachsen: der Germanist und Sprachwissenschaftler Hans F. K. Günther und der Philosoph, Psychologe und Philologe Ludwig Ferdinand Clauß. Günthers in etlichen Auflagen mit bis 1942 insgesamt 124.000 Exemplaren erscheinendes Hauptwerk Rassenkunde des deutschen Volkes (dazu die Kleine Rassenkunde mit insgesamt 295.000 Exemplaren) beruhte auf der intensiven Rezeption der Rassenbiologie, während Claußens Rassenseelenkunde namentlich auf die »Ergründung der seelischen Artgesetze« (zit. S. 76) abhob.

Nach Günthers Einteilung enthielt das deutsche Volk nur zu 6 – 8 Prozent reinrassig nordische Menschen; noch geringer war der reinrassig ostische, westische und dinarische Anteil. Immerhin dominierte ihm zufolge bei dem gemischten Rest mit 60 Prozent das nordische Element. Da auch die europiden Rassen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ihrer ästhetischen Beschaffenheit und ihrer seelischen Qualitäten strikt hierarchisiert wurden, stand der Nordische Gedanke, wie Breuer zu Recht anmerkt (S. 70), in einem Spannungsverhältnis (rein logisch sogar im strikten Widerspruch) sowohl zum modernen Nationalstaat, sei er staatsbürgerlich oder ethnisch-kulturell verstanden, als auch zur Demokratie und zum innergesellschaftlichen Egalitarismus. Denn in den sozial unteren Schichten des Volkes würden sich besonders viele rassisch wie auch erbbiologisch Minderwertige sammeln, während an der Spitze der Gesellschaft, insbesondere im Adel, die Angehörigen der nordischen Rasse konzentriert wären. Insofern spricht der Autor vom ›Rassenaristokratismus‹, wobei an einen vor allem aus dem erneuerten Bauerntum aufsteigenden, bluts- und leistungsbestimmten nordisch-germanischen Neuadel gedacht war. Innerhalb des NS-Regimes war es vor allem der Günther-Anhänger Richard Walther Darré, Ernährungsminister 1933 – 1942, aber seit den späten 1930er Jahren zunehmend an Einfluss verlierend, der solche Ideen in die Tat umzusetzen suchte.

Wenngleich der Nordische Gedanke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets eine Angelegenheit begrenzter Zirkel mit der Tendenz zur Sektenhaftigkeit blieb, gelang es nach 1918 doch zunehmend, ein Netzwerk von Personen, darunter in hohem Maß Adelige und Hochschullehrer, und Zeitschriften zu installieren, das auf das rechte, republikfeindliche politisch-geistige Spektrum einzuwirken vermochte, wobei der Zustrom zur NSDAP aus diesem spezifischen Segment nicht auffällig stark war oder früh einsetzte.

Mit dem Nordischen Ring entstand 1926 eine Vereinigung, die sich als »eine Art Generalstab der Nordischen Bewegung« (S. 126) verstand; dieser vermochte mehrere der kleineren bürgerlichen Jugendbünde (Jungnordischer Bund, Adler und Falken, Artamanen, Geusen, Nordungen) ideologisch ins Schlepptau zu nehmen. Infolge der frühzeitigen Beteiligung der NSDAP an der Thüringer Landesregierung aufgrund der Landtagswahl vom Dezember 1929 erlangte der Nordizismus erstmals in größerem Umfang Einfluss auf staatliche Institutionen: hauptsächlich durch die Ernennung von Paul Schultze-Naumburg zum Berater des Innenministers Frick und die Berufung Hans F. K. Günthers zum Professor für Sozialanthropologie an der Jenaer Universität.

Indem der Verfasser im Vierten Großkapitel den, teilweise erbitterten, Streit zwischen Nordizisten und völkischen Nationalisten nachzeichnet (welch Letztere nicht selten von einer ›deutschen Rasse‹ sprachen, indiskutabel für Erstere), arbeitet er heraus, »dass die Grenzen zwischen völkischer und nordischer Bewegung keineswegs so fließend waren wie gern behauptet wird.« (S. 165) Antisemitisch und für die Ausscheidung, rasshygienisch gesehen, ›Entarteter‹ waren beide Richtungen, doch für die Nordische Bewegung waren das Ziele unter anderen, die Judenfeindschaft scheint gewissermaßen nüchterner gewesen zu sein. Als weitere, in sich wiederum stark differenzierte Strömungen kam Ende der 1920er Jahre der Neue (oder soldatische) Nationalismus hinzu, wie ihn etwa die Brüder Jünger verkörperten. In diesen Auseinandersetzungen wurde der Nordizismus eher marginalisiert als dass er sich durchgesetzt hätte, verschärft durch die Differenzierung zwischen Güntherianern und den von Clauß und anderen inspirierten Gegnern eines kruden ›Bluts‹- oder ›Rassenmaterialismus‹.

Die NSDAP hatte sich von den altvölkischen wie von den nordizistischen Zirkeln und ihren jeweiligen Erlösungsideen lange zurückgehalten. Über Darré und dessen erfolgreiche Bauernagitation kam der Nordische Gedanke 1930 zur nationalsozialistischen Massenbewegung. Etliche der führenden NS-Funktionäre standen dem spezifischen Nordizismus indessen skeptisch (wie G. Straßer und Goebbels) oder indifferent gegenüber; Hitler selbst nahm, wie es seine Art war, eklektisch manches auf, ohne sich das Ganze zu eigen zu machen; vor allem unter dem Primat von Aufrüstung und Kriegsführung mussten andere Prioritäten gesetzt werden.

Die relativ stärkste gedankliche und realpolitische Wirkung erlangte der Nordizismus in der SS, maßgeblich verstärkt durch die führende Mitgliedschaft Darrés mit der Leitung des ›Rasse- und Siedlungshauptamts‹ und dessen Freundschaft mit Heinrich Himmler. Himmlers verbandsinterne Maßnahmen zur Musterung der SS-Anwärter, sein Heiratsbefehl usw., ebenso seine im engeren Sinn rassistischen Ideen eines transnationalen großgermanischen Reiches mit kastenähnlicher Gesellschaftsstruktur, der ›Aufnordung‹ des deutschen Volkes und der ›Umvolkung‹ nordischer Blutselemente aus den unterworfenen Ostvölkern waren erkennbar von Darré und somit von Günther inspiriert. Der Reichsführer SS war machtpolitischer Praktiker genug, um die Ausführung dieser wahnhaften Phantasmen an die Realität des polykratischen Führerstaates (sowie an die eigenen, teils kurios anmutenden Steckenpferde) anzupassen, und die bekanntesten Repräsentanten des Nordischen Gedankens folgten ihm dabei weitgehend, ihre Vorbehalte etwa gegen den kriegerischen und expansionistischen Kurs des Deutschen Reiches weitgehend zurückstellend.

Als eigenständige Bewegung geriet der Nordizismus schon in den Anfangsjahren des NS-Regimes in ein Stadium des Niedergangs. Auch erging er in seinen organisatorischen Ausprägungen nicht der ›Gleichschaltung‹. Eine Reihe nordizistischer Aktivisten konzentrierten sich auf die im Sommer 1933 als Dachverband nicht- und antichristlicher religiöser Gemeinschaften gegründete und vom Regime tolerierte ›Deutsche Glaubensbewegung‹, in der ihr spezifischer Anteil jedoch schon ab Mitte der 1930er Jahre keine wesentliche Rolle mehr spielte. Nur in »starken Brechungen« (S. 242) wurde der Nordische Gedanke Bestandteil der offiziellen nationalsozialistischen Partei- und Staatsideologie. Fazit: Wer es genau wissen und sich nicht mit moralisierenden Plattitüden zufriedengeben will, greife zu Breuers Untersuchung.

[Kurzfassung im Jahrbuch Extremismus und Demokratie 31 (2020)]

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