von Immo Sennewald

»Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.«

Das sagte der Physiker, Philosoph und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg fast 250 Jahre bevor Selfies und Videos, erzeugt mit hunderten Millionen Kameras in Smartphones, verbreitet über Kanäle der ›social media‹ die Welt fluteten. Ein gewaltiger Schub in der Geschichte der Bildermedien, die seit dem 19. Jahrhundert nur eine Richtung kannten: mehr, besser, billiger. Natürlich zogen Gesichter schon viel früher das Augenmerk auf sich, und das eigentlich ›Unterhaltende‹ daran ist bis heute zweierlei:

  • Wie stark Mienen die Emotionen von anderen mitschwingen lassen können – egal ob sie real erlebt oder in einem Bild, noch wirksamer im Film, dargestellt werden.
  • Was lässt sich aus einem Antlitz herauslesen, was als Information über die hinter der Stirn verborgenen Absichten nutzen – sei ’s eine vom Alter gefurchte oder mit jugendlicher Glätte bezaubernde?

Schon der erste Blick – einige Hundertstel Sekunden genügen – löst einen von Gefühlen begleiteten Eindruck aus. Kein Zufall: Mehr Zeit bleibt dem Affen nicht, wenn er beim Anblick eines Löwen mit Warnruf, Fluchtimpuls, Einsatz aller Energie fürs Überleben reagieren muss. Nichts anderes galt in der Entwicklungsgeschichte, wenn einander unbekannte Menschen aufeinander trafen. Einen potentiellen Angreifer blitzschnell zu identifizieren, ihn und andere mit deutlichen Rufen als entdeckt zu markieren und Flucht oder Gegenwehr zu mobilisieren, kann über die weitere Existenz entscheiden.

Jeder solche ›spontane‹ Handlungsimpuls resultiert aus einem komplexen Geflecht meist unbewusster Strebungen, aus widersprüchlichen, in Sekundenbruchteilen wechselnden Gefühlen samt einem ganzen Spektrum möglicher Strategien. Das Gehirn hält sie jederzeit vor, es ›antizipiert‹ zahllose mögliche Situationen. Bewusst wahrzunehmen, auszuwerten, zu entscheiden dauerte dagegen viel zu lange.

Jeder Sportler, der im falschen Moment nachdachte, was er tun soll, während er den Ball verschoss, den Sprung verpatzte oder beim Rennen aus der Kurve flog, weiß das: ›Wer denkt, hat verloren!‹ Diesen Spruch gebrauchen wir beim Volleyball, Squash oder Badminton immer wieder, wenn die Zehntelsekunde gedanklicher Entscheidung zwischen Vor- oder Rückhand, Lop oder Schmetterschlag, lang oder kurz gespieltem Ball den Reflex – damit den Fluss andauernden Antizipierens von Bewegungen des Balls und des Gegners – unterbricht und wir den Turn verlieren.

Gehirn und Körper antizipieren einfach ununterbrochen; fast für jede Situation halten sie automatisierte Abläufe bereit: vom simplen Reflex bis zum gedankenschnellen Ergänzen verstümmelter Texte und Bilder. Nur ausnahmsweise erleben wir so etwas wie Schockstarre, bleibt uns ›die Spucke weg‹ oder ›das Herz stehen‹. Antizipation ist messbar schneller als jede gedankliche Entscheidung, aber auch mit Fehlerrisiko behaftet, salopp gesprochen ›quick and dirty‹.

Kann es verwundern, dass unsere Vorfahren schon in der griechischen Antike tierische mit menschlichen Physiognomien verglichen und daraus auf Charaktere zu schließen versuchten? Zeichnungen aus der Zeit des Aristoteles – also ca. 350 v. Chr. – offenbaren von der ›Löwenmähne‹ bis zum ›Schafskopf‹ erheiternde Assoziationen. Meine Mutter war in meinen Kindertagen überzeugt, dass ein Schreiner aus der Nachbarschaft in einem früheren Leben ein Storch gewesen sei. Tatsächlich stand der hagere Mann mit zum Buckel gerundeten Schultern und langer Nase auf einem Bein an der Bandsäge, das andere schlang er unterm Knie um die Wade, gelegentlich wechselte er vom linken aufs rechte. Wenn Sie ein wenig nachdenken, fallen Ihnen vielleicht auch noch Füchse, Eulen, Mäuse, Frösche, Karpfen und andere Assoziationen ein.

Kehren wir zu Lichtenberg zurück, einem kleinen Mann, der von Kindheit an unter einer verkrümmten Wirbelsäule litt, bucklig war, und doch schon zu Lebzeiten als Gelehrter mit außerordentlichem Scharfblick sowohl wie seiner Fähigkeit zu präzisem Beschreiben und wissenschaftlicher Argumentation wegen gerühmt wurde. Als es ab 1775 Mode wurde, die Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe des Schweizer Pfarrers Johann Caspar Lavater als Übungsbuch dafür zu nutzen, jederzeit und überall aus Körperformen und Gesichtszügen auf Charaktere zu schließen, reagierte er mit bissiger Polemik. Dem gesellschaftlichen Mainstream, der sich mit Spekulationen über Nasen, Kinn, Stirn und andere Eigenheiten unterhielt, entgegnete er souverän. Sein Essay Über Physiognomik wider die Physiognomen besticht auch heute noch. Dass anhand modischer Schattenrisse auf seelische Aktivität im Hintergrund geschlossen wurde, entlarvte er als der Astrologie vergleichbaren Trug. Aber er erkannte – und das war eine herausragende Leistung – wie bedeutsam der nonverbale Anteil der sprachlichen Kommunikation ist.

»Ohnstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Verstehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem 25. Jahr in großer Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie ihn die Natur, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Fehler darin zu machen zur Kunst ist erhoben worden. Sie ist so reich, daß bloß die süßen und sauren Gesichter ein Buch füllen würden, und so deutlich, daß die Elefanten und die Hunde den Menschen verstehen lernen. Dieses hat noch niemand geleugnet, und ihre Kenntnis ist was wir oben Pathognomik genannt haben. Was wäre Pantomime und alle Schauspielkunst ohne sie?«

Der Begriff ›Pathognomik‹ setzte sich nicht durch, aber kein geringerer als Charles Darwin trug dazu bei, dass die ›wortlose Weltsprache‹ als starker Signalweg der menschlichen Kommunikation erkannt wurde. Dass sich zugleich mit den Bildermedien, mit ihrer Verbreitung für Zwecke der Werbung und Propaganda ebenso wie mit dem Siegeszug des Spielfilms auch die Ausdruckspsychologie als wissenschaftliche Disziplin etablierte – Karl Jaspers veröffentlichte dazu Anfang des 20. Jahrhunderts erste Texte – ist nicht verwunderlich: Die ins Überlebensgroße gesteigerte, expressive Mimik des Stummfilms ergab ganz neue Studienmöglichkeiten. Davon profitierten zahllose Forscher, auch solche die während des Dritten Reiches rassische und eugenische Theorien damit begründen wollten. Aber das war es nicht allein, was 1973 der Ausdruckspsychologie an deutschen Universitäten den Garaus machte.

Der Versuch, aus Mienen, Gesten, Lauten Rückschlüsse auf den emotionalen Hintergrund des ›Senders‹ zu ziehen, erwies sich als äußerst fehlbar. Trotzdem ist es ein allgemein beliebtes wie von Medien gern genutztes Verfahren, über Gefühle, Lebenslagen und Charaktere von Menschen zu mutmaßen. Im Werkzeugkasten des inzwischen als ›Framing‹ gehandelten Manipulierens von Informationen zu Propagandazwecken ist es immer griffbereit. Sie haben zweifellos selbst schon erlebt, wie unvorteilhaft sie auf einem Foto wirken können, wenn die Kamera sie von unten erfasst. Ihr Blick auf dem Bild ›von oben herab‹ hinterlässt beim Betrachter einen überheblichen Eindruck, ebenso wie der „aus den Augenwinkeln‹ einen des Misstrauens. Sie können leicht damit experimentieren, welchen ›Gefühlshintergrund‹ andere nur infolge einer veränderten Kopfhaltung bei Ihnen vermuten, wenn Sie eine Serie davon aufnehmen: Blick in die Kamera von oben, von unten, mit geneigtem, vorgeschobenem, zurückgezogenem, leicht gedrehtem Kopf; dabei sollten Hals und Schulteransatz im Bild sein um die Relation zum Körper mit zu erfassen. Tun sie das alles möglichst entspannt und emotionslos. Sie werden staunen, wie viel Emotion andere aus den Fotos herauslesen. Die Möglichkeiten, Bilder digital zu manipulieren, erweitern nicht nur das Arsenal von Meinungs- und Stimmungsmachern. Animierte Figuren tummeln sich in dreidimensionalen Welten der Spiele und auf der Leinwand. Mittels ›motion grabbing‹ lassen sich sämtliche Bewegungen echter Schauspieler, Artisten und Stunts digital auf künstlich erschaffene übertragen – einschließlich der Gesten, Mienen und Laute, die von lebenden Akteuren abgenommen wurden, das heißt: deren gesamtes Spektrum nonverbaler Signale in der Kommunikation. Sie wirken ebenso mächtig und überzeugend auf das Publikum (oder die Spieler im Cyberspace) wie Menschen aus Fleisch und Blut. Gefühle haben sie nicht.

Hier nun ist über die Forschungsarbeit von Siegfried Frey zu reden und über sein Buch Die Macht des Bildes. Als es 1999 bei Huber in Bern erschien, wurde es überall in den Medien, auch von Psychologen, Trickfilmern und in der einschlägigen Forschung stark beachtet. Frey wies im Experiment überzeugend nach, dass es der vom ›Sender‹ erwünschte Eindruck beim Betrachter ist, der sowohl die klar definierten Formen als auch die Dynamik der Mienen, Gesten und Laute hervorbringt, dass also nicht zugrunde liegende Gefühle, sondern die beim Gegenüber erheischte Wirkung die Impulse des ›Senders‹ steuert – wie das Radschlagen von Pfauen oder Balztänze von Paradiesvögeln bei den Weibchen. Antizipation treibt den Impuls. Nicht warum einer den anderen ›aus den Augenwinkeln anschaut‹, sondern welcher Eindruck beabsichtigt ist, erklärt das Signal einer – oft nur winzigen – Drehung des Kopfes.

Siegfried Frey nutzte in seinem Labor in der Duisburger Uni dazu nicht nur einschlägige Video- und Messtechnik für die physiologischen Abläufe bei Probanden, um deren Reaktionen auf Mienen und Gesten zu testen, er konnte auch auf ein System zurückgreifen, in dem jede Regung der Gesichtsmuskeln bei nonverbalen Signalen kodiert war: Dieses 1978 erstmals publizierte Facial Action Coding System (FACS) [Paul Ekman / Wallace V. Friesen: Facial Action Coding System. Investigator's Guide, California 1978] verbreitete sich weltweit und belebte die Anstrengungen neu, von Gesichtsausdrücken auf dahinterliegende Gefühle, womöglich gar Absichten zu schließen. Frey ergänzte diesen Code um die Bewegungen des Körpers; sie sind nicht willkürlich, sondern haben eine genaue Zahl von wesentlichen Freiheitsgraden. Beim Gesicht sind es 49, insgesamt 104. Damit ließen sich Mienen und Gesten von 180 Politikern in Videofilmen gut erfassen und kodieren. Nahm man nun die physiologischen Reaktionen von Probanden während des Betrachtens solcher Videos auf, konnten sie zeitlich genau den Bewegungsmustern am Bildschirm zugeordnet werden. Natürlich protokollierten Frey und seine Mitarbeiter auch, wie Versuchspersonen die im Film Gezeigten subjektiv bewerteten – sympathisch oder unsympathisch, kompetent oder inkompetent etc.

Die Ergebnisse verblüfften, und bis heute hat Freys Buch nichts von seiner Aktualität eingebüßt: Die Bewertungen für die stummen Mimen der Videos stimmten auffällig überein, darüber hinaus zeigte sich, dass am Rechner mittels der so gewonnenen Daten sehr grob animierte Puppen fast identische Sympathiewerte erreichten wie ihre menschlichen ›Vorlagen‹. Das trug dem Forscher viel Interesse von allen Seiten, vor allem von Trickfilmproduzenten ein. Trotzdem sind seine Erkenntnisse aus dem öffentlichen Bewusstsein längst wieder zugunsten der alten Frage nach dem ›Warum?‹, nach emotionalen Gründen hinter mimischen, gestischen und akustischen Formen nonverbaler Kommunikation verschwunden. Wie war das möglich?

Dass sich nonverbale Signale quantifizieren ließen, weckte unvermeidlich den Wunsch, mit ihrer Hilfe einen neuen Kanal von Informationen über menschliches Verhalten zu öffnen, womöglich zu dessen Kontrolle. Paul Ekman gründete in den USA eine Firma, die ihrer Kundschaft – namentlich Sicherheitsbehörden – versprach, anhand dekodierter Mikromimik des Gesichts etwa Terroristen schon am Eingang eines Flughafens identifizieren zu können. Gelänge dies, wären deren Absichten dank winziger physiognomischer Regungen erkennbar, Lügner mit größerer Sicherheit zu überführen als durch heutige Detektoren, wäre es ein großer Schritt zum ›Gläsernen Menschen‹, zur perfekten Kontrolle von Individuen und zur absoluten Macht.

Zeit und Gelegenheit, sich den beiden Dimensionen von Macht zuzuwenden: der materiellen und der informellen, oder anschaulicher: der von Besitz und sozialem Rang. In beiden prägt sie sich aus: Alle dynamischen Systeme von Wirtschaft, Politik, Kultur – sie mögen noch so unterschiedliche Formen haben – folgen dem Prinzip: Leben = Materie + Information.

Auf diese karge Formel bringt es der Naturphilosoph Bernd-Olaf Küppers in seinem Buch Die Berechenbarkeit der Welt – Grenzfragen der exakten Wissenschaften. ›Materie‹ umfasst gemäß der Einsteinschen Äquivalenz E = mc2 (Energie = Masse, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit) auch die Energie. ›Information‹ ist zwar ein im Alltagsgebrauch definierter Begriff, er birgt jedoch mindestens ebenso viele unerklärte Phänomene wie die berühmte ›dunkle Materie‹ und ›dunkle Energie‹ der Kosmologie. Dass Physiker, Mathematiker, Biologen, Informatiker sich gleichwohl der Berechenbarkeit der Welt immer weiter zu nähern suchen, ist unbestreitbar.

Dahinter steckt freilich auch der Wunsch, sie zu beherrschen. Das Wechselspiel unvermeidlicher Kommunikation ist immer eines von Führen und Führen lassen. Es beginnt bei der Geburt, bewegt Familien, Peergruppen, konstituiert Schulen, Arbeitsverhältnisse... Und es geht unvermeidlich mit Konkurrenz, mit Konflikten einher, weil Macht auf besondere Weise antizipiert wird. Nichts maskiert sich dabei in menschlichen Umgangsformen besser, als das Streben nach Dominanz, nichts ist älter. Habgier und Herrschsucht haben mit jedem Zugewinn an Wissen Schritt gehalten, und dass Unterwürfigkeit eine ebenso alte Strategie zur Teilhabe an der Macht ist, leuchtet ebenso ein, wie die besondere Eignung eines mit Empathie Begabten für die Rolle des Sadisten.

Die Macht, Regeln setzen und soziale Rollen verteilen zu können, dürfte das höchste Ziel in ihrer informellen Dimension sein. Mittel der Rollenverteilung sind Rituale: Kleider- und Sitzordnungen, Zeremonien, Wettbewerbe um Ehrenpreise, Wahlen und – im Zeitalter der allumfassenden Quantifizierung – ›Rankings‹.

Der Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, den Absichten des Kindes nicht einfach zu folgen oder sie brachial zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf neue Ziele zu lenken. Das ist zunächst auch eine Form der Dominanz, aber dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je dauerhaft funktionierende Patent(d)-lösungen zu finden, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss, die Führung wechselt. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?

Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: ›Beherrsche mich!!!‹ sagt der Masochist zur Domina. Letzte Konsequenz der Dominanz wäre die Unsterblichkeit des Einzelnen oder die unzerstörbare Weltherrschaft eines sozialen Systems.

Über den unsterblichen Einzelnen muss ich mich nicht weiter auslassen; er wird dazu manchmal in der informellen Dimension der Nachwelt. Zu Lebzeiten mag er obendrein reich werden, noch so viel Macht auf sich vereinen: Der Gevatter unterscheidet nicht zwischen Habenichtsen und Nabobs. Doch es gibt dynastische Erbfolgen, die Ruhm und Ansehen über Generationen fortschreiben. Politische Parteien wünschen nichts sehnlicher, aber die Halbwertszeiten all dieser Korporationen bleiben so überschaubar wie die untergegangener Reiche.

Die Macht der französischen Königin Marie-Antoinette fußte auf der des Hauses Habsburg zur Glanzzeit der Kaiserin Maria Theresia. Wie fast jede Hochzeit europäischer Herrscher diente sie dynastischen Interessen, persönliche Neigungen waren unwichtig. Was damals in den Augen vieler keineswegs unwichtig war: Sie kam einen Tag nach dem furchtbaren Erdbeben von Lissabon zur Welt, ein böses Omen, zum Ende ihrer Hochzeitsfeier in Versailles starben in Paris 139 Menschen infolge einer Panik beim Feuerwerk, sie zeigte sich eigensinnig in der Wahl ihrer Freunde, vergnügungssüchtig und wenig geneigt, den Ritualen am französischen Hof zu folgen – kurz: Die Vorurteile gegen sie als ›l’autrichienne‹ (die Österreicherin) wurden quer durch alle Schichten der Bevölkerung genährt; kurzzeitig gewann sie Ansehen, als sie einen Thronfolger gebar, aber die ›Halsbandaffäre‹, eine Betrügerei, in die sie unschuldig verwickelt wurde, ruinierte jeden Kredit bei der Bevölkerung. Es kursierten die boshaftesten Karikaturen von ihr, Verbündete ließen sie fallen. Auf die Revolution reagierte sie hilflos und unbesonnen; sie wurde guillotiniert und in ein Massengrab geworfen. Ihre informelle Macht war lange vorher erloschen, aber Zeugen berichten, dass die würdevolle Haltung, mit der sie die letzten Schritte vom Henkerskarren zum Schafott hinter sich brachte, die wütenden Pöbeleien und Flüche der Menschenmenge verstummen ließ.

Unvermeidlich gerate ich an eine schwer fassbare, notwendige Qualität informeller Macht: Das Vertrauen. Es gründet nur zum Teil auf sachlichen Erwägungen: Intuition und Antizipation bestimmen die Entscheidung des Einzelnen, wem er es schenken, wem verweigern will. Dabei ist er sehr stark von ›Herdenimpulsen‹, von seiner Zugehörigkeit und Stellung in der Gruppe beeinflusst – und doch ist es eine zutiefst subjektive Entscheidung, wem einer vertraut und wem nicht.

Die Funktionsmechanismen der modernen Medien orientieren sich fast ausschließlich an Quantitäten: Quoten, Reichweiten, Klickzahlen. Sie sind darin genuin kollektivistisch. Die scheinbare Freiheit des Internets, der sozialen Medien insbesondere, jedem eine eigene Stimme zu geben, geht in der Aufmerksamkeitsökonomie unter, deren Dynamik wirtschaftlichen und politischen Zielen verschiedenster Korporationen – Konzerne, Parteien, NGOs – unterworfen ist.

In heutigen Oligarchien mit ihren elaborierten, weltumspannenden Netzwerken erreicht die Dynamik sozialer Systeme zugleich höchste Komplexität. Ihr Streben geht immer noch dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit. Die Zeit und das Universum lassen sich jedoch nicht kontrollieren, der Kosmos im Kopf jedes Menschen nur sehr begrenzt und vorübergehend. Denn um auf zahllose, sich unablässig ändernde und im Fluss befindliche Aufgaben seiner Umwelt vorbereitet zu sein, sie antizipieren zu können, bedarf es einer Informationsverarbeitung von wahrhaft astronomischen Ausmaßen. Hirnforscher wissen das.

Das tägliche Geschehen in den ›Sozialen Netzwerken‹ bezeugt, wie stark die Gier nach Aufmerksamkeit ist – also nach einem Platz an der Sonne informeller Macht. Mag sein, dass der Ruhm von ›YouTubern‹ und viralen Kurznachrichten nur kurze Zeit währt: Wie sehr und intensiv sie von der Politik und herkömmlichen Medien in Dienst genommen werden, beweist ihre Eignung als Instrumente im Kampf um die Köpfe der Massen. Geld und Ansehen erwirbt damit nur ein winziger Bruchteil der im Netz verbundenen Nutzer. Die Megakonzerne der ›Aufmerksamkeitsökonomie‹ indessen bewegen die Welt und häufen Milliarden auf Milliarden. Sind sie andererseits, was ihre informelle Macht anlangt, nicht verwundbarer als Stahl- und Automobilfabriken? Ihre Stärke ist die Masse, die Quantität. Wie steht es um die Qualität?

Das Lateinische quantitas lässt sich mit ›Größe‹ oder ›Menge‹ übersetzen. Für sich genommen hat sie soviel Sinn wie die Antwort ›42‹ in Douglas Adams‘ Per Anhalter durch die Galaxis. »42« ist dort letzte Antwort auf alle Fragen, sie bedarf nur einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren auf den besten Rechnern einer hoffentlich noch fernen Zukunft.

Spaß beiseite: Ihren Sinn bekommt die Quantität erst durch eine Bezugsgröße wie etwa ›Anzahl‹, sie erfasst dann einzelne, wohl unterschiedene Objekte. Sie kann ebenso gut Massen, Volumina, Temperaturen, elektrische Ladungen, magnetische Feldstärken, Impulse oder Energien veranschaulichen. Zu diesem Zweck wurden Maßeinheiten erfunden; nach jahrhundertelangem ›Wildwuchs‹ einigte man sich bei vielen – etwa aufs metrische System. Im Gegensatz zur Quantität, die selbst keine Qualität hat, entwickelten sich die Maßeinheiten mit den Anforderungen, die Märkte, Technik, Wissenschaft an deren Qualität stellen: Sie mussten vergleichbares, verlässliches Berechnen erlauben. (Die lateinischen Zahlen erwiesen sich als untauglich fürs Rechnen.) Vielleicht hilft es, die Quantität von der Mathematik her anzuschauen, um sich ihr zu nähern.

Spätestens wenn Mengen von Wasser, Sand oder Flächen erfasst werden sollen, also Volumina, Gewichte oder Anteile wird klar, dass die ›Natürlichen Zahlen‹ nur Quantitäten diskreter Objekte erfassen, für alle teilbaren Größen bedarf es der Bruchrechnung – ›gebrochener‹ Zahlen. Seit der Antike erweiterten sich die mathematischen Methoden fortwährend, ihre Qualität nahm zu, ohne dass der Grundbaustein, das Zählen, eigentlich der Unterschied von nichts und etwas, sich jemals erübrigte. Die gesamte digitale Technik mit ihren aus Nullen und Einsen bestehenden Algorithmen lebt bis heute davon. Vielleicht bedeuten Quantencomputer einen Sprung in der Qualität – aber ich kenne mich damit nicht genügend aus, um eine Vorhersage zu wagen. In jedem Fall muss, wer Mathematik betreibt, Zeit und Energie aufwenden. Zugleich steckt Mathematik in allem, was uns im Universum begegnet; es zu entdecken und zu beschreiben, also die innewohnenden Informationen zu enträtseln, ist eine aufregende Beschäftigung. Gern verweise ich hier noch einmal auf die Arbeit von Bernd-Olaf Küppers.

Der Mensch erfindet Mathematik nicht – so meine ich – er lauscht sie dem Universum nur ab und fasst sie in Zeichensysteme unterschiedlicher Gestalt. Diese theoretischen Modelle beweisen dann, werden sie in Anwendungen auf Realitätstauglichkeit geprüft, ihre Qualitäten.

Eine ›reine‹ Quantität gibt es nicht, ebenso wenig ist Qualität durch Quantität ersetzbar. Qualitäten zu erfassen erfordert andererseits, die Wechselbeziehung sämtlicher Eigenheiten eines Systems – ob Elementarteilchen oder Zelle eines Organismus – mit inneren und äußeren Gegebenheiten (›Randbedingungen‹ nennt sie die Mathematik) im Auge zu haben.

Jahrhundertelang war das Studium der menschlichen Anatomie auf Untersuchungen an Leichen angewiesen, der Vergleich zu heutigen Untersuchungsmethoden zeigt enorme Fortschritte in der Medizin. Doch schafft jede Untersuchung besondere ›Randbedingungen‹. Sie sind beim Auswerten der Daten zu berücksichtigen. Zellen unterm Mikroskop verhalten sich immer noch anders als im lebenden Organismus. Forscher haben aus Laborstudien, aus der Beobachtung der Himmelskörper oder des Wetters gleichwohl immer bessere Modelle realer Vorgänge in der Natur, sogar für menschliche Verhaltensweisen entwickelt. Denken wir etwa an das Milgram-Experiment. Mindestens ebenso interessant sind auch dabei die ›Randbedingungen‹: Es wird immer noch diskutiert und um neue, genauere Beobachtungen bereichert.

Die ›reine‹ Qualität wäre also Eigenschaft des Universums, die sich unserer Beobachtung jedenfalls entzieht, weil wir außerstande sind, das Universum in Gänze zu quantifizieren, zu ›berechnen‹ und daraus ein – identisches – Modell zu entwickeln. Dagegen sprechen sowohl die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wie die ›Unbestimmtheitsrelation‹ der Quantenphysik: Es ist unmöglich, alle Informationen gleichzeitig zu gewinnen und zu verarbeiten. Dasselbe gilt für die Gesamtheit der Informationen über einen einzelnen Menschen. Selbst wenn höchst entwickelte Sensoren nebst Datenspeicher 1:1 aufzeichnen können, was in jeder Körperzelle geschieht: Sie müssten auch die Milliarden Interaktionen mit Mikroorganismen innerhalb unserer Organe, auf der Oberfläche und in der Umgebung – die Randbedingungen – erfassen. Aber die wahrhaft astronomische Datenmenge wäre schon im Moment des Erfassens obsolet: Versunken hinterm von der Lichtgeschwindigkeit bedingten Ereignishorizont.

Jede Datenerhebung ist letztlich immer ein ›Blick in den Rückspiegel‹, die Welt ist in ihrem Lauf jeglichem Messvorgang voraus.

Erfolgreiche Hilfsmittel des Menschen im Umgang mit ›Unberechenbarkeit‹ sind die Konzentration auf überschaubare Ausschnitte der Realität, Simulationen und Modelle. Mit ihrer Hilfe lässt sich über Wahrscheinlichkeiten reden – vor allem, wenn es um Erwartungen an die Zukunft geht. Zu erörtern, welche Anfangs- und Randbedingungen zum jeweiligen Vorgehen gehören, ist für dessen Qualität mindestens ebenso wichtig wie seine Ergebnisse. Systematische Fehler, etwa beim Bau eines Modells oder beim ›Setting‹ einer statistischen Untersuchung, können die Qualität ebenso ruinieren, wie Auswertungsfehler. Sie entstehen dadurch, dass subjektive Voreingenommenheit schon die Items einer Umfrage verfälscht, selektives Wahrnehmen ihre Ergebnisse.

In Zeiten eines wahren Informations-Overkills wetteifern Massenmedien darin, dem Publikum Zukunftsprognosen anhand statistischer Modelle zu liefern; meist basieren sie auf Umfragen. Wie sehr Konsumenten nach diesem Stoff gieren, weiß jeder, der die unverminderte Präsenz von Horoskopen, Kartenlegerinnen, Zahlenmystik und anderen Orakeln in fast allen Kulturen kennt. Leider sind viele ›Statistik-Experten‹ in Talkshows oder Pressekonferenzen nicht sehr viel glaubwürdiger. Dazu empfehle ich die Arbeiten von Professor Walter Krämer (So lügt man mit Statistik, Frankfurt/M. 2015). Er hat einen eindrucksvollen Erfahrungsschatz statistischer Irrtümer und Missgriffe gesammelt, und er erklärt gut verständlich, was die Qualität von Rückspiegeln – äääähhh – Wahrscheinlichkeits-Aussagen aus statistischen Daten ausmacht.

Im ›Informationszeitalter‹ mit seiner ›Aufmerksamkeitsökonomie‹ gewinnt letztere an Gewicht. Entscheidet sich nicht gerade, ob sich die in bürgerlichen Demokratien und im Rechtsstaat verankerte Stellung des Individuums gegen kollektivistische Machtimpulse durchsetzen kann? Treibt nicht die ›Digitalisierung‹, wenn sie ›gläserne‹ Menschen erzeugt, wenn sie zum Ziel hat, informell bis ins Privateste kontrollier- und lenkbare Personen zu erschaffen, auf eine Gesellschaft wie in China zu, von der KPCh Xi Jinpings beherrscht, mit totalitären Strukturen, in denen der Einzelne hilflos kollektiven, korporativ übermächtigen Interessen unterworfen ist?

Ein Koloss mit der dominanten Macht über Informationen steht auf tönernen Füßen: Ein einziger offensichtlicher Fehler mit erkennbar schweren Folgen kann ihn das gesamte Vertrauen kosten. Er muss ihn verstecken, leugnen, maskieren. Neben der Dominanz auf möglichst allen Kanälen muss er also über die besten Nebel- und Lügenmaschinen zu dessen Leugnung verfügen – und den letzten Winkel erreichen, das letzte widerstrebende Individuum verstummen lassen. Er muss ihm, wenn er es nicht liquidiert oder hinter Gefängnismauern dahinsiechen lässt, das Gesicht nehmen. In 1984 bricht die Drohung, ihm das Gesicht von hungrigen Ratten zerfressen zu lassen, den letzten Widerstandswillen von Winston Smith: Er verrät seine Liebe und trägt fortan die graue Maske der gefühllosen Mitläufer. Haben Sie auch schon einmal in so eine völlig ausdruckslose Miene geschaut? Bei einem Er-Mächtigten? Ja: Sie soll einschüchtern, ihr Eindruck hat nicht getrogen.

Mag sein, dass es dieses dystopische Ende mit Heeren konformer Masken statt unberechenbarer Gesichter gibt. Noch sind wir nicht so weit. Die Gesichter der Ohnmacht leben als unsterbliche Qualitäten im Werk überragender Individuen weiter. Darin sind Vertrauen, Intuition und selbständiges Denken wesentliche Größen. Sie lassen sich sowenig quantifizieren wie der Kosmos als Ganzes.

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